Fotografie

"Das ist ja eigentlich so die alte Bundesrepublik"

Das undatierte Foto aus dem Nachlass der Fotografen Richard und Eberhard Püscher zeigt Freischießen im Jahr 1969 in Alfeld (Niedersachsen).
Das undatierte Foto aus dem Nachlass der Fotografen Richard und Eberhard Püscher zeigt Freischießen im Jahr 1969 in Alfeld (Niedersachsen). © dpa / picture alliance / Sammlung Püscher
Annett Gröschner im Gespräch mit Frank Meyer · 18.02.2014
Einen Schatz von 80.000 Negativen haben Annett Gröschner und Simon Schwinge gehoben und als Buch herausgegeben: "Eine Stadt auf Fotopapier" präsentiert die Geschichte der niedersächsischen Kleinstadt Alfeld.
Frank Meyer: Fast 50 Jahre lang, von 1947 bis 1994, haben zwei Fotografen eine deutsche Kleinstadt fotografiert, Alfeld in Niedersachsen. Richard Püscher und sein Sohn Eberhard waren die beiden Fotografen, 80.000 Negative umfasst ihr Nachlass. Und da ist alles drin, was das Leben von Alfeld in diesem halben Jahrhundert ausgemacht hat. Taufe und Trauerfeier und Abschlussball und Schützenfest und, und, und: ein Archiv der alten Bundesrepublik am Beispiel einer Kleinstadt. Und das Archiv wird jetzt zugänglich gemacht mit dem Buch "Eine Stadt auf Fotopapier". Die Berliner Autorin Annett Gröschner und der Kulturwissenschaftler Simon Schwinge haben dieses Buch herausgegeben, und Annett Gröschner ist jetzt hier bei uns im Studio, herzlich willkommen!
Annett Gröschner: Hallo!
Meyer: Diese beiden Fotografen, Richard Püscher und sein Sohn Eberhard, welche Rolle haben die denn in Alfeld gespielt? Gehörten die zur besseren Stadtgesellschaft, standen die am Rande? Wer waren die?
Gröschner: Wenn man heute so rumfragt, es gibt ja viele Alfelder, die jetzt auch zum Beispiel in Berlin wohnen, und man sagt den Namen Püscher, dann kommt immer sofort dieses "Auf Lücke, bitte!" Das weiß also jeder Alfelder, der mal in die Schule gegangen ist, dass einmal im Jahr Eberhard Püscher kam – am Anfang halt Richard Püscher, aber der ist 1960 gestorben –, und hat dann so die Klassen aufgestellt und es gab das Klassenfoto, das obligatorische. Und er brauchte immer eine Stunde, um die Leute alle auszurichten, damit alle in die Kamera gucken und keiner irgendwie sich hinter dem anderen versteckt. Und das ist eben das wirklich Irre daran, dass man das wirklich sieht. Es gibt niemanden, der woanders hinguckt, und niemanden, der runterguckt. Also, die waren sehr genau, war ein sehr genauer Handwerker eigentlich, aber jeder weiß eben noch genau, wie die waren, was sie gemacht haben, was sie anhatten. Und das waren so, eigentlich so Originale auch, an dem Ort.
Meyer: Und was für einen Blick hatten die auf ihre Stadt? Ich frage auch, weil, es gibt ja so verschiedene Alltagsbeobachtungsprojekte in der Fotografiegeschichte, das sind dann oft auch so kulturkritische Sittengemälde, man schaut sich die Amerikaner an in einer bestimmten Zeit oder die Deutschen. Wie ist das bei den beiden, wie haben die auf ihre Stadt geschaut?
Gröschner: Na ja, das ist ja sozusagen: Wir gucken ja von hinten darauf, sie selber waren ja eigentlich Handwerker und sie sind 1946 aus Glogau nach Alfeld gekommen und haben sich dort wieder ihr Fotografenhandwerk aufgebaut. Und haben es eben geschafft, dass sie, trotzdem sie eben von außen kamen, eben auch sehr viele Schulen, in sehr vielen Schulen fotografiert haben und fast jede Hochzeit und Beerdigungen und Feste. Und dadurch eben so einen riesengroßen Schatz geschaffen haben, ohne dass sie das unbedingt wollten. Das war eben einfach ihre Arbeit und wir gucken jetzt von hinten drauf und sehen plötzlich, das ist ja eigentlich so die alte Bundesrepublik der letzten 50 Jahre vor der Wiedervereinigung!
"Dieser eine Ort kann das ganze Land erzählen"
Meyer: Und finden Sie das gerade interessant, dass es so einen Blick auch auf die Provinz der alten Bundesrepublik ist und nicht gerade ein Blick auf die vielleicht bekannteren Metropolen Hamburg, Westberlin, München und so weiter?
Gröschner: Ja, das ist ja wie so eine kleine Nussschale, so pars pro toto. Man hat so einen Ort und dieser ganze Ort, dieser eine Ort kann so das ganze Land erzählen. Also, man könnte auch sagen, ja, man könnte das jetzt auch für eine Kleinstadt in der Pfalz machen oder so, aber das ist eben nicht unbedingt überliefert und vielleicht auch nicht in der Qualität überliefert. Aber wir haben das hier für eine Stadt und man kann da auch wirklich Rückschlüsse ziehen auf andere Städte.
Meyer: Und wenn Sie das nun so sehen von heute aus, zum Beispiel, nehmen wir mal Volksfeste, Umzüge, solche Fotografien, wirken die auf Sie eher gruselig oder haben Sie Lust, mitzumarschieren?
Gröschner: Auf keinen Fall habe ich Lust, da mitzumarschieren, aber ich sehe natürlich, dass es doch ein bestimmter Ausdruck einer bestimmten Zeit ist. Also, wir haben, gerade was die 50er-Jahre angeht, unheimlich viele Fotografien auch von Vertriebenentreffen. Also, man muss dazu sagen, Alfeld war eine Stadt, die nicht zerstört war, und deswegen kam über ein Drittel Personen dazu, zu denen, die schon da waren. Und das hat natürlich auch dazu geführt, dass sich die Stadt immens verändert hat dadurch. Und die mussten sich erst mal einleben. Und es heißt ja auch, dass in Niedersachsen man erst mal einen Scheffel Salz mit den Einheimischen gegessen haben muss, ehe man wirklich dazugehört. Und man kann das auch so ein bisschen sehen an diesen Fotos.
Meyer: Wie sieht man das denn, ob da jemand dazugekommen ist, neu?
Gröschner: Ja, man sieht natürlich, dass diese Vertriebenen gerade so in den 50er-Jahren auf diesen Treffen noch sehr verwurzelt sind den Orten, wo sie herkamen. Und das sieht für uns natürlich heute so ein bisschen gruselig aus, wenn die manchmal so … Es gibt so Fotos, wo die Leute aussehen, als hätten sie noch ein Hitler-Bärtchen, und alle noch so in Traditionsuniform und die Sprüche, die auf den Wagen sind, das ist alles noch sehr verhaftet dieser Flucht, die sind da noch nicht angekommen. Und das hat sich dann im Laufe der Zeit verändert auch. Also, später hat man ja viele Fotos, die so von Sportfesten und was man eben so gemacht hat, Schützenfeste und Hochzeiten, da sieht man es dann natürlich nicht mehr.
Vom Vergehen der Zeit - und der Moden
Meyer: Sie schreiben auch an einer Stelle, es gab 8.000 Ureinwohner sozusagen in Alfeld und 4.000 Neue sind dazugekommen, eben genau ein Drittel. Das muss eine ungeheure Integrationsleistung dann auch am Ende gewesen sein!
Gröschner: Ja, auf jeden Fall, ja!
Meyer: Und wenn man mal auf das Vergehen der Zeit schaut: Mir scheint, also, ich habe es am besten gesehen, wenn man so Klassenfotos anschaut. Auf den frühen aus den 50er-Jahren, da sieht man die autoritäre Ordnung der alten Schulen, und mit der Zeit werden die Haare immer länger und die Hosenbeine immer weiter und die Haltungen immer legerer. Ging Ihnen das auch so, dass an diesen Fotos das Vergehen der Zeit am besten sichtbar wird?
Gröschner: Ja, auch das Vergehen der Moden natürlich. Wenn man so Konfirmationsfotos aus dem Anfang der 70er-Jahre anguckt, die Mädchen haben eigentlich ja noch nicht mal Röcke an! Also, das ist so kurz, dass man quasi die gesamten nackten Beine sieht, wo man denkt, das würde heutzutage bei einer Konfirmation wahrscheinlich nicht so aussehen! Also, da war man auch schon mal moderner und weiter, das hat sich auch wieder verändert. Ja, am Anfang sieht man sehr genau, da kann man das auch nachweisen, das, was du eben gefragt hast, da sieht man noch sehr genau, welche Kinder aus Familien kommen, wo man eben das Geld hatte, um denen neue Klamotten zu kaufen, und die, die das auftragen, was ihre älteren Geschwister anhatten. Also, es gibt ein wunderbares Porträt eines kleinen Mädchens, und wenn man das Gesicht nicht sieht, denkt man, das ist ein kleiner Junge, weil die die Hosen ihres Bruders aufträgt, und oben sieht sie eben aus wie ein kleines Mädchen, gelockt mit Puffärmeln, und unten hat sie eben die Schuhe und die Hosen ihres Bruders an.

Meyer: Deutschlandradio Kultur, wir reden über das Buch "Eine Stadt auf Fotopapier", das fotografische Archiv der Kleinstadt Alfeld, mit der Berliner Autorin Annett Gröschner, sie hat das Buch mit herausgegeben. Und Sie schreiben in einem Text in dem Buch – Sie sind selbst im Osten groß geworden, in der DDR –, und sagen jetzt angesichts dieser Fotos, dass die Unterschiede eigentlich gar nicht so groß sind zwischen West und Ost, wenn Sie diese Fotos sehen. Woran machen Sie das fest?
Gröschner: Ich glaube, es gab so eine Zeit bis Anfang der 60er-Jahre, wo natürlich vieles noch nebeneinander herlief und die Feste waren auch ähnlich, die Leute waren ähnlich gekleidet. Man sieht das eigentlich auf vielen Fotos nur an den Autos, die Autos waren immer anders. Aber die Personen, die sich bewegen, und was sie anhaben, da sieht man nicht so einen großen Unterschied. Und ich glaube eher, dass so in den nächsten oder übernächsten Generationen, wird es unheimlich schwerfallen, da überhaupt noch einen Unterschied zu sehen. Man sieht eben einfach, dass die alte Bundesrepublik auch nicht mehr da ist und dass man jetzt eigentlich dazu kommen müsste, nicht nur das Erbe der alten DDR zu zeigen, sondern auch das Erbe der alten Bundesrepublik. Und das ist eben auch nicht mehr das, was wir heute leben.
Meyer: Das heißt, über die Unterschiede der Autos sehen Sie gar keine Unterschiede zwischen den Entwicklungen im Osten und denen im Westen, jetzt auf diesen Fotos aus Alfeld?
Gröschner: Ja, ich denke mal, wenn man jetzt die Umzüge, es gab natürlich keine Vertriebenentreffen im Osten, da wären andere Transparente gewesen. Aber wenn man so die Feierkultur sieht, da gibt es keine großen Unterschiede. Da gab es eben auch, es war eben vielleicht kein Schützenfest, sondern ein Sportfest, aber da gab es dann auch die Sportgruppe, die da ihre Figuren, Hebefiguren gemacht hat, oder diese Umzüge gab es natürlich auch noch im Osten. Da finde ich die Unterschiede nicht so groß.
Meyer: Und dieser Durchgang durch die bundesdeutsche Alltagsgeschichte, gab es etwas dabei, was Ihnen neu vorkam, gab es Entdeckungen für Sie, die Sie dabei gemacht haben?
Fotos von Soldaten mit langen Haaren
Gröschner: Was ich sehr interessant fand, war: Eberhard Püscher, der Sohn hat von den 70ern bis zu den beginnenden 90er-Jahren in der Bundeswehr fotografiert. Also, wie er dazu gekommen ist, kann man heute nicht mehr so richtig rekapitulieren, weil er selber ein Zivilist durch und durch war. Aber er ist ein- bis zweimal im Jahr nach Holzminden gefahren und hat dort die Bundeswehr fotografiert. Und da gibt es natürlich sehr interessante Phasen auch, zum Beispiel die zwei Jahre, wo Soldaten lange Haare haben durften. Und wenn man diese Fotos sieht, dann denkt man, das sind so Jäger, die sich irgendwie im Wald treffen und da …
Meyer: Lustiges Biwak…
Gröschner: Ja, genau, oder sie sehen manchmal aus wie diejenigen, die dann später in Bonn gegen die atomare Aufrüstung demonstriert haben, sie haben die gleichen Parker an, sie haben die gleichen Haare, nur die Gewehre verraten eigentlich, dass sie doch was anderes machen, als Friedenskämpfer zu sein. Und das war auch eine interessante Geschichte, dass die einmal im Jahr Fasching feierten und die Offiziere dann zum Beispiel als Sputnik gegangen sind. Also …
Meyer: Als russischer Sputnik?
Gröschner: Ja, gibt es ein sehr schönes Foto, wo ein Offizier als Sputnik verkleidet ist. Und das sind ja auch so Entdeckungen, wo man dann sagt, wunderbar, dass das überliefert worden ist!
Meyer: Also auch ein Blick in die Alltagsgeschichte der Bundeswehr inklusive Fasching! Das Buch "Eine Stadt auf Fotopapier": ein fotografisches Archiv aus der Kleinstadt Alfeld. Das Buch ist im Fruehwerk Verlag erschienen, Annett Gröschner hat das Buch gemeinsam mit Simon Schwinge herausgegeben und war hier bei uns zu Gast. Besten Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.