Die Ausstellung: "Roger Melis: Die Ostdeutschen - Fotografien aus drei Jahrzehnten DDR" ist vom 12. April bis zum 28. Juli 2019 in der Stiftung Reinbeckhallen Sammlung für Gegenwartskunst in Berlin Schöneweide zu sehen.
Roger Melis' Blick auf Alltag und Menschen
09:55 Minuten
Drei Jahrzente lang hat der Fotograf Roger Melis den Alltag in der DDR facettenreich porträtiert. Melis habe das pure Leben so abbilden wollen, wie es ist, sagt Stiefsohn Mathias Bertram. Er hat die aktuelle große Werkschau in Berlin kuratiert.
Max Oppel: Was für Bilder sind das in der Ausstellung? Kann man da eigentlich noch mal einen anderen Roger Melis kennenlernen, entdecken?
Mathias Bertram: Ich würde sagen, es ist kein grundsätzlich anderer Roger Melis, aber es sind neue, unbekannte Bilder von ihm. Die Ausstellung umfasst 21 Kapitel, davon sind 12 Reportagen und das andere sind Porträt-Serien. Und das Buch "In einem stillen Land" hat Roger Melis ja noch selbst zusammengestellt, und er hatte den Auftrag vom Verleger, ein möglichst facettenreiches Bild der DDR zu entwerfen. Das heißt, er hat aus bestimmten Reportagen nur ein oder zwei Bilder herausgenommen, die für bestimmte Themen und Aspekte standen. Und jetzt im Archiv habe ich also erstens diese Serien mal komplett gesehen, und ich habe ganz neue Serien entdeckt.
Oppel: Was sind das für Serien?
Bertram: Also für mich die größte Überraschung war eine Reportage-Serie, die er am 8. Mai 1965 über eine gemeinsame Truppenparade der Roten Armee und der Nationalen Volksarmee auf dem Schlossplatz in Berlin fotografiert hat.
Oppel: Tag der Befreiung, 8. Mai.
Bertram: Am Tag der Befreiung. Und es ist schon das komplette Gegenbild zur offiziellen Berichterstattung in dieser Zeit. Also er hat das im Eigenauftrag gemacht, das ist auch so wohl nie publiziert worden. Ich könnte mir auch nicht vorstellen, wo. Er hat am Rande dieser Parade fotografiert, Gruppen von Offizieren, die mit ihren preußischen Uniformen fast noch aussahen wie Wehrmachtsoffiziere und das bei einem solchen Anlass, wenn die Rote Armee mit Panzern durch die Stadt zieht. Oder Mitglieder der Kampfgruppen, die gelangweilt am Straßenrand sitzen und Karten spielen. Oder Soldaten, die die Situation ausnutzen, dass sie in der Innenstadt sind, um sich mit ihren Freundinnen zu treffen. Es gibt in der Ausstellung ein Bild, wo eine ganze Reihe von Bänken am Spreeufer zu sehen sind und auf jeder sitzt immer ein Soldat mit seiner Freundin. Das ist eben zu dieser Zeit noch ganz ungewöhnlich.
"Es ging ihm vor allen Dingen darum, realistische Fotos zu machen"
Oppel: Würden Sie sagen, das ist oppositionell im Grunde gedacht von ihm auch schon?
Bertram: Das mit dem Oppositionellen ist schwierig. Es ging ihm vor allen Dingen darum, realistische Fotos zu machen. In der DDR geht die Schere in den 50er-Jahren auseinander zwischen Realität und dem Bild, das die Medienwelt entwirft. Die Partei möchte, dass das Leben aussieht, wie es sein soll in den Bildern, und manche Fotografen wollen das pure Leben so abbilden, wie es ist. Das entwickelt sich in den späten 1950er-Jahren mit Arno Fischer oder mit Evelyn Richter in Leipzig, und Roger Melis stößt da ganz früh mit dazu. Insofern würde ich sagen, er gehört zu den Mitbegründern der kritischen Fotografie in der DDR. Das ist sicherlich auch oppositionell, aber man darf natürlich nicht vergessen: Das waren alles auch Sozialisten, die wollten einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz.
Oppel: Aber eben nicht Parteilinie.
Bertram: Aber eben nicht die Parteilinie. Er hat dann früh in den 1960er-Jahren, als junger Mann von 23 oder 24 Jahren, den Liedermacher Wolf Biermann kennengelernt und ist in dessen Kreis hineingeraten. Er hat das eben alles aus dieser Perspektive gesehen - für den Sozialismus, aber nicht für diesen, so wie er war. Und 1968 war natürlich dann die große Enttäuschung, und dann folgte eine auf die andere.
Oppel: Und er war vor allen Dingen auch wirklich ein Handwerker, er war eben weniger politisch vordringlich, also zumindest von dem, was ich über ihn gehört habe oder von ihm selber auch gehört habe. Er war einfach wahnsinnig interessiert daran, wirklich gute Fotos zu machen, und er hat dafür auch viel investiert, wie er selber mal gesagt hat.
Roger Melis: Ich nehme die Leute ernst und ich nehme natürlich einen Arbeiter oder einen Schornsteinfeger mitnichten weniger ernst als einen jungen Lyriker oder einen älteren Lyriker. Ich hatte grundsätzlich die Auffassung: Sieh zu, erkunde es, gehe in die Situation rein, dann kriegst du auch deine Bilder! Ich habe seltenes Handwerk fotografiert und bin morgens um sieben Uhr, weil mir wurde gesagt, der fängt um sieben an, zum Seifensieder gekommen. Ich habe ihn auch schon beim ersten Arbeitsgang getroffen und sofort angefangen, loszufotografieren. Dann ging er mittagessen, kam zurück und sagte, sagen Sie mal, wie lange wollen Sie denn hier eigentlich noch? Und da sage ich, na ja, also wann ist denn Ihre Seife fertig? Na, um 17 Uhr. Na, dann wissen Sie, wann ich gehe. Und da fühlen sich die Leute ernstgenommen!
Interesse an Gesichtern
Oppel: Das finde ich wirklich sehr spannend, dass er da so viel eben auch Zeit und Mühe investiert hat. Wie hat er sich diese Arbeitsweise angeeignet, was hat ihn angetrieben?
Bertram: Also ich habe kürzlich mit einer Freundin von ihm gesprochen, die ihn schon von früher Jugend her kennt, und sie sagte, er ist schon immer mit der Kamera herumgelaufen und hat das fotografiert, was ihn interessierte. Und was ihn interessierte, waren eigentlich immer Gesichter. Er hat sich immer für Menschen interessiert, und er hat sich dafür interessiert, was die Leute machen. Er hatte also ein sehr großes Talent, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, sie zu befragen über ihre Arbeit, da er auch selbst ein Bastler und Handwerker war, er hat sich in der Uckermark ein ganzes Haus selbst gebaut.
Oppel: Kannten Sie das auch?
Bertram: Natürlich.
Oppel: Sie waren selbst dort mit ihm, haben viel Zeit verbracht?
Bertram: Ja, ja, natürlich, es war ja unser Familiendomizil. Also wir hatten da ein kleines Neubauernhaus in der Uckermark, und er hat sich da ein Arbeitshaus daneben errichtet. Das heißt also, wenn er auf einen Maurer traf oder einen Tischler oder weiß ich was, dann hat der mit dem gefachsimpelt, und genauso hat der das gemacht, wenn er seine Künstlerporträts gemacht hat. Er war sehr belesen und er war eben mit vielen Autoren auch befreundet, hat ja mit ihnen gemeinsam auch Buchprojekte gemacht, also Fotos geliefert für literarische Bücher. Und insofern …, also er hatte immer sehr engen Kontakt auch zu den Leuten, die er fotografiert hat.
Oppel: Und wie ist das bei Ihnen, weil er ja auch mal gesagt hat, dass es für ihn nicht einfach ist, wenn Gefühle sozusagen mit im Spiel sind, also wenn er Gefühle gegenüber denen hat, die er fotografiert, dass er dann sich schwertut mit den Porträts? Wie war das mit Ihnen zum Beispiel und Ihrer Familie?
"Er hatte immer sehr engen Kontakt zu den Leuten, die er fotografiert hat"
Bertram: Na ja, ganz unterschiedlich. Also von mir gibt es eigentlich nur ein Porträt, da war ich so 18, 19 Jahre alt, was er sozusagen in seine Sammlung aufgenommen hat. Ich kann im Archiv ganz gut erkennen, welche Fotos ihm wichtig waren und welche er seinem Werk zugerechnet hat oder die, die nur in Kontakten beziehungsweise Filmen überliefert sind. Aber als er meine Mutter kennenlernte 1967, da gibt es also nicht nur aus diesen ersten Jahren, sondern also fast über 20, 25 Jahre hinreißend schöne Porträts. Also sie hat er immer leidenschaftlich gern fotografiert.
Oppel: Was würden Sie sagen, Herr Bertram, erzählen uns diese Bilder heute über den untergegangenen Staat DDR beziehungsweise eben die Menschen, die er ja porträtiert hat? Was können sie uns heute erzählen beziehungsweise erklären?
Bertram: Also die Ausstellung fällt ja jetzt in eine Zeit, in der viel über die Ostdeutschen nachgedacht wird und ihnen gern eine Identität zugeschrieben wird. Und die Ausstellung zeigt eigentlich genau das Gegenteil: Es zeigt eine äußerst vielfältige, differenzierte, ja, heute würde man sagen, diverse Gesellschaft, und zwar einmal natürlich eine sozial vielschichtige Gesellschaft – und das führt hier eben dazu, also dass man die Landarbeiter, die Forstarbeiter, die Fabrikarbeiter genauso sieht wie den Parteisekretär, den Betriebsdirektor. Und natürlich ist das auch im politischen Spektrum eine vielfältige Gesellschaft, die sich nicht auf einen Nenner bringen lässt. Das kann man sehr schön an diesen Porträt-Serien sehen.
Starkes Selbstbewusstsein vor der Kamera
Und man sieht eben auch die unterschiedlichen Befindlichkeiten, also aufmüpfige Jugendliche, resignierte Leute. Aber auffällig zum Beispiel ist eben auch bei den ganzen Fotos aus der Arbeitswelt, insbesondere aus der industriellen Arbeitswelt, dass die Leute mit einem ganz starken Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl in die Kamera gucken. Und also ich glaube, was es heute noch an Industriebetrieben gibt, das wird man so nicht finden, weil das ist …
Und wenn man sich eingerichtet hat in der DDR, wenn man nicht aufmüpfig war und sich damit abgefunden hat, dass man da eingesperrt ist, dann hatte man aber einen sicheren Lebensgrund, also und insbesondere die Arbeiter in der Produktion, denen konnte überhaupt niemand was. Wenn ein Betriebsdirektor einen Fehler gemacht hat oder ein Parteisekretär irgendwie von der Linie abgewichen ist, dann konnte man die bestrafen und in die Produktion stecken. Aber die Leute, die in der Produktion waren, die waren schon da, die konnte man nicht bestrafen. Und das strahlen die auch aus.
Anderer Arbeitsstil nach der Wende
Oppel: Das ist natürlich eben die Welt, die wirklich untergegangen ist mit dem Ende der DDR, weil einfach Produktion vielfach eingestellt wurde, weil die Leute ihre Jobs verloren haben. Roger Melis hat ja die Wende erlebt, hat ja noch eine ganze Weile auch gelebt, bis 2009. Das heißt, er hat auch diesen Untergang erlebt. Hat er dazu auch selber Stellung bezogen, hat er danach auch diesen Bruch fotografiert, eingefangen, oder hat ihn das dann nicht mehr interessiert?
Bertram: Ich weiß natürlich grundsätzlich, wie seine Haltung dazu war. Er hat das einerseits als Befreiung erlebt, aber er hat mit der Wende natürlich auch viele Auftraggeber verloren, und sein Arbeitsstil hat sich danach durchaus geändert. Von der Arbeit als Chronist der DDR musste er nie leben. Er hat erst als wissenschaftlicher Arbeiter in der Charité gearbeitet und dann überwiegend von der Modefotografie gelebt. Bei diesen Aufträgen, die er für die "Wochenpost" und andere Zeitungen gemacht hat – das hat er nicht gemacht, um Geld zu verdienen. Das heißt, dadurch war er auch nicht abhängig davon, was die Leute erwarten. Das ist das eine.
Das andere ist, dass das Thema der nächsten Ausstellung vielleicht in zehn Jahren sein wird, weil dieser Teil des Archivs, der ist noch gar nicht aufgearbeitet. Da werde ich jetzt rangehen, diese vielen Reportagen, die er nach 1989 gemacht hat und die Serien für die "Zeit" und für die "Süddeutsche" und andere Zeitungen, mir das noch mal genauer anzugucken, und vielleicht kommt da auch nochmal ein Buch raus.
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