Gian Franco Ragno / Peter Pfrunder (Hg.): Roberto Donetta. Fotograf und Samenhändler aus dem Bleniotal
mit Texten von Marco Franciolli, Gian Franco Ragno, Matthias Böhni, David Streiff, Peter Pfrunder und Antonio Mariotti
Limmat Verlag, Zürich 2016
232 Seiten, 68 Euro
Chronist einer untergegangenen Welt
Der 1865 geborene Samenhändler Roberto Donetta aus dem Tessin fotografierte in atemberaubender Qualität: die Natur, den technischen Fortschritt und vor allem Menschen, das gesamte damalige Dorfleben. Zufällig wurde sein Werk vor wenigen Jahren entdeckt und ist nun in einem Bildband zu sehen.
Das kleine Mädchen hat der Fotograf auf einen Holzstuhl gestellt. Es ist einfach gekleidet: dicke Schuhe, Strumpfhose, darüber mehrere Kleidchen unterschiedlicher Länge. In den Armen hält es eine Katze, sein ernster Blick geht direkt in die Kamera. Direkt neben ihm steht ein Jugendlicher. Vielleicht der Bruder? Jedenfalls legt er seinen Arm liebevoll um die Kleine, seine mächtige Hand umfasst ihren Ellenbogen. Auch er ist ärmlich gekleidet in Schürze und Arbeitshemd, auch sein Blick ist konzentriert.
Das meisterhafte Doppelporträt in Schwarz-Weiß hat Roberto Donetta Anfang des 20. Jahrhunderts aufgenommen. Bis vor wenigen Jahren war der Samenhändler aus dem Tessin ein in der Kunstwelt vollkommen Unbekannter. Niemand wusste (mehr), dass der 1865 in Biasca geborene Autodidakt auf seinen Wanderungen und Verkaufstouren unermüdlich fotografiert hatte. Per Zufall und dank der Aufmerksamkeit einer Dorfbewohnerin wurde Donettas Werk – über 5000 Glasplatten – Jahrzehnte nach seinem Tod aus einem Stall geborgen. Mittlerweile ist es zu großen Teilen restauriert, und das Wohnhaus in Corzoneso wurde zum Archiv. Parallel zu einer großen Ausstellung in Winterthur wird Donettas Werk nun erstmals in einer umfangreichen Publikation gewürdigt.
Es sind Bilder von atemberaubender Qualität, die Roberto Donetta bis zu seinem Tod 1932 aufgenommen hat. Der Samenhändler mit der Kamera dokumentierte, was ihm vor die Linse kam: die Natur; eindrucksvoll und an den großen Amerikaner Ansel Adams erinnernd (allerdings lange vor diesem) hat er zum Beispiel Wasserfälle, Flussläufe und Täler in Szene gesetzt. Er hielt den technischen Fortschritt fest, etwa den Bau von Brücken, Straßen und Fabriken. Vor allem aber fotografierte Donetta Menschen.
Essays über die Härten seines Lebens
Schlichtweg hinreißend sind seine Porträts von Alten und Jungen, Nachbarn und Freunden, Arbeitern und Bauern. Donetta hat das gesamte Dorfleben festgehalten, eine archaische, längst untergegangene Welt. Er machte Bilder von Feiern und Prozessionen, von Hochzeiten, Geburten und am Totenbett, vom Alltag und aus der Berufswelt. Ernst blicken Metzger, Pfarrer, Schmied, Sennerin oder Fabrikarbeiterin in seine Kamera. Viele der Bilder erinnern an den berühmten Zeitgenossen August Sander. Wie dieser entpuppt sich Donetta als Chronist seiner Zeit und Welt, seine Porträts sind voller Würde und Tiefe.
Wie konnte man diesen Fotografen nur vergessen? Davon, von den Härten seines Lebens und dem zeitgeschichtlichen Kontext handeln die begleitenden Essays. Sie zeichnen das Bild eines leidenschaftlichen Fotografen, der sich als Künstler verstand und als Maroni-Brater, und später als Samenhändler über die Runden zu kommen versuchte. Es gelang ihm nicht. Unverstanden, von Frau und Kindern aus Geldnöten verlassen, wurde Donetta zum Sonderling und Außenseiter. Seine Ausrüstung wurde mehrmals gepfändet; zuletzt nach seinem Tod. Wie durch ein Wunder überlebte das Werk.
Dieser hervorragend gestalteten und hochwertig gedruckten Publikation wünscht man viele Leser.