„Ich habe von einer Seite Respekt für beide, was ihre ersten Schritte betrifft. Aber die heutige Position verstehe ich überhaupt nicht. Ich finde das unmoralisch.“
Fotoarchiv Mittelmann
Nadia Vergne, Enkelin des jüdischen Leipziger Fotografen Abram Mittelmann, hält endlich ihr Erbe in den Händen. © picture alliance / dpa / Jan Woitas
Der Schatz vom Dachboden
09:32 Minuten
Wem gehört ein Fotoarchiv, das eine vertriebene jüdische Familie bei der Flucht zurückgelassen hat? Den Findern oder den Nachfahren? In Leipzig führte der jahrelange Streit jetzt zu einem Happy End.
Nadia Vergne steht auf einem Bürgersteig am Petersteinweg nahe der Innenstadt und schaut sich die Stolpersteine für ihre Familie an. Hier, in einem Eckhaus aus der Gründerzeit, wohnte die jüdische Familie. Und hier betrieb Vergnes Großvater Abram Mittelmann ein Fotoatelier. So lange, bis er 1938 nach Belgien floh, wo er später von den Nazis ermordet wurde. Seine Arbeiten, rund 2.000 Glasplatten mit Fotonegativen, darunter auch zahlreiche Aufnahmen seiner Familie, ließ er bei der Flucht zurück.
Die Leipziger Fotografin Gudrun Vogel bekam im Jahr 1987 einen Tipp von Hausbewohnern, dass auf dem Dachboden herrenlose Kisten mit fotografischem Material herumstehen. Sie nahm die Glasnegative an sich und sicherte die empfindlichen Platten. Als Vogel ein Jahr nach dem Fund einige Abzüge für eine Ausstellung mit dem Titel „Juden in Leipzig“ der Uni Leipzig zur Verfügung stellt, beginnt der Streit um das Archiv. Denn bereits den Historikern in der DDR war klar, was für eine wichtige historische Quelle das Fotoarchiv ist. Der heutige Direktor des Stadtgeschichtlichen Museums in Leipzig, Anselm Hartinger, erklärt:
„Die Sammlung ist vielleicht das bedeutendste Bilddokument zur Leipziger jüdischen Geschichte in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Und dieses Dokument muss unbedingt gesichert werden, weil es in besonderer Weise die enge Verflechtung von jüdischer Geschichte und Leipziger Stadtgeschichte zeigt.“
Erschreckende Normalität
Denn Mittelmann hatte nicht nur Mitglieder der jüdischen Gemeinde fotografiert, sondern führte ein gut gehendes Geschäft in zentraler Lage, in dem auch viele nicht-jüdische Leipzigerinnen und Leipziger Porträts anfertigen ließen - bis hin zu SA-Mitgliedern, die sich stolz mit ihrer Uniform präsentierten.
Während Historiker in den Bildern vor allem eine wichtige Quelle sehen, hat die Sammlung für den Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde in Leipzig, Küf Kaufmann, eine emotionalere Bedeutung:
„Für mich ist es berührend, wenn ich die Menschen in SA-Uniform auf Fotos sehe: stolze Gesichter vor jüdischem Fotografen! Weil es war der Beginn von einer unglaublichen Tragödie, die mit jüdischen Menschen passierte, aber mit dem Land passiert, mit Deutschland. Unglaubliche Tragödie! Und es war noch nicht spürbar. Es war noch normal. Und diese Normalität erschreckt.“
Die abgebildeten Mitglieder der jüdischen Gemeinde wurden später deportiert, ermordet oder konnten sich, wie Siegfried Mittelmann, der Vater von Nadia Vergne, durch eine Flucht vor den Nazis retten. Für mache Familien könnten dies die einzigen Bilder sein, die von ihren Vorfahren geblieben sind. Auch deshalb will Vergne die Bilder öffentlich zugänglich machen, um anderen die Recherche zu ermöglichen.
Gescheiterte Vermittlungsversuche
Deswegen ist die zierliche Französin immer wieder nach Leipzig gereist, um hier um ihr Familienerbe zu kämpfen - und Gudrun Vogel zu überzeugen, die Bilder wieder herzugeben:
„Ich bin die zweite Generation, Schoah-Generation. Das ist jetzt meine Pflicht, es zu tun. Ich will das nicht meinem Sohn hinterlassen. Da ich meine Eltern nicht mehr habe, weiß ich, ich selbst muss mich um diese Sachen kümmern. Um diese Erinnerung, gegen das Vergessen. Und das ist sehr wichtig für mich.“
Gudrun Vogel, die sich inzwischen vom befreundeten Kulturwissenschaftler Wieland Zumpe beraten ließ, hatte sich schon zu DDR-Zeiten geweigert, die Bilder an staatliche Stellen abzugeben. Als wenig später die DDR Geschichte war, bemühten sich andere Akteure immer wieder um die Bilder, unter ihnen das Leipziger Stadtarchiv, das Stadtgeschichtliche Museum, die jüdische Gemeinde und Nadia Vergne selbst.
Doch zahlreiche Vermittlungsversuche scheiterten. Auch Nadia Vergne bekam lange Zeit nicht mehr als ein paar Abzüge von Fotos ihrer Familie und einer CD mit gescannten Bildern. Warum es Gudrun Vogel und Wieland Zumpe so schwerfiel, die Fotosammlung loszulassen, wollten sie vor dem Mikrofon nicht sagen.
"Ich finde das unmoralisch"
Aus Mails und Telefonaten bekommt man aber den Eindruck, dass beide tief enttäuscht sind. Darüber, wie wenig ihre Rolle als Retter und – wie sie es sehen – Treuhänder des Archives honoriert wird. Dazu kommt, dass beide ein, wohl aus DDR-Zeiten stammendes, tief sitzendes Misstrauen gegen alle staatlichen Institutionen hegen. Deshalb glaubten sie, das Archiv schützen zu müssen – zur Not auch über den Willen der Erbin hinweg. Für Küf Kaufmann ein Unding:
Am Ende war es ein zivilgesellschaftlicher Verein, der das Vertrauen der beiden gewann: Das Archiv Bürgerbewegung ist personell und thematisch eng mit der DDR-Opposition verflochten und kümmert sich zudem in Leipzig um das Stolperstein-Projekt. Ende Oktober wurde das Archiv Mittelmann an den Verein übergeben: acht gelbe Pappkartons mit Post-Logo, dicht bepackt mit Glasplatten, die jeweils in Papierhüllen stecken, allesamt fein säuberlich beschriftet.
„Man hat mir meine Familie zurückgegeben!“
Der kleine Verein hat mit der einstweiligen Betreuung des Fotoarchives nun eine große Aufgabe auf den Tisch bekommen, sagt Achim Beier vom Archiv Bürgerbewegung:
„Wir müssen das perspektivisch auf gute Füße stellen und uns mal alle an einen Tisch setzen. Dann wird überlegt, welche Ressourcen hat jemand, was kann er leisten, wer weiß was, in welche Richtung kann’s gehen.“
An diesem Tisch wird wohl auch Anselm Hartinger sitzen. Der Direktor des Stadtgeschichtlichen Museums ist heilfroh, dass das Archiv nun endlich gesichert ist.
„Jetzt haben wir die Chance, diesen ganz ganz wichtigen Baustein der Leipziger jüdischen Geschichte wieder zu erschließen. Und wir alle wissen, was da noch zu leisten ist. Jetzt haben wir da einen großen Baustein in die Hand bekommen und werden damit ganz vernünftig und klug umgehen.“
Das letzte Wort hat aber Nadia Vergne. Die will auf jeden Fall die Kisten nach weiteren Fotos ihrer Familie durchforsten und ist überglücklich, ihr Erbe endlich in den Händen zu halten:
„Man hat mir meine Familie zurückgegeben!“ – Vierundachtzig Jahre nach der Flucht ihres Großvaters aus Leipzig.