Fotografien vom Rande der Gesellschaft

Moderation: Dieter Kassel |
Der Fotograf Tobias Zielony ist bekannt für seine Porträts von Jugendlichen aus dem Ghetto. In Berlin ist nun sein neuestes Projekt "Jenny, Jenny" zu sehen. Viele seiner Ideen bekomme er durch Zufall - manchmal auch durch unverhoffte Begegnungen in der U-Bahn, sagt Zielony.
Dieter Kassel: Seit über zehn Jahren fotografiert Tobias Zielony Jugendliche am Rand der Gesellschaft, Jugendliche, die er meistens auch an einem anderen Rand findet - nämlich am Rand großer Städte, in Vororten, den Suburbs, den Banlieues in Europa und Nordamerika. Das ist längst nicht mehr alles, was er tut. Und jetzt sind sowohl diese älteren Arbeiten, Arbeiten, die konkret in der Nähe von Los Angeles entstanden sind, als auch neue Fotografien aus Berlin, in einer großen Ausstellung zu sehen. Barbara Wiegand.

Porträt von Tobias Zielony (DKultur)

Barbara Wiegand über den Fotografen Tobias Zielony und die Ausstellung, die ab morgen in der Berlinischen Galerie zu sehen sein wird. Tobias Zielony ist jetzt bei mir im Studio, schönen guten Tag, Herr Zielony!

Tobias Zielony: Ja, guten Tag, hallo!

Kassel: Es sind ja, wenn man es jetzt korinthenkackerisch sagen wollte, eigentlich zwei Ausstellungen in einer: Zum einen sind es die neuen Arbeiten, "Jenny Jenny", und dann ist es Ihre Arbeit aus dem Jahr 2008, "Trona". Und da gibt es natürlich gewaltige Unterschiede, aber wenn ich mal mit einem ganz simplen anfangen darf, Trona ist eine Stadt in der Nähe von Los Angeles, 9.000, 10.000 Kilometer weit weg von dem Ort, wo Sie wohnen, Berlin. "Jenny Jenny", das sind Fotos, die in Berlin entstanden sind. Hat das auch für den Zugang, sowohl zum Thema als auch zu den Menschen, die sie fotografiert haben, einen Unterschied gemacht, in der eigenen Heimatstadt zu arbeiten?

Zielony: Ja, der Unterschied ist natürlich tatsächlich gewaltig. Es ist auch so, dass ich in Trona die ganze Zeit bei Tag eigentlich fotografiert habe, da gibt es die Sonne und die Leere eigentlich da in der Wüste. Und die Bilder aus der Serie "Jenny Jenny" sind eigentlich fast alle, oder alle bei Nacht entstanden, die sind eigentlich sehr düster. Das hat schon einen sehr großen Unterschied gemacht, weil ich hier die Möglichkeit hatte, wirklich über ein Jahr oder anderthalb Jahre immer wieder in dieser Serie zu arbeiten, mich mit den Frauen zu treffen. Und die Möglichkeit hatte ich in Trona nicht, da bin ich von Los Angeles mit dem Auto hingefahren, habe dann da im Hotel zwei, drei Nächte geschlafen, dann bin ich wieder zurückgefahren, habe die Filme entwickelt, also es war eine ganz andere Arbeitsweise.

Kassel: Selbst im Ausstellungstext zu "Jenny Jenny" steht – die formulieren das vorsichtig –, da steht: Frauen, die zum Teil ihr Geld mit Sexarbeit verdienen. Daraus macht der Journalist gerne: Es sind Bilder über Prostitution. Das stimmt nicht, und das hören Sie auch nicht gerne, aber Bilder über was sind es in Ihren Augen?

Zielony: Ja, ich sehe das jetzt nicht so als meine Aufgabe, zu sagen, es geht darum und darum. Ansonsten könnte ich ja auch ein Journalist sein oder einen Zeitungsartikel schreiben. Es ist nicht so ganz klar, und das ist vielleicht auch beabsichtigt. Und es geht mir vor allem nicht darum jetzt, dass die Leute da rein gehen und denken, das sind alles Prostituierte auf den Bildern, weil das stimmt nicht. Das sind natürlich auch Frauen, die ein komplexeres Leben führen und sich wahrscheinlich nicht nur über ihre Arbeit definieren würden.

Kassel: Wie fängt denn so was an? Ich habe so ein bisschen bei anderen Interviews das Gefühl gehabt, man kann Sie vielleicht nicht nach absolut jeder, aber nach ganz vielen Ihrer Fotoprojekte fragen, und die Antwort, wie es entstanden ist, beginnt mit: Das war ein bisschen Zufall. War das diesmal auch so bei "Jenny Jenny"?

Zielony: Ja, hier war es vielleicht noch mehr Zufall oder ein größerer Zufall, dass ich ein Pärchen angesprochen habe in der U-Bahn, die mich interessiert haben. Die saßen mir gegenüber, dann sind wir zusammen ausgestiegen, und dann habe ich ein paar Fotos gemacht, und dann habe ich die gefragt: Ja, wo können wir uns denn noch mal treffen, dass ich vielleicht noch ein paar mehr Bilder mache? Und dann hat die Frau gesagt: Ja, hier, ich arbeite hier auf der Straße. Also insofern war das tatsächlich ein Zufall, und ich bin dann über diese Frau irgendwie ein bisschen in diese Welt reingerutscht.

Kassel: Ja, da sind wir jetzt bei diesem Verleser. Ich habe irgendwo im Zusammenhang mit Ihrer Arbeit den Begriff sozialwissenschaftliche Dokumentationsfotografie gelesen. Das kannte ich vorher noch nicht, aber besser war, was ich – das stand da –, wirklich gelesen habe ich aber sozialdemokratische Dokumentationsfotografie. Beides Unfug?

Zielony: Beides würde ich nicht unterschreiben.

Kassel: Aber ich habe mich gefragt, machen wir ganz kurz mal Tiefenpsychologie für Anfänger, wie komme ich auf diese Idee, sozialdemokratische Dokumentationsfotografie – vielleicht, weil ich früher den Verdacht hatte, er ist immer geringer geworden, ehrlich gesagt, im Laufe der Arbeiten, die ich von Ihnen kennengelernt habe, aber bei den ersten, Bristol, englische Jugendliche, später dann welche in Deutschland, Los Angeles, Marseille und so weiter, hatte ich das Gefühl: Hat der Mann noch eine politische Absicht, also will der uns nur in irgendeiner Form zeigen, was da ist, oder will der uns auch auffordern, das zur Kenntnis zu nehmen und vielleicht sogar was zu verändern?

Zielony: Vielleicht muss man deshalb schauen, wo ich angefangen habe mit diesen Arbeiten, und das hat sehr viel mit meinem Studium zu tun, in Newport in Wales, in Großbritannien, wo sozusagen diese dokumentarische Tradition tatsächlich vielleicht aus einer Welt kommt, die sozusagen auch politisch eindeutiger sagen konnte, so ist es, und ich habe hier auch noch eine Idee, wie man das verbessern könnte.

Kassel: Also man denkt natürlich sofort, Großbritannien, an Arbeiterklasse.

Zielony: Genau!

Kassel: Jugendliche in Jogginghosen, Arbeitslosigkeit, Nordengland, Wales, das ist natürlich eine naheliegende Assoziation.

Zielony: Genau, aber das, was mich da interessiert hat, war eigentlich, dass die Leute ja keine Arbeit mehr haben. Was macht denn eine Arbeiterklasse, die sozusagen des Hauptstandbeins ihrer Identität beraubt ist? Wie geht man damit um? Man ist da, man hat genug Kraft, man könnte irgendwie da in einem Stahlwerk, was gerade zumacht, arbeiten, man wird aber nicht mehr gebraucht, so. Und dann zieht man sich einen Jogginganzug an, um zu sagen, ja, ich bin sportlich, ich bin kräftig, oder ich mache jetzt Freizeit, nur dass die Freizeit nicht aufhört, weil man gar keine Arbeit mehr hat.

Das heißt, dass diese Muster, was Sie vielleicht als sozialdokumentarisch oder sozialdemokratisch bezeichnen, natürlich nicht mehr so richtig greifen in der Welt, die sich da verändert. Und vielleicht ist es dann auch der Punkt gewesen, wo ich gesagt habe, ich reagiere auch auf diese Dinge, die ich da beobachtet habe. Und das habe ich zum Beispiel einmal bemerkt, als ich versucht habe, dem "Guardian" diese erste Serie anzubieten, und die haben halt immer gesagt: What’s the story? Und da habe ich gesagt: Ja, es gibt eigentlich keine konkrete Story. Wenn da jetzt vielleicht ein Bergarbeiterstreik gewesen wäre, oder gerade das Stahlwerk zumacht oder so eine Geschichte, dann hätten die einen Grund gehabt, vielleicht die Serie zu veröffentlichen. Aber eigentlich ist das, was ich da fotografiere, passiert 24 Stunden am Tag, ist aber genau so aktuell oder weniger aktuell wie vor drei Monaten.

Kassel: Es passt eigentlich ganz gut zu meiner letzten Frage, man müsste eigentlich – die Zeit hätte ich an dieser Stelle gerne – jedes Ihrer Projekte einzeln besprechen, weil ich immer mehr gemerkt habe, man kann die gar nicht so in einen Topf werfen. Dieser ewige Satz, er hat einfach immer Jugendliche an den Rändern großer Städte – Trona geht schon los, so nah an Los Angeles ist es auch nicht, das ist eigentlich ein Ort für sich und nicht irgendwo am Stadtrand –, das können wir nicht machen.

Aber was mir durch den Kopf gegangen ist, bei "Jenny Jenny" und auch bei dem, was Sie jetzt zum Schluss gesagt haben: Sie haben sich ja von diesen Jugendlichen entfernt. Die Frauen sind nicht alt in "Jenny Jenny", aber Jugendliche so wie früher sind es nicht mehr, und es geht auch nicht mehr um diese Phänomene. Und Sie haben gerade ja gesagt, dass das alles nicht mehr so einfach ist mit der Arbeitslosigkeit und den eindeutigen Schuld- und Ursachenzuweisungen. Mir ist so bei der Weltpolitik aufgefallen, man kann, glaube ich, inzwischen nicht mal mehr sagen, die Leute am Rand der Gesellschaft, die sogenannte Unterschicht, das Prekariat hat immer die Probleme. Wenn wir jetzt aktuell nach Brasilien gucken oder in die Türkei, und nicht nur da hat man das Gefühl - das ist ja die Mittelschicht, die da sagt, wir sehen keine vernünftige Zukunft, wollen die aber haben. Wäre das für Sie als Fotograf mal interessant zu sagen, ich gucke mir mal die Leute an, die scheinbar keine Probleme haben, in Wirklichkeit aber vielleicht doch?

Zielony: Erst mal finde ich das sehr richtig, was Sie da beobachtet haben, dass ich nicht daran glaube, dass man sagen kann: Hier ist die Mitte, und da ist der Rand. Oder: Hier ist das Zentrum der Stadt und da ist die Peripherie. Das gibt es natürlich, in Marseille ist es relativ klassisch, da gibt es diese ganzen Hochhaussiedlungen drum herum, da wohnen die Einwanderer oder die Kinder der Einwanderer, und da gibt es tatsächlich so eine Form von Ghettoisierung, die vielleicht auch von der Stadt so geplant ist.

Aber wenn man jetzt nach Los Angeles guckt, da gibt es kein Zentrum, und da gibt es auch keinen Rand. Und genau so würde ich sagen, dass es immer schwerer wird zu sagen, wir sind hier, und da sind die anderen, oder ich bin hier im Zentrum von Berlin, und da ist der Rand. Ich glaube, dass überall auf der Welt und gerade in westlichen Ländern diese Bereiche immer schwerer voneinander zu trennen sind. Und das hat natürlich auch viel damit zu tun, dass – ja, in Brasilien sind es jetzt die Kinder der Mittelschicht, die da auf die Straße gehen. Insofern würde mich das interessieren, aber ich würde jetzt gar nicht sagen, das ist jetzt für mich ein neuer Schritt, weil ich diese Trennung gar nicht so sehe.

Kassel: Außerdem – Witzchen zum Schluss – müsste ja wieder ein Zufall passieren, damit Sie zufällig in São Paulo landen.

Zielony: Es gibt nicht nur Zufälle, es gibt natürlich auch Dinge, die mich interessieren, oder wo ich für sensibel bin oder aufmerksam.

Kassel: Reden wir aber nicht über ungelegte Eier, sondern die gelegten, die fotografierten, die man sehen kann, heute Abend in der Berlinischen Galerie in Berlin-Kreuzberg die offizielle Eröffnung der Ausstellung, die öffentlich ist, kann man auch hin. Und ab morgen ist die Ausstellung von Tobias Zielony mit den "Jenny Jenny"-Bildern und auch noch Trona zu sehen, und zwar jeden Tag, außer am Dienstag, da hat die Berlinische Galerie immer zu, täglich von 10 bis 18 Uhr bis insgesamt zum 30. September. Herr Zielony, ich danke Ihnen sehr, dass Sie bei uns waren!

Zielony: Ja, vielen Dank!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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Foto: Light Box, aus der Serie: Jenny Jenny von Fotograf Tobias Zielony
Foto: Light Box, aus der Serie: Jenny Jenny von Fotograf Tobias Zielony© Tobias Zielony