Die Ausstellung "The Human Cost" mit Fotografien von James Nachtwey, Jeffrey Stockbridge und Mark E. Trent ist bis zum 5. Juli 2021 im Bronx Documentary Center in New York zu sehen.
Wenn Schmerzmittel zur Einstiegsdroge werden
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Fotografen wie James Nachtwey zeigen in drastischen Bildern, welche Folgen die leichtfertige Verschreibung von Schmerzmitteln in den USA hat. Unzählige Patienten gerieten ahnungslos in die Abhängigkeit und müssen nun mit ihrer Sucht leben.
Fotos einer Krise: Zwei Notsanitäter im nächtlichen Einsatz in Miamisburg, Ohio. Sie beleben einen Mann wieder nach einer Überdosis in seinem Auto, in ihren Gesichtern professionelle Routine. Eine Frau unter einer schneeverwehten Laderampe in Boston, sie versucht, sich in der klirrenden Kälte die Nadel in den Arm zu stechen. Zwei Frauen sitzen mit all ihrem Hab und Gut gegen eine Hauswand in San Francisco gelehnt. Eine von ihnen setzt sich gerade einen Schuss in die Achselhöhle.
Fotojournalist James Nachtwey und "Time Magazine"-Redakteur Paul Moakley reisten monatelang durch verschiedene Gegenden in den USA, um Geschichten von Menschen zu dokumentieren, die von der Opioidkrise betroffen sind: Süchtige, Angehörige, Sanitäter und Polizisten.
Die Alltäglichkeit vieler Szenen ist erschreckend. In kurzen Untertiteln erfährt man etwas von den Menschen auf den Fotos: ihre Namen, ihr Alter, den Ort des Geschehens, manchmal auch die Umstände.
Für Kurator Michael Kamber ist die Situation vergleichbar mit internationalen Kriegs- und Krisengebieten, die er für die "New York Times" jahrelang dokumentiert hat:
"Es gibt ein riesiges Heroinproblem in Kleinstädten überall in Amerika. Es ist kein schwarzes oder weißes Problem, kein städtisches oder ländliches, es ist einfach überall. Und wir wissen, dass die Sackler-Familie und andere Opioidfirmen dieses Zeug ausgeschüttet und dabei eine Schlüsselrolle bei der Entstehung dieser Suchtwelle gespielt haben."
Milliardengeschäft für Ärzte und Pharmakonzerne
Schmerzmittel wie Oxycodone und Percocet haben die Krise ausgelöst. Sie wurden in großen Mengen gegen chronische Schmerzen verschrieben, ohne die Betroffenen auf deren gefährliches Suchtpotenzial aufmerksam zu machen.
Ärzte, Pharmakonzerne und staatliche Zulassungsstellen verdienten Milliarden, während Hunderttausende von Patienten ahnungslos in die Abhängigkeit gerieten. Und mit ihnen ihre Familien und Freunde.
Fotograf Jeffrey Stockbridge hat das Arbeiterviertel Kensington im Süden Philadelphias über sechs Jahre dokumentiert. Seine Bilder sind weniger drastisch als die von Nachtwey, aber umso intimer. Er erklärt:
"Die Menschen auf diesen Bildern haben alle freiwillig mitgemacht. Sie haben mir nicht nur erlaubt, sie zu fotografieren, sondern mir auch von ihrem Leben erzählt, ihrem Alltag und wie sie versuchen, die Sucht zu überleben. Und ich denke, das offenbart etwas grundlegend Menschliches. Wir reden hier über menschliche Widerstandsfähigkeit: Wie überlebt man etwas so Brutales? Wie macht man das? Die Tiefe der Stärke, die sie haben, fasziniert mich."
Neben einigen der Porträts hängen Briefe, in denen die Süchtigen – oft sind es Frauen – von der Brutalität ihres Lebens berichten. Manch zittrige, kaum leserliche Handschrift erzählt dabei mehr als die Worte, die sie aufgeschrieben hat.
Der verhängnisvolle American Way of Life
Stockbridges Porträts zeigen Menschen jenseits von Opferklischees, deren Gesichter oft so widersprüchliche Gefühle wie Schmerz und Stolz, Schwäche und Stärke ausdrücken. Für ihn hat das Ausmaß der Krise auch etwas mit der amerikanischen Mentalität zu tun:
"Es war ein perfect storm. Es gab jede Menge verletzliche Menschen, keine Krankenkasse, keine psychische Gesundheitsfürsorge. Und die Leute hier in den USA sind mit diesem Quatsch aufgewachsen, sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen: Selbstmedikation und sich zusammenreißen. Und dann verschreiben Ärzte noch diese Mittel in großen Mengen; buchstäblich Milliarden von Pillen werden jährlich in den USA konsumiert.""The Human Cost" ist eine engagierte Ausstellung mit einem sehr persönlichen Ton: erschreckend, berührend und ermutigend. Für Kurator Michael Kamber ist es wichtig, die Diskussion am Leben zu erhalten:
"Wir werden jetzt keine Lösung finden, aber wir hoffen, dass diese Diskussion produktiv ist. Und um ganz ehrlich zu sein, ich möchte, dass unsere Studierenden das sehen und Angst bekommen. Ich möchte, dass sie richtig Angst haben."