Fotoband über das Revolutionsjahr 1918/19

Geschichtsschreibung mit Schere und Klebstoff

Sturz des Kaiserreichs: Demonstration junger Arbeiter vor dem Abgeordnetenhaus in Berlin im November 1918.
Sturz des Kaiserreichs: Demonstration junger Arbeiter vor dem Abgeordnetenhaus in Berlin im November 1918. © dpa picture-alliance / Ullstein
Anton Holzer im Gespräch mit Christian Rabhansl · 30.09.2017
Ein paar rebellische Matrosen leiteten 1918 den Sturz des deutschen Kaiserreichs ein. Es folgte ein turbulentes Schicksalsjahr und die Gründung der Weimarer Republik. In einem Bildband hat der Fotohistoriker Anton Holzer die Perspektive der einfachen Bevölkerung eingefangen.
Das Ende des ersten Weltkriegs, der Sturz des Kaiserreichs, die Geburtsstunde der Weimarer Republik – unzählige Bücher haben Historiker über das Jahr 1918/19 geschrieben. Braucht es noch eines? Unbedingt, findet der Fotohistoriker Anton Holzer. Mit seinem Fotoband hat er einen ganz andersartigen Zugang gewählt:
"Weil in der großen Geschichte oft nur der Überbau vorkommt und die Wahrnehmung und die Geschichte der kleinen Leute durchfällt, habe ich mich entschieden, diesen im Buch eine Stimme zu geben."

Scheinbar banale Alltagsszenen

Um diesen "Blick von unten" auf die politischen Ereignisse einzufangen, betreibt Anton Holzer gewissermaßen Geschichtsschreibung mit Schere und Kleber. In seinem Fotoband trägt er Alltagsfotografien, Tagebucheinträge, Zeitungsartikel und andere Quellen zusammen, die in der klassischen Geschichtsschreibung keine Berücksichtigung finden. Darunter auch das Bild mehrerer Kinder, die aus einem Eisenbahnwagon Kartoffeln stehlen.
"Das ist für mich ein Bild, das unglaublich dramatisch zum Ausdruck bringt, dass der Krieg 1918 zwar offiziell vorbei ist, dass aber die Not weitergeht. (..) Und wer am meisten leidet, das sind die Kinder."
Den von der Geschichtsschreibung Vergessenen eine Stimme zu verleihen, scheinbar banale Alltagsszenen historisch einzuordnen und auf diese Weise unsere Perspektive auf die Vergangenheit um neue Perspektiven zu erweitern, das sind die Ziele von Anton Holzer.
"Die Kinder haben ja keine Tagebücher hinterlassen, die haben ja keine Stimme. Aber in diesen Fotografien haben sie ein Gesicht bekommen, haben sie eine Stimme bekommen."
Willy Römer: Berliner Jungs auf der Suche nach Lebensmitteln, 1919
Willy Römer: Berliner Jungs auf der Suche nach Lebensmitteln, 1919© Agentur für Bilder zur Zeitgeschichte/DHM
Die Fotos und Texten, die Anton Holzer zusammenträgt, verdeutlichen, dass die politischen Ereignisse des Jahres 1918/19 auch das Alltagsleben der Bevölkerung massiv beeinflussten. Eine enorme Verunsicherung sei damals spürbar gewesen, erklärt Anton Holzer.
"Wir wissen heute 100 Jahre später, wie das ausgegangen ist. Aber damals war das vollkommen unklar."
In seinem Fotoband trägt Anton Holzer Momentaufnahmen zusammen, die noch nicht zu Geschichte geronnen sind. Erstaunt sei er darüber gewesen, wie schnell die Menschen nach Kriegsende wieder ins Leben zurückgefunden hätten und geradezu jeden Blick zurück vermieden hätten.
"Die Menschen hatten genug von der Vergangenheit. Das Erstaunliche ist, (…) dass man auch die Erinnerungen an den Krieg unglaublich schnell vergessen hat. So schnell, dass man 20 Jahre später wieder bereit war, aufzurüsten und in den Krieg zu ziehen."
(mw)

Anton Holzer: Krieg nach dem Krieg. Revolution und Umbruch 1918/19
Verlag: Konrad Theiss, 2017, 192 Seiten, 39,95 Euro

Das Interview im Wortlaut

Christian Rabhansl: Wir sehen uns heute Bücher zum Jahr 1918 an, ein "Schicksalsjahr für Europa", so formuliert es Anton Holzer in seinem Fotoband über den "Krieg nach dem Krieg", denn nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, da stand ja eben nicht Frieden vor der Tür, sondern Wut und Revolution und später gleich noch der Zweite Weltkrieg. Dieser große weltpolitische Hintergrund ist aber in Anton Holzers Buch nur der Hintergrund, denn der Fotohistoriker interessiert sich für die Einzelschicksale, die Details, und welche das sind, das soll er mir selbst erklären. Guten Tag, Herr Holzer!
Anton Holzer: Guten Tag!
Rabhansl: Sie schreiben gleich zu Beginn, dass Sie dieses Buch gewissermaßen mit Schere und Klebstoff zusammengestellt haben. Fangen wir mit der Schere an: Was haben Sie denn aus dem Jahre 1918 ausgeschnitten?
Holzer: Also ich habe mit der Schere gearbeitet insofern, als ich Bilder zusammengesetzt habe und sie sozusagen mit Texten von Zeitgenossen in Kombination gesetzt habe, weil ich unzufrieden war mit dem, wie die herkömmliche Geschichte, die sehr stark an Fakten, sehr stark an der Diplomatiegeschichte, sehr stark an den großen Ereignissen interessiert ist, mit diesen Jahren 1918/19, und ich habe sozusagen den Blick von unten gewählt, den Blick der Zeitgenossen, den Blick derjenigen, die das miterlebt haben. Ich habe Bilder ausgeschnitten, die den Alltag zeigen, die sehr viel mehr hinter die Kulissen blicken, die die Not zeigen, die den Hunger zeigen, die Aufstände auf den Straßen, die Streiks und so weiter. Es war eine unglaublich turbulente Epoche, und weil in den großen Geschichten oft sozusagen nur der Überbau vorkommt und die Wahrnehmung die Geschichte der kleinen Leute durchfällt, habe ich mich dafür entschieden, diesen in diesem Buch eine Stimme zu geben.
Rabhansl: Und Sie haben das nicht nur ausgewählt und ausgeschnitten mit dem Blick eines Historikers, sondern Sie sind auch Herausgeber der Zeitschrift "Fotogeschichte", und die dreht sich um die Geschichte und Ästhetik der Fotografie. Wenn Sie jetzt ein Bild aus diesem Band herauspicken müssen, welches hat Sie besonders beeindruckt?

Kinder als Protagonisten der Geschichtsschreibung

Holzer: Es gibt natürlich sehr viele Bilder, aber ein Bild hat mich sehr, sehr beeindruckt. Das sind Kinder in Berlin 1919. Der Krieg ist aus, wenige Monate nach Kriegsende, und diese Kinder leiden an Hunger, diese Kinder klettern auf einen Eisenbahnwaggon, es sind keine Erwachsenen dabei, und was machen diese Kinder: Diese Kinder stehlen Kartoffeln. Also das ist für mich ein Bild, das unglaublich dramatisch zum Ausdruck bringt, dass dieser Krieg zwar offiziell vorbei ist 1918, Ende 1918, dass aber die Not weitergeht, ja eigentlich im ersten Winter nach dem Krieg noch viel größer ist, und wer am meisten leidet, das sind die Kinder, und die haben ja keine Tagebücher hinterlassen. Die haben ja keine Stimme, und in diesen Fotografien, in diesen sehr ausdrucksstarken Fotografien haben sie aber ein Gesicht bekommen, haben sie doch sozusagen eine Stimme bekommen.
Rabhansl: Kinder sind auch ganz zentral in einem Bild, das mir sehr ins Auge gefallen ist. Das ist ein paar Jahre älter, noch während der Kriegszeit. Drei Kinder, drei Jungs, die stolz lachend Propagandaschilder hochhalten mit dem Spruch "Wer Kriegsanleihe zeichnet, verkürzt den Krieg". Auf derselben Seite darunter ist ein zweites Foto, das zeigt akkurat gekleidete Großstädter in Anzügen, in vornehmer Bluse, in sehr aufwendigen Hüten und Mänteln, die drehen uns alle fünf den Rücken zu, die schauen nämlich an eine Wand, an Aushänge, die da an der Hauswand hängen, und da steht drüber: "Verlustlisten". Das führt mich zu dem zweiten Punkt. Ich habe Sie vorhin gefragt, was haben Sie mit Ihrer Schere ausgeschnitten. Das ist jetzt die Frage: Was haben Sie mit dem Klebstoff zusammengeklebt? Was kombinieren Sie miteinander?
Holzer: In diesem ganz konkreten Fall, das sind sehr schöne Beispiele, beide Bilder aus dem Landesarchiv in Berlin, sehr schöne Beispiele, die zeigen, wie während des Krieges die Propagandaanstrengungen des Krieges sozusagen auch in die Bilder eingeflossen ist. Dieses erste Bild, die Propaganda für die Kriegsanleihen, also da wird signalisiert, das Volk will den Krieg weiterführen, will Geld spenden für den Krieg, und das untere Bild, die Verlustanzeigen, das ist auch eigentlich ein Propagandabild, nämlich das zeigt, wie dieser Krieg sozusagen, wie man mit Verlusten umgeht, dass man Verluste – zumindest, wenn es nach der Propaganda geht – auch wegstecken kann. Nur irgendwann hat man diese Verluste nicht mehr wegstecken können. Es war so, dass die Invaliden, die Kriegsbeschädigten auf den Straßen aufgetaucht sind, in den großen Städten. Man hat den Blutzoll dieses Krieges wirklich vor Augen gesehen, und diese Bilder sind schneller einer anachronistisch geworden als manche glauben wollten, und Ende 1918, als der Krieg aus war, haben diese Bilder keine Geltung mehr gehabt. Ich habe sie hier hineingenommen, um zu zeigen, welch großen, welch gewaltigen Bruch das Jahr 1918/19 bewirkt hat im Alltag, aber auch in der ganz großen Politik. Was ich in den Blicken und in den Wahrnehmungen der Zeitgenossen gefunden habe, war eine enorme Verunsicherung. Auch die Künstler: Käthe Kollwitz beispielsweise hat sich ganz massiv in diese Richtung geäußert. Wir wissen heute 100 Jahre später, wie das ausgegangen ist, aber damals war das vollkommen unklar.
Blick auf demonstrierende Matrosen in Kiel im Oktober 1918, die den Befehl der Admiralität, trotz des Ersuchens um Friedensverhandlungen der neuen Regierung Max von Baden doch noch zu einer letzten Schlacht gegen Großbritannien auszulaufen, verweigern.
Blick auf demonstrierende Matrosen in Kiel im Oktober 1918, die den Befehl der Admiralität verweigern.© picture-alliance / dpa
Rabhansl: Anton Holzer hat das Buch herausgegeben "Krieg nach dem Krieg: Revolution und Umbruch 1918/19". Der großformatige Fotoband ist im Theiss Verlag erschienen. Der Versuch, Geschichte an einzelnen Menschen zu erzählen, hat einen großen Vorteil, nämlich, dass die menschlichen Schicksale sehr anschaulich sind, sehr eindrücklich. Die Kehrseite ist aber vorhin in der "Lesart" auch schon deutlich geworden, nämlich, dass eine solche Auswahl rasch beliebig oder auch willkürlich erscheinen kann. Um diese Frage zu klären, wie weicht man dem aus, ist weiter der Fotohistoriker Anton Holzer zu Gast. Wir haben vorhin schon über seinen Bildband "Krieg nach dem Krieg: Revolution und Umbruch 1918/19" gesprochen. Herr Holzer, da haben wir schon geklärt, wie Sie quasi mit Schere und Klebstoff ein Zeitpanorama erstellt haben, und wir haben auch die Frage gestreift, was Sie da eigentlich für Bilder ausgesucht haben, aber wie haben Sie zu vermeiden versucht, dass Ihre Auswahl eigentlich nur anekdotisch wird, nur willkürlich und beliebig?
Holzer: Zunächst einmal ist es so, dass ich mich sehr, sehr lange mit diesem Thema beschäftigt habe, mit der Kriegszeit selber, aber auch mit der Nachkriegszeit, und ich habe Unmengen an Tagebüchern, an Erinnerungsbänden, an Zeitschriften, an tagesaktuellen gelesen, und um in dieser Menge an Material nicht den Überblick zu verlieren und auch letztendlich das wieder runterzubrechen auf klar thematische Kapitel, habe ich versucht, das Ganze in Themen zu gliedern und diesen einzelnen O-Tönen sozusagen, die ich ausgewählt habe, auch eine kontextualisierende Einleitung voranzustellen. Also ich lasse die Leser nicht mit der Menge dieser Bilder allein, sondern ich versuche die einzuordnen und auch in einem sehr langen Einleitungstext. Natürlich – und das thematisiere ich auch ganz am Anfang des Buches – bin ich gewissermaßen ein Regisseur. Ich habe erwähnt: mit Klebstoff und Schere. Das heißt, ein anderer Historiker, jemand, der von einer anderen Seite der Geschichtswissenschaft vielleicht kommt, würde ganz andere Dinge auswählen. Mir war es wichtig, auch Bilder und Texte in Kontexte zu setzen, also nicht nur das geschriebene Wort, sondern auch das bildliche Dokument, und ich glaube, auf diese Weise ist ein Buch entstanden, das vielleicht diskutierbar ist, über das man debattieren kann, aber das doch diese unglaublich turbulente Zeit zwischen Ende 1918 und bis weit in die 20er-Jahre hinein in eine fassbare Form bringt für ein breites Publikum.

Tanz auf dem Vulkan

Rabhansl: Sie haben jetzt gerade die thematische Sortierung schon erwähnt, und da sticht in meinen Augen insbesondere das letzte Kapitel heraus. Es heißt "Tanz auf dem Vulkan", und da ist plötzlich nach all diesen Elends- und Kriegsbildern viel nackte Haut zu sehen, Tanz und Varieté. Wie passt denn dieses wilde Leben, diese Hoffnung, diese Zuversicht und diese Neuanfänge mit den Zwischenkriegsjahren zusammen?
Holzer: Also ich würde es ja sogar umdrehen: In den Geschichtsbüchern und auch in den populären Bildern der 20er-Jahre hat man das Gefühl, diese goldenen 20er-Jahre, die beginnen unmittelbar nach 1918. Ich will drauf hinweisen, dass das nicht der Fall ist, dass bis Mitte der 20er-Jahre eigentlich Wirtschaftskrise ist, Inflation, große Not, Hunger noch in den Städten, Wohnungsnot, die Invaliden, und dann ab 1924 wendet es sich zum Besseren. Ein ganz wichtiger Einschnitt ist das Ende der Inflation Ende 23, 1924 dann und der Wirtschaftsaufschwung, und worauf ich auch hinweisen will, auf welch wackeligem Podest eigentlich diese Weimarer Republik steht, wenn man sich anschaut, was da vorher passiert ist und was dann Ende der 20er-Jahr rund um das Jahr 33 dann wieder passiert. Also eine unglaublich fragile Konstruktion, die einige wenige Jahre lang gedauert hat.
Rabhansl: Von der Fragilität wollte man aber anscheinend nichts wissen. Von 1925 stammt das letzte Bild, das Sie abbilden. Das ist ein Modefoto von Frauen, die sich gegenseitig die Hände um die Hüfte legen, die an einem Berliner Strand in Richtung Wasser blicken, wir sehen sie von hinten, und Sie schreiben drunter: "Kein Blick zurück." Was haben sich denn die Menschen damals erträumt?
Holzer: Die Menschen hatten genug von der Vergangenheit. Das Erstaunliche ist, dass man das hinter sich lassen wollte, auch diese Mühsal, die Not, dass man auch die Erinnerung an den Krieg unglaublich schnell vergessen hat. So schnell, dass man dann 20 Jahre später wieder bereit war aufzurüsten und in den Krieg zu ziehen. Das ist letztendlich auch der Ausblick: Die Zukunft ist ungewiss Mitte der 20er-Jahre, man glaubt an diesen Fortschritt, man glaubt an die Demokratie, aber weiß nicht, dass man eigentlich auf dem Vulkan tanzt.
Rabhansl: Anton Holzer hat das Buch herausgegeben "Krieg nach dem Krieg: Revolution und Umbruch 1918/19", 194 großformatige Seiten, viele Fotos, erschienen im Theiss Verlag, kostet 39,95 Euro. Herr Holzer, ich danke Ihnen!
Holzer: Bitte!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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