Fotos aus dem realen Sozialismus

Von Ulrike Gondorf |
Der Fotograf Roger Melis ist einer der künstlerisch herausragenden Vertreter realistischer Fotografie in Deutschland und als Chronist des Alltagslebens in der DDR bekannt. Jetzt ist eine posthume Retrospektive mit etwa 150 Arbeiten aus mehr als drei Jahrzehnten im Suermondt-Ludwig-Museum zu sehen.
"Die Beweggründe sind eindeutig: einen Fotografen zu zeigen von hoher ästhetischer Qualität, unabhängig davon, ob er ein Ostdeutscher oder ein Westdeutscher war. Natürlich sind seine Themen und Motive nicht denkbar ohne die Unterschiede, aber wie er sie umsetzt, wie er Menschen sieht, ist ne fotografische Meisterleistung, die unabhängig vom Ort ist."

Kuratorin Sylvia Böhmer räumt erst einmal auf mit der Annahme, dass die Ausstellung des Fotografen Roger Melis als Beitrag zum 20jährigen Jubiläum des Mauerfalls gedacht sein könnte. Aber das erübrigt sich beinah mit dem ersten Blick auf die Bilder, die sofort für sich sprechen: atmosphärisch dicht, perfekt komponiert in Perspektiven, Linienführungen und Lichtwirkungen, konzentriert in ihrem strengem Schwarz-weiß.

"Die Gestaltungsprinzipien beherrscht er meisterhaft, das Hell-dunkel, die graphischen Differenzen, den Bildausschnitt. Nichts an seinen Arbeiten ist zufällig, aber auch nichts manipuliert."

Bekannte Gesichter ziehen den Besucher an. Wolf Biermann in lässiger Pose vor dem gusseisernen Adler auf der Berliner Weidendammbrücke, wie er sich selbst als Preußischen Ikarus beschrieben hat – die Schauspielerin und Brecht-Witwe Helene Weigel, die sich über eine Schulter dem Betrachter zuwendet, nicht in Mutter Courage-Pose, sondern elegant und feinsinnig lächelnd – der Autor Heiner Müller mit seiner schwarz gerandeten Brille, vor einem dicht gefüllten Regal in einem Buch blätternd. Christa Wolf, Stefan Heym, Anna Seghers, Thomas Brasch, Katharina Thalbach – die Reihe ließe sich noch lange fortsetzen. Das Bild der Schriftsteller und Theaterleute, die in den 70er- und 80er-Jahren im Osten lebten und die ganze deutsche Kulturszene entscheidend mitbestimmten, hat der Fotograf Roger Melis geprägt. Kuratorin Sylvia Böhmer hat den Portraits viel Raum gegeben in der Ausstellung.

"Die Darstellung von Menschen ist sein großes Thema, er ist ja berühmt geworden durch seine Künstlerportraits. Die sind zu Ikonen de Porträtfotografie geworden, aber darüber hinaus sieht er mit der gleichen Geduld und Anteilnahme die Dorfbewohner des Dorfes, in dem er lange gelebt hat, oder die Menschen auf den Straßen in Berlin, die auf der Kirmes stehen, die Arbeiter, der Handwerker, er bringt unabhängig davon, wie berühmt oder unbekannt der Dargestellte war, die Menschen mit großem Respekt ins Bild."

Der junge Mann, der eine Ladung Ziegel auf den Schultern trägt, die Landarbeiterin, die – schwer auf eine Harke gestützt – auf einem abgeernteten Feld steht; das alte Ehepaar im Sonntagsstaat bei einem Spaziergang - die Museumswärterin, die gedankenverloren auf einem Stuhl sitzt - ein kleiner Junge mit einem Indianer-Kopfschmuck. Zufallsbegegnungen, anonyme Mitmenschen, die der Fotograf Melis ebenso individuell interessant, raumgreifend, sorgfältig ausgewogen und mit einer rätselhaften Aura ins Bild stellt wie seine berühmten Zeitgenossen.

Aber nicht nur Menschen werden auf diesen Fotos lebendig. Der Rundgang durch die Aachener Ausstellung ist zugleich eine Annäherung an eine Wirklichkeit, die hier im äußersten Westen der Republik sehr fremd und entfernt scheint. Roger Melis hat den Alltag in der DDR festgehalten, in Ansichten aus einem stillen Land, wie ein Fotoband von ihm betitelt ist. Nicht nur die Stille scheint man auf diesen Bildern der leeren Straßen und Plätze, der unter tiefem Horizont sich dehnenden Landschaften zu hören – auch die Zeit scheint still zu stehen.

"Innerhalb dieser 30 Jahre ist es so, dass es keine Rolle spielt, ob eine Straßenszene von 1974 oder 1963 ist. (...) Besonders seine Darstellungen aus dem Handwerk, die für uns im Westen archaisch anmuten, aber die tatsächlich aus den 1980er-Jahren stammen und zeigen, dass dort bestimmte Traditionen viel länger überlebt haben und dass in bestimmten Arbeitsdarstellungen die Zeit stiller wirkt."

Direkt neben August Sanders Aufnahmen aus den 20er-Jahren könnte man den Schuster, den Tischler, den Kupferschmied in ihren alten Werkstätten stellen, auch Fachwerkgassen, Kopfsteinpflaster, Hinterhöfe versetzen einen in eine versunkene Welt.

In der fortschrittsoptimistischen DDR war dieser Realismus nicht gern gesehen, mit dem Etikett "Müllkastenfotografie" wurden diese Bilder diffamiert. Wegen seiner Zusammenarbeit mit westlichen Medien erhielt der Fotograf von DDR-Publikationen seit Anfang der 80er-Jahre keine Aufträge mehr. Von Stagnation, Rückzug aus dem öffentlichen Raum, aber auch von Selbstbewusstsein in der Arbeit, von kleinen subversiven Gesten im Alltag erzählen seine Bilder.

Aufs Wort möchte man dem Schriftsteller Christoph Hein glauben, der in jedem Foto von Melis eine Shortstory vermutet hat – oder vielleicht sogar mehrere, je nachdem, mit welchen Augen man sie liest. Je ferner uns die DDR rücken wird, umso bedeutender wird die in diesen Bildern aufgehobene Wirklichkeit werden. Einer anderen hat Roger Melis, der bei der Wende erst knapp 50 Jahre alt war, sich übrigens nicht mehr zugewandt. Die Bilder von Montagsdemonstrationen und Maueröffnung sind nicht nur die letzten der Ausstellung. Seit den 90er-Jahren hat der Fotograf sein Werk als abgeschlossen angesehen und ausschließlich unterrichtet. Da er sich auch vom Kulturbetrieb eher fern gehalten hat, kann Aachen jetzt die längst überfällige erste Retrospektive zeigen.

"Er war aber nicht von seiner Person her jemand, der sich vermarkten wollte, und das ist sicher einer der Gründe, warum er bisher so noch keine große Ausstellung erlebt hat, jetzt haben wir die Freude, dass unsere Ausstellung mit großer Wahrscheinlichkeit in seiner Heimatstadt Berlin zu sehen sein wird anschließend."

Service:
Roger Melis - Fotografien 1965 bis 1989
14.11. bis 7.2.2010
Suermondt-Ludwig-Museum, Aachen