Fotorealismus im Großformat

Von Johannes Halder |
Der amerikanische Künstler Chuck Close zählt international zu den führenden Vertretern einer Malerei, die sich an der sichtbaren Wirklichkeit orientiert. Die Ausstellung "Chuck Close – Erwiderte Blicke, Porträts 1969-2006" im Ludwig Forum für Internationale Kunst in Aachen zeigt jetzt 25 seiner großformatigen Porträts aus allen Schaffensphasen.
Sie heißen Richard, Leslie, John oder Georgia und starren uns mit tellergroßen Augen an. Sie sind nicht besonders schön, und dennoch liefern sie ihr Gesicht mit Haut und Haar einer schamlosen Inspektion aus. Jede Pore, jede Runzel, jede Warze und jeder Pickel offenbart sich vor den Blicken des Betrachters.

Manche der Dargestellten sind berühmt, wie der Komponist Philip Glass oder der Bildhauer Richard Serra. Andere verdanken ihre Prominenz allein dem Umstand, dass sie dem Maler Chuck Close für ein Porträt zur Verfügung standen: Freunde und Kollegen, seine Schwiegereltern, seine Tochter, seine Frau. Close hat sie in seinem New Yorker Studio mit der Kamera quasi erkennungsdienstlich behandelt, frontal und passbildartig. Das Foto hat er dann in monatelanger, mönchischer Arbeit mit Spritzpistole und Pinsel in Malerei übersetzt.

"Ich will, dass es die Leute umhaut", wünschte er sich zu Beginn seiner Karriere von einem fast drei Meter hohen Selbstporträt.

"Damals war mein Motto: Je größer das Gemälde ist, desto länger braucht man, um daran vorbeizugehen. Also kann man es schlecht übersehen. Die Bilder sollten auffallen, und sie sollten so groß sein, dass man sie nicht auf einen Blick erfassen kann. Das Auge sollte gezwungen sein, sich über die Oberfläche zu tasten wie in Gullivers Reisen, wo die Liliputaner langsam über den Riesen krabbeln und sein Gesicht wie eine Landschaft erleben. Die Bilder sollten also sehr groß und aggressiv sein, sie sollten den Betrachter gleichzeitig aber auch ganz nah an sich heranziehen, damit er ein sehr intimes und persönliches Bild sieht."

Fotorealismus im Großformat, das imponiert auch heute noch, fast vierzig Jahre danach. Vor allem, wenn man sieht, wie der Maler sich entwickelt hat. Denn immer, wenn ihm eine Technik allzu glatt von der Hand ging, hat er sich neue Hürden aufgestellt. Und wie er das macht, ein Gesicht aus einem Raster von über hunderttausend gemalten Pigmentpartikeln auf die Leinwand zu zaubern, wie er ein Konterfei zusammenpuzzelt aus einem Mosaik von Myriaden eingefärbter Pappmaché-Schnipsel, oder wie er ein Porträt allein aus farbigen Fingerabdrücken komponiert, so dass es aus einigen Metern Entfernung aussieht wie ein riesiges Foto – das hat auch heute noch den Touch des Unglaublichen.

Und noch etwas ist kaum zu fassen: Chuck Close, der Maler, inzwischen 67 Jahre alt, sitzt im Rollstuhl. Seit 1988 ist er durch eine Krankheit querschnittsgelähmt, die Arme kann er noch beschränkt bewegen, die Finger sind wie schlaffe Lappen. Wenn er Kataloge signiert, was er gerne macht, braucht er beide Hände, um seinen Namen in großer Krakelschrift aufs Papier zu schreiben. Doch Close malt weiter:

"Ich glaube, meine jetzigen Gemälde unterscheiden sich nicht sehr von denen, die ich gemacht hätte, wenn das nicht passiert wäre. Ich muss sie jetzt natürlich anders machen. Ich muss beim Malen die Pinsel mit Klebebändern an den Händen befestigen. An der Oberfläche der Gemälde hat sich dadurch eigentlich nichts geändert, aber ich glaube, die Bilder bedeuten mir mehr. Seit ich gelähmt bin, kann ich vieles nicht mehr tun, was ich gerne getan hatte. Die Bilder sind deshalb wie ein Fest für mich: Dass ich immer noch malen kann, auch wenn es ein bisschen schwieriger ist."

Man hat Chuck Close auch schon vor seiner Lähmung eine geniale Malmaschine genannt, die mechanisch und scheinbar emotionslos wie ein Scanner farbige Felder zu Gesichtern montiert. Mit etwas Zynismus könnte man sogar behaupten, die Lähmung sei ein Glück für seine künstlerische Entwicklung gewesen. Aus dem Fotorealisten ist ein Konzeptkünstler geworden. Er setzt seine Gesichter seitdem gezwungenermaßen aus locker verwackelten, bausteinartigen Farbflecken und abstrakten Farbkringeln zusammen, und diese Malerei ist weitaus faszinierender und lebendiger als der frühere Fotorealismus.

Es sind ja überhaupt, findet er, nicht nur Bilder von Menschen, sondern von Fotografien. Gesichter, die im Bruchteil einer Sekunde das ganze Leben gespeichert haben.

"Ich lasse die Leute für sich selbst stehen. Das heißt, ich versuche nicht, ihr Aussehen zu verändern, sie zum Lachen oder zum Weinen zu bringen oder so etwas. Ich stelle sie sehr neutral dar. Ihre Gesichter sind eine Art Landkarte ihres Lebens. Wenn sie viel gelächelt haben, haben sie Lachfalten. Wenn sie immer finster dreinblickten, sehen sie verkniffen aus – also ich zeige sie, wie sie sind. Auf der anderen Seite male ich auch ein Bild, und ich wähle aus. Aber das Foto entscheidet nicht darüber, was für ein Bild daraus wird und wie ich dabei vorgehe. Ich kenne mein Ziel, aber ich kenne nicht den Weg dorthin."

Mit fast allen von ihm Porträtierten hat der Maler im Nachhinein lange Gespräche geführt: Wie es sich anfühlt, wie man damit umgeht, ein Stück Kunst zu sein, im Museum zu hängen, riesengroß, ausgestellt, bloßgestellt. Was es heißt, seine eigenen Blicke in den Bildern zu erwidern. Die Protokolle kann man nachlesen.

Wohl kein anderer Künstler seiner Generation hat uns den paradoxen Effekt moderner Porträtmalerei so bewusst gemacht wie Chuck Close. Jedes seiner Gesichter ist zwar nackt wie ein entblößter Körper, und doch geben die Porträtierten kaum etwas von sich preis: Sozialer Status, Persönlichkeit – all das ist durch die überrumpelnde Größe der Gesichter verschleiert. Und das ist verblüffend: Mag ein Gesicht auch intimer sein als ein nackter Körper, so heißt das nicht, dass es auch mehr über sich enthüllt.

Service: Die Ausstellung Chuck Close - Erwiderte Blicke, Porträts 1969-2006 ist im Ludwig Forum für Internationale Kunst in Aachen bis zum 2. September 2007 zu sehen. Der Katalog kostet 25 Euro.