Warum uns das tote Flüchtlingskind so erschüttert
Eine Welle der Empörung ging durch das Netz angesichts des Fotos eines im Mittelmeer ertrunkenen syrischen Flüchtlingskindes. Die Entrüstung über dieses eine Foto deckt unsere Nüchternheit im Zusammenhang der vielen anderen auf, meint Simone Miller.
Stille – absolute Stille und Regungslosigkeit vermittelt dieses Bild. Es klagt einen an. Mit einer Wucht, die einen abwechselnd hinstarren und wegschauen lässt. Ein stummer Schrei schmerzt einen noch dann in der Kehle, wenn es längst hinter dem nächsten Tab verschwunden ist.
Die Fotografie schmettert einem die dröhnende Frage entgegen: Warum lassen wir so etwas geschehen? Warum muss ein dreijähriges Kind, dessen Familie in Europa Schutz vor dem Krieg sucht, im Mittelmeer ertrinken?
Doch die Wucht, mit der uns diese Fotografie trifft, wirft noch eine andere unbequeme Frage auf: Warum können wir uns der Anklage dieses toten Kindes kaum entziehen und warum fühlen wir die Macht dieser Anklage auf anderen Bildern nicht? Jedenfalls nicht derart, dass wir der aktuellen Flüchtlingspolitik entschieden entgegentreten würden?
Du sollst nicht töten
Die Flüchtenden sind mitten unter uns, über ihr Leid sprechen sie zu uns jeden Tag in Bild, in Ton, in Schrift. Doch unsere Herzen erreichen sie meist trotzdem nicht.
Emmanuel Lévinas' Überlegungen zur Ethik nehmen ihren Ausgangspunkt beim menschlichen Gesicht. Aus dem Gesicht eines Menschen blickt für den französischen Philosophen eine grundlegende moralische Forderung: Du sollst nicht töten.
Mit Autorität blickt sie aus ihm, weil wir um die Verletzbarkeit eines jeden Lebens wissen. Wir wissen, dass ein Leben vom Wohlwollen seiner Umwelt abhängt. Wir wissen um die Drastik dieser Wahrheit, wenn es um Flüchtende geht. Doch wir sehen in ihre Gesichter und bleiben tatenlos.
Das tote Kind hat sein Gesicht abgewendet. Abgewendet von Europa. Wir wissen nicht, wie es aussieht und gerade dadurch könnte es unser aller Kind sein. Seine Gesichtslosigkeit macht es zur Chiffre der abgewiesenen Schutzbedürftigkeit.
Es ist die Allgemeingültigkeit des elterlichen Schmerzes, die uns anklagt. Sie macht uns begreifbar, dass das Recht auf Leben keine wertende Unterscheidung zwischen "uns Europäern" und "den Flüchtlingen" erträgt.
Müssen die Flüchtenden ihre Gesichter abwenden?
Sie stößt uns auf die Lücken in unserer Grammatik der Anerkennung, die Mechanismen der Entmenschlichung. Die US-amerikanische Philosophin Judith Butler stellt fest, dass wir in der sozialen Praxis unterscheiden zwischen betrauernswertem Leben und nicht-betrauernswertem. Nur das Leben, um das wir trauern, schützen wir auch. Die Blicke der vielen Verzweifelten verfolgen uns nicht, weil wir um ihren Tod nicht bangen.
Doch wer würde je bezweifeln, dass es unsere moralische Pflicht ist, Leben zu retten, hilfsbedürftigen Menschen Obhut zu gewähren?
Wo bleibt also der ethische Affekt im Angesicht der unzähligen Abbildungen von Flüchtlingsleid? Wie Bilder und Informationen wirken, ist vor allem Frage ihrer Interpretation. Wir als Betrachter wiederum, auch das zeigt Butler, sind immer schon eingebunden in einen Interpretationskontext, durchzogen von sozialen Vorannahmen und Normen.
Und so lässt die Welle der Empörung über das tote gesichtslose Kind eine beißende Frage zurück: Müssen die Flüchtenden auf den Bildern ihre Gesichter abwenden, damit wir ihre Menschlichkeit erkennen?
An den Interpretationsmustern unserer Gesellschaft zweifeln
Sind ihre Züge sonst zu fremd, ihre Haut zu dunkel, ihre Anliegen zu nah an unserer eigenen Leben?
Europas politische Ordnung beruft sich auf die universelle Gültigkeit der Menschenrechte. Allen Bekundungen zum Trotz fallen unzählige Flüchtende faktisch durch das Raster dieser politischen Spielregeln, als fielen sie unter eine zynische Ausnahme, die die Gültigkeit allgemeiner Rechte bestätige. Sei es durch die Überforderung offenbar unvorbereiteter Bürokratien, sei es durch die politisch gewollte Unterscheidung in Asylsuchende und Wirtschaftsflüchtlinge.
Fakt bleibt: Was wir erleben, widerspricht den universellen Menschenrechten, auf die wir uns alle verpflichtet fühlen.
Wenn unser moralisches Pflichtbewusstsein nicht länger übereinstimmt mit unseren ethischen Affekten, dann müssen wir ernsthaft an den Interpretationsmustern unserer Gesellschaft zweifeln. Das schulden wir uns und ihnen - damit wir unseren eigenen Gesichtern auch morgen noch im Spiegel begegnen können.