Fragen, bis die gewünschte Antwort gegeben wird
Es habe in der Vergangenheit immer wieder Versuche gegeben, die Fatwa-Ratgebung zu vereinheitlichen, sagt der Islamwissenschaftler Jens Kutscher. Der Islam sei aber keine monolithische Religion und das mache es schwierig, eine Richtung festzulegen.
Anne Françoise Weber: In Berlin geht heute der 18. Kongress der Arbeitsgemeinschaft Vorderer Orient zu Ende. Islamwissenschaftler, Politologen, Soziologen und Wissenschaftler anderer Disziplinen blicken hier unter anderem auf die großen politischen Umwälzungen im arabischen Raum. Aber es geht auch um den Islam. Und um ihn zu erforschen, müssen Wissenschaftler schön länger nicht mehr in den Vorderen Orient reisen.
Rund vier Millionen Muslime leben in Deutschland, schätzt das Bundesinnenministerium. Für sie stellt sich die Frage nach der Organisation ihrer Religion als Minderheit, ohne den etablierten Status der Körperschaft öffentlichen Rechts, den größere und kleinere Kirchen und Religionsgemeinschaften in Deutschland haben. Mit der Ausbildung von Imamen, die zurzeit in deutschen Universitäten eingerichtet wird, klären sich so einige Fragen, aber auch hier wird auch immer wieder deutlich, dass die muslimische Religion eben nicht nach dem Muster einer Kirche organisiert ist.
Ich habe vor der Sendung mit Jens Kutscher gesprochen. Er ist Islamwissenschaftler und Mitarbeiter am Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa und hat sich beim Kongress zusammen mit Kollegen mit der Frage nach islamischen Autoritäten in Minderheitenkontexten befasst. Pfarrer werden ordiniert, Priester geweiht, aber - das habe ich Jens Kutscher zunächst gefragt - wie wird man eigentlich zu einer islamischen Autorität, also zum Imam oder gar zum Mufti, der religiöse Gutachten erstellen darf?
Jens Kutscher: Das ist relativ einfach, letztlich kann jeder ein Mufti werden, der eine Fatwa erstellt, also ein islamisches Rechtsgutachten. Der muss dafür in dem Sinne gar nicht eine eigene Ausbildung absolvieren, sondern zunächst mal, sobald er eine Fatwa erstellt hat, ist er ein Mufti. Natürlich machen das in der Regel nur solche Gelehrte, die auch eine entsprechende Vorausbildung genossen haben, die bei einem Gelehrten in die Lehre gegangen sind, die ein Studium absolviert haben der Rechtsquellen, sprachliches Studium, also den Koran auf arabisch lesen können, und entsprechend vorqualifiziert sind.
Weber: Und ein Imam muss kein Mufti sein?
Kutscher: Ein Imam muss kein Mufti sein, in der Realität sieht es allerdings so aus, dass viele Imame in Deutschland wohl solche - ich sage mal - Ratgeber-Aufgaben oder Funktionen wahrnehmen. Das ist oft in lokalen Moscheen so, wenn es um lokale Belange auch geht, wenn die Gläubigen einer Moscheegemeinde sich an den Imam wenden in Fragen der Rechtleitung, ist aber nicht zwangsläufig so, dass ein Imam automatisch auch ein Mufti ist.
Umgedreht kann ein Imam auch sich immer wieder an die übergeordnete Autorität wenden. Es ist ja so, dass Imame von der Diyanet, also vom gewissermaßen türkischen Religionsministerium entsandt werden und sich auch an die Diyanet wieder wenden können, wenn sie besondere Fragen haben, die sie nicht selbst beantworten können vor Ort.
Weber: Das heißt, in der Diyanet, also in der Türkei, in der Religionsbehörde der Türkei gibt es einen Mufti, der dann zuständig ist für die Fragen der Imame, die zu dieser Behörde gehören?
Kutscher: Es gibt den türkischen Großmufti, wobei der nicht immer letzter Ansprechpartner sein muss, es gibt also eine richtige Behörde, in der mehrere Muftis sitzen, die zu den Fragen Stellung nehmen können.
Weber: Wie unterscheiden sich denn diese Fatwas von normalen Ratschlägen, die die Muftis als Seelsorger oder als religiöse Autoritäten Gläubigen geben? Gibt es da eine bestimmte Form, die die Fatwa ausmacht?
Kutscher: Also es gibt tatsächlich bestimmte Formen, die Fatwas ausmachen, und zwar ist es immer eine Frage, die gestellt wird von einem Muslim oder auch Nicht-Muslime, die können auch Fragen stellen, und eine Antwort, die in der Regel auch mit einer gewissen religiösen Einleitungsformel begleitet wird, und auch einer religiösen Schlussformel, und dazwischen steckt die tatsächliche Antwort auf die eigentliche Frage. Bei einem Ratschlag ist es ja nicht notwendigerweise so, wobei die Unterschiede oder die Übergänge hier auch fließend sind.
Weber: Sie haben sich ganz besonders mit Online-Fatwas beschäftigt, also Gutachten, die im Internet gegeben werden auf mehr oder weniger anonyme Anfragen hin. Was sind denn da so die Themen, die vorkommen?
Kutscher: Im Internet ist die Spannbreite sehr groß, es gibt Themen, die sich beschäftigen mit Familienfragen, Ehefragen, bis hin zu sehr politischen Fragen, also zum Beispiel den Fragen: Darf ich als Muslim in Deutschland oder in einer nicht-muslimischen Mehrheitsgesellschaft an Wahlen teilnehmen? Darf ich in den Staatsdienst eintreten? Darf ich überhaupt die Staatsbürgerschaft dieses Landes annehmen? Und dazwischen ist das Spektrum wie gesagt sehr groß, wobei der überwiegende Teil der Fatwas tatsächlich Fragen zu Ehe, Familie, Kinder, Frauen oder auch zu religiösen Riten sind, also zum richtigen Gebet, zur Wallfahrt nach Mekka und so weiter.
Weber: Sie haben für Ihre Forschungen 24.000 Fatwas gesammelt, die auf großen islamischen Websites erteilt wurden. Das ist ja eine unglaubliche Zahl, die da in 11 Jahren zusammengekommen ist. Wiederholt sich das nicht ständig, sind das nicht im Grunde immer die gleichen zehn Grundfragen?
Kutscher: Es gibt diese Themenbereiche, in denen sich das immer wieder bewegt. Mich persönlich interessieren ja insbesondere Fragen mit im weitesten Sinne politischem Inhalt, also zu politischen Einstellungen und Verhaltensweisen von Muslimen in nicht-muslimischen Mehrheitsgesellschaften, und auch da kann man bestimmte Themenkomplexe unterscheiden. Aber natürlich ist es so, es wiederholen sich Fragen mitunter auf derselben Website beim selben Mufti im Verlauf der Jahre, und zum anderen gleichen sich die Fragen natürlich auch auf verschiedenen Websites mitunter, und da ist es natürlich interessant zu sehen, dass unterschiedliche Muftis unterschiedliche Antworten auf die gleiche Frage geben können.
Weber: Denn das ist der Witz an den Fatwas: Das sind eben Gutachten, und es gibt da nicht die eine allgemein gültige Antwort, wie man das so ein bisschen bei der Religion erwarten würde, sondern es gibt wirklich das eine und sein Gegenteil eigentlich. Da wird sogar von Fatwa-Chaos gesprochen bisweilen. Können Sie uns so einen Fall für ein Chaos schildern?
Kutscher: Vor einigen Jahren gab es mal den Fall, dass in Ägypten ein Mufti gesagt hat, dass, wenn Männer und Frauen, die nicht miteinander verwandt sind, aber trotzdem im gleichen Büro arbeiten sollen und dürfen, das möglich ist, wenn die Frau den Mann stillt, ohne dass die beiden miteinander verwandt wären, aber hinterher wären sie eben symbolisch miteinander verwandt, weil der Mann dann ein Stillkind der Frau wäre. Das hat zu einem großen Aufschrei geführt in der Bevölkerung, es gab dann entsprechend auch Fatwas, die das Gegenteil behauptet haben, und das ist letztens mit Fatwa-Chaos gemeint, dass hier offenbar der Religion keinen Gefallen getan wird, weil in der Öffentlichkeit das Bild entsteht, dass der Islam unzuverlässig sei oder dass nicht die Gültigkeit besteht für die jeweilige Regel.
Weber: Und wie entscheiden Muslime denn, welchen Sachverständigen, welchen Mufti sie jetzt für sich auswählen? Oder ist das vielleicht auch gar nicht personenabhängig, sondern je nach Fatwa? Also, dann gefällt einmal die Fatwa von Mufti A besser und das andere Mal bei der anderen Frage die Fatwa von Mufti B?
Kutscher: Prinzipiell ist es möglich, dass die Muslime, die Fragesteller, sich an unterschiedliche Muftis wenden. Es gibt auch den Begriff Fatwa-Shopping, dass tatsächlich ein Mustafti, also ein Fragesteller, immer zu einem anderen Mufti geht, bis er die Antwort bekommt, die ihm passt, denn das ist ja prinzipiell möglich, dass es unterschiedliche Antworten zur gleichen Frage gibt.
Und das Spannende ist ja nun tatsächlich, dass der Fragesteller bei einem Mufti in der Regel bleibt. Das ist plausibel anzunehmen, dass die sich dieser Autorität unterwerfen, und das geschieht aus verschiedenen Gründen. Es ist anzunehmen natürlich, dass gewisse persönliche Eigenschaften des Muftis da eine Rolle spielen, dass die Ausbildung, die Vita des Muftis eine Rolle spielt, und die Autorität, die andere in der eigenen Gruppe dem Mufti beimessen, ist auch entscheidend.
Weber: Ist aber da nicht vielleicht sogar im Internet die Chance für mehr Individualität? Also weil ich eben mich nicht mehr an den Mufti wende, der jetzt der Mufti meines Dorfes ist, oder meines Landes, sondern an den, den ich im Internet auf einer vertrauenswürdigen Website finde, dass ich das dann mehr für mich selbst entscheide, als mich da einen Kollektiv einzufügen?
Kutscher: Teil des Fatwa-Chaos ist ja auch, dass gerade durch das Internet eine Vielzahl an Fatwa-Diensten entstanden sind, und Muslime sich nun an entsprechend viele Muftis auch wenden können, bei denen nicht immer unbedingt sicher ist, dass sie tatsächlich die notwendige Ausbildung und Qualifikation haben, um Fatwas zu erstellen.
Das hat auch dazu geführt - und auch das ist Teil des Fatwa-Chaos -, dass es zunehmend extremistische Websites gibt beziehungsweise Fatwas mit extremistischem Inhalt. Nicht zuletzt die sogenannten Kofferbomber in Köln 2006 zur Weltmeisterschaft haben im Internet eine Fatwa gefunden, die ihnen erlaubt hat, sogenannte Ungläubige, also Nicht-Muslime zu ermorden mittels dieses Bombenanschlags, der ja zum Glück gescheitert ist.
Weber: Also vielleicht ein bisschen vergleichbar mit Nachschlagewerken. Früher wusste man, man kann dem Brockhaus oder dem Meyers Konversationslexikon trauen, und heute guckt man im Internet und findet alles mögliche, wovon die Hälfte auch wirklich sehr weit von der Wahrheit entfernt sein kann.
Kutscher: So ist es.
Weber: Sind denn diese Online-Fatwas ein doch relativ marginales Phänomen, denn es gibt ja nun doch große Teile der muslimischen wie nicht-muslimischen Bevölkerung, die sich nicht hauptsächlich im Internet bewegen, oder bekommt das doch eine ganz große Relevanz, weil da eben auch wichtige Muftis wie Al-Qaradawi ein ganz großes Publikum bekommen?
Kutscher: Beides ist, denke ich, richtig. In einem zunehmenden Maße haben Online-Fatwas Bedeutung gewonnen in den letzten 15, 20 Jahren, seit es eben das Internet gibt, relativ früh waren Muftis schon online. Zu nennen sind neben Al Qaradawi eben auch ein saudi-arabischer Mufti, Muhammad Salih al-Munajjid, der eine ganz andere Ausprägung des Islams hier zeigt und präsentiert.
Es hat aber natürlich auch nach wie vor in der Islamischen Welt sehr viele Muftis vor Ort. Man kann also direkt zum Beispiel sich an die ägyptische Fatwa-Behörde wenden, per Telefon, per Post oder auch übers Internet, oder man geht direkt hin ins Büro und fragt einen Mufti. Also die Möglichkeit besteht tatsächlich auch, und die wird natürlich auch vor Ort wesentlich stärker genutzt innerhalb eines islamischen Kontextes, eines muslimischen Mehrheitskontexts.
Spannend sind Online-Fatwas eben gerade für muslimische Minderheitskontexte in der Europäischen Union und in Nordamerika und anderen Staaten, in denen eine muslimische Minderheit lebt.
Weber: Das wäre meine Frage gewesen: Ist denn Minderheit und Mehrheit eigentlich noch so ein wirklich wichtiges Konzept in Zeiten des Satellitenfernsehens und des Internets, wo eben viel mehr doch individuell erreichbar ist und nicht mehr unbedingt davon abhängt, wie meine Mitmenschen, ob die der gleichen Gruppe angehören oder nicht?
Kutscher: Man kann davon ausgehen, dass Muslime nach wie vor Orientierung suchen, religiös-rechtliche Orientierung eben auch in Situationen, in denen sie in einem mehrheitlich nicht muslimischen Umfeld leben, und dafür schalten sie natürlich zum einen den Fernseher ein, schauen sich solche Satellitensendungen an, wo auch prominente Muftis vertreten sind, die dann über Call-in-Sendungen oder Liveschaltungen Telefonanrufe entgegennehmen und Fatwas mündlich erteilen ...
Weber: Zum Beispiel Al-Qaradawi auf Al Dschasira.
Kutscher: ... zum Beispiel Al-Qaradawi auf Al Dschasira, aber auch übers Internet selbstverständlich die Möglichkeit besteht, dass die Muslime sich auf einer Website ihres Vertrauens gewissermaßen erkundigen oder Rat suchen zu einer bestimmten Frage aus ihrem Umfeld, aus ihrem Leben.
Weber: Ist diese Internetsuche oder diese Internet-Fatwas, sind die daraus entstanden, dass es eben mehr Muslime in Minderheitenkontexten gibt, und trägt sich das jetzt zurück in die muslimischen Mehrheitsgesellschaften, oder wo ist das Phänomen zuerst entstanden? Kann man das sagen?
Kutscher: Die ersten Websites, die entstanden sind zu Online-Fatwa-Ratgebung, kamen schon aus einem arabisch-islamischen Umfeld. Also wie gesagt, al-Munajjid in Saudi-Arabien war einer der ersten, eben so Al-Qaradawi, der ägyptisch geboren ist, aber mittlerweile in Katar lebt.
Die allerdings damals - ganz interessant - ihre Websites zuerst auf Englisch erstellt hatten, was natürlich zum einen die Lingua Franca des Internets war, zum anderen einfach auch die technischen Voraussetzungen damals noch nicht gegeben waren, um arabischsprachige Fatwas zu erstellen. Und somit haben sie sich zwangsläufig an Muslime gewandt, die des englischen mächtig sind, damit also in erster Linie beispielsweise in den USA, in Kanada, oder in Großbritannien lebten.
Weber: Gibt es denn Versuche, das irgendwie zu vereinheitlichen, also dieser Pluralisierung, die das Internet bringt, einen Riegel vorzuschieben?
Kutscher: Unabhängig vom Internet gab es in der Vergangenheit in den letzten Jahren immer wieder auch Versuche und Initiativen, die Fatwa-Ratgebung zu vereinheitlichen, das Problem hierbei liegt wohl darin, dass es in der islamischen Welt nicht vergleichbar dem Papst eine übergeordnete Institution gibt, die sagen könnte und festlegen könnte: Ab sofort ist der Islam A oder B.
Der Islam ist keine monolithische Religion und entsprechend gibt es sehr viele verschiedene Ausprägungen, und die Möglichkeiten zur Vereinheitlichung sind in der Vergangenheit eher mit sehr bescheidenem Erfolg gesegnet gewesen.
Weber: Vielen Dank, Jens Kutscher! Islamwissenschaftler und Mitarbeiter am Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa. Danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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Neue Rechtsgelehrte braucht das Land
Wege in den Terror - Den Ursachen für die Radikalisierung junger Muslime
Rund vier Millionen Muslime leben in Deutschland, schätzt das Bundesinnenministerium. Für sie stellt sich die Frage nach der Organisation ihrer Religion als Minderheit, ohne den etablierten Status der Körperschaft öffentlichen Rechts, den größere und kleinere Kirchen und Religionsgemeinschaften in Deutschland haben. Mit der Ausbildung von Imamen, die zurzeit in deutschen Universitäten eingerichtet wird, klären sich so einige Fragen, aber auch hier wird auch immer wieder deutlich, dass die muslimische Religion eben nicht nach dem Muster einer Kirche organisiert ist.
Ich habe vor der Sendung mit Jens Kutscher gesprochen. Er ist Islamwissenschaftler und Mitarbeiter am Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa und hat sich beim Kongress zusammen mit Kollegen mit der Frage nach islamischen Autoritäten in Minderheitenkontexten befasst. Pfarrer werden ordiniert, Priester geweiht, aber - das habe ich Jens Kutscher zunächst gefragt - wie wird man eigentlich zu einer islamischen Autorität, also zum Imam oder gar zum Mufti, der religiöse Gutachten erstellen darf?
Jens Kutscher: Das ist relativ einfach, letztlich kann jeder ein Mufti werden, der eine Fatwa erstellt, also ein islamisches Rechtsgutachten. Der muss dafür in dem Sinne gar nicht eine eigene Ausbildung absolvieren, sondern zunächst mal, sobald er eine Fatwa erstellt hat, ist er ein Mufti. Natürlich machen das in der Regel nur solche Gelehrte, die auch eine entsprechende Vorausbildung genossen haben, die bei einem Gelehrten in die Lehre gegangen sind, die ein Studium absolviert haben der Rechtsquellen, sprachliches Studium, also den Koran auf arabisch lesen können, und entsprechend vorqualifiziert sind.
Weber: Und ein Imam muss kein Mufti sein?
Kutscher: Ein Imam muss kein Mufti sein, in der Realität sieht es allerdings so aus, dass viele Imame in Deutschland wohl solche - ich sage mal - Ratgeber-Aufgaben oder Funktionen wahrnehmen. Das ist oft in lokalen Moscheen so, wenn es um lokale Belange auch geht, wenn die Gläubigen einer Moscheegemeinde sich an den Imam wenden in Fragen der Rechtleitung, ist aber nicht zwangsläufig so, dass ein Imam automatisch auch ein Mufti ist.
Umgedreht kann ein Imam auch sich immer wieder an die übergeordnete Autorität wenden. Es ist ja so, dass Imame von der Diyanet, also vom gewissermaßen türkischen Religionsministerium entsandt werden und sich auch an die Diyanet wieder wenden können, wenn sie besondere Fragen haben, die sie nicht selbst beantworten können vor Ort.
Weber: Das heißt, in der Diyanet, also in der Türkei, in der Religionsbehörde der Türkei gibt es einen Mufti, der dann zuständig ist für die Fragen der Imame, die zu dieser Behörde gehören?
Kutscher: Es gibt den türkischen Großmufti, wobei der nicht immer letzter Ansprechpartner sein muss, es gibt also eine richtige Behörde, in der mehrere Muftis sitzen, die zu den Fragen Stellung nehmen können.
Weber: Wie unterscheiden sich denn diese Fatwas von normalen Ratschlägen, die die Muftis als Seelsorger oder als religiöse Autoritäten Gläubigen geben? Gibt es da eine bestimmte Form, die die Fatwa ausmacht?
Kutscher: Also es gibt tatsächlich bestimmte Formen, die Fatwas ausmachen, und zwar ist es immer eine Frage, die gestellt wird von einem Muslim oder auch Nicht-Muslime, die können auch Fragen stellen, und eine Antwort, die in der Regel auch mit einer gewissen religiösen Einleitungsformel begleitet wird, und auch einer religiösen Schlussformel, und dazwischen steckt die tatsächliche Antwort auf die eigentliche Frage. Bei einem Ratschlag ist es ja nicht notwendigerweise so, wobei die Unterschiede oder die Übergänge hier auch fließend sind.
Weber: Sie haben sich ganz besonders mit Online-Fatwas beschäftigt, also Gutachten, die im Internet gegeben werden auf mehr oder weniger anonyme Anfragen hin. Was sind denn da so die Themen, die vorkommen?
Kutscher: Im Internet ist die Spannbreite sehr groß, es gibt Themen, die sich beschäftigen mit Familienfragen, Ehefragen, bis hin zu sehr politischen Fragen, also zum Beispiel den Fragen: Darf ich als Muslim in Deutschland oder in einer nicht-muslimischen Mehrheitsgesellschaft an Wahlen teilnehmen? Darf ich in den Staatsdienst eintreten? Darf ich überhaupt die Staatsbürgerschaft dieses Landes annehmen? Und dazwischen ist das Spektrum wie gesagt sehr groß, wobei der überwiegende Teil der Fatwas tatsächlich Fragen zu Ehe, Familie, Kinder, Frauen oder auch zu religiösen Riten sind, also zum richtigen Gebet, zur Wallfahrt nach Mekka und so weiter.
Weber: Sie haben für Ihre Forschungen 24.000 Fatwas gesammelt, die auf großen islamischen Websites erteilt wurden. Das ist ja eine unglaubliche Zahl, die da in 11 Jahren zusammengekommen ist. Wiederholt sich das nicht ständig, sind das nicht im Grunde immer die gleichen zehn Grundfragen?
Kutscher: Es gibt diese Themenbereiche, in denen sich das immer wieder bewegt. Mich persönlich interessieren ja insbesondere Fragen mit im weitesten Sinne politischem Inhalt, also zu politischen Einstellungen und Verhaltensweisen von Muslimen in nicht-muslimischen Mehrheitsgesellschaften, und auch da kann man bestimmte Themenkomplexe unterscheiden. Aber natürlich ist es so, es wiederholen sich Fragen mitunter auf derselben Website beim selben Mufti im Verlauf der Jahre, und zum anderen gleichen sich die Fragen natürlich auch auf verschiedenen Websites mitunter, und da ist es natürlich interessant zu sehen, dass unterschiedliche Muftis unterschiedliche Antworten auf die gleiche Frage geben können.
Weber: Denn das ist der Witz an den Fatwas: Das sind eben Gutachten, und es gibt da nicht die eine allgemein gültige Antwort, wie man das so ein bisschen bei der Religion erwarten würde, sondern es gibt wirklich das eine und sein Gegenteil eigentlich. Da wird sogar von Fatwa-Chaos gesprochen bisweilen. Können Sie uns so einen Fall für ein Chaos schildern?
Kutscher: Vor einigen Jahren gab es mal den Fall, dass in Ägypten ein Mufti gesagt hat, dass, wenn Männer und Frauen, die nicht miteinander verwandt sind, aber trotzdem im gleichen Büro arbeiten sollen und dürfen, das möglich ist, wenn die Frau den Mann stillt, ohne dass die beiden miteinander verwandt wären, aber hinterher wären sie eben symbolisch miteinander verwandt, weil der Mann dann ein Stillkind der Frau wäre. Das hat zu einem großen Aufschrei geführt in der Bevölkerung, es gab dann entsprechend auch Fatwas, die das Gegenteil behauptet haben, und das ist letztens mit Fatwa-Chaos gemeint, dass hier offenbar der Religion keinen Gefallen getan wird, weil in der Öffentlichkeit das Bild entsteht, dass der Islam unzuverlässig sei oder dass nicht die Gültigkeit besteht für die jeweilige Regel.
Weber: Und wie entscheiden Muslime denn, welchen Sachverständigen, welchen Mufti sie jetzt für sich auswählen? Oder ist das vielleicht auch gar nicht personenabhängig, sondern je nach Fatwa? Also, dann gefällt einmal die Fatwa von Mufti A besser und das andere Mal bei der anderen Frage die Fatwa von Mufti B?
Kutscher: Prinzipiell ist es möglich, dass die Muslime, die Fragesteller, sich an unterschiedliche Muftis wenden. Es gibt auch den Begriff Fatwa-Shopping, dass tatsächlich ein Mustafti, also ein Fragesteller, immer zu einem anderen Mufti geht, bis er die Antwort bekommt, die ihm passt, denn das ist ja prinzipiell möglich, dass es unterschiedliche Antworten zur gleichen Frage gibt.
Und das Spannende ist ja nun tatsächlich, dass der Fragesteller bei einem Mufti in der Regel bleibt. Das ist plausibel anzunehmen, dass die sich dieser Autorität unterwerfen, und das geschieht aus verschiedenen Gründen. Es ist anzunehmen natürlich, dass gewisse persönliche Eigenschaften des Muftis da eine Rolle spielen, dass die Ausbildung, die Vita des Muftis eine Rolle spielt, und die Autorität, die andere in der eigenen Gruppe dem Mufti beimessen, ist auch entscheidend.
Weber: Ist aber da nicht vielleicht sogar im Internet die Chance für mehr Individualität? Also weil ich eben mich nicht mehr an den Mufti wende, der jetzt der Mufti meines Dorfes ist, oder meines Landes, sondern an den, den ich im Internet auf einer vertrauenswürdigen Website finde, dass ich das dann mehr für mich selbst entscheide, als mich da einen Kollektiv einzufügen?
Kutscher: Teil des Fatwa-Chaos ist ja auch, dass gerade durch das Internet eine Vielzahl an Fatwa-Diensten entstanden sind, und Muslime sich nun an entsprechend viele Muftis auch wenden können, bei denen nicht immer unbedingt sicher ist, dass sie tatsächlich die notwendige Ausbildung und Qualifikation haben, um Fatwas zu erstellen.
Das hat auch dazu geführt - und auch das ist Teil des Fatwa-Chaos -, dass es zunehmend extremistische Websites gibt beziehungsweise Fatwas mit extremistischem Inhalt. Nicht zuletzt die sogenannten Kofferbomber in Köln 2006 zur Weltmeisterschaft haben im Internet eine Fatwa gefunden, die ihnen erlaubt hat, sogenannte Ungläubige, also Nicht-Muslime zu ermorden mittels dieses Bombenanschlags, der ja zum Glück gescheitert ist.
Weber: Also vielleicht ein bisschen vergleichbar mit Nachschlagewerken. Früher wusste man, man kann dem Brockhaus oder dem Meyers Konversationslexikon trauen, und heute guckt man im Internet und findet alles mögliche, wovon die Hälfte auch wirklich sehr weit von der Wahrheit entfernt sein kann.
Kutscher: So ist es.
Weber: Sind denn diese Online-Fatwas ein doch relativ marginales Phänomen, denn es gibt ja nun doch große Teile der muslimischen wie nicht-muslimischen Bevölkerung, die sich nicht hauptsächlich im Internet bewegen, oder bekommt das doch eine ganz große Relevanz, weil da eben auch wichtige Muftis wie Al-Qaradawi ein ganz großes Publikum bekommen?
Kutscher: Beides ist, denke ich, richtig. In einem zunehmenden Maße haben Online-Fatwas Bedeutung gewonnen in den letzten 15, 20 Jahren, seit es eben das Internet gibt, relativ früh waren Muftis schon online. Zu nennen sind neben Al Qaradawi eben auch ein saudi-arabischer Mufti, Muhammad Salih al-Munajjid, der eine ganz andere Ausprägung des Islams hier zeigt und präsentiert.
Es hat aber natürlich auch nach wie vor in der Islamischen Welt sehr viele Muftis vor Ort. Man kann also direkt zum Beispiel sich an die ägyptische Fatwa-Behörde wenden, per Telefon, per Post oder auch übers Internet, oder man geht direkt hin ins Büro und fragt einen Mufti. Also die Möglichkeit besteht tatsächlich auch, und die wird natürlich auch vor Ort wesentlich stärker genutzt innerhalb eines islamischen Kontextes, eines muslimischen Mehrheitskontexts.
Spannend sind Online-Fatwas eben gerade für muslimische Minderheitskontexte in der Europäischen Union und in Nordamerika und anderen Staaten, in denen eine muslimische Minderheit lebt.
Weber: Das wäre meine Frage gewesen: Ist denn Minderheit und Mehrheit eigentlich noch so ein wirklich wichtiges Konzept in Zeiten des Satellitenfernsehens und des Internets, wo eben viel mehr doch individuell erreichbar ist und nicht mehr unbedingt davon abhängt, wie meine Mitmenschen, ob die der gleichen Gruppe angehören oder nicht?
Kutscher: Man kann davon ausgehen, dass Muslime nach wie vor Orientierung suchen, religiös-rechtliche Orientierung eben auch in Situationen, in denen sie in einem mehrheitlich nicht muslimischen Umfeld leben, und dafür schalten sie natürlich zum einen den Fernseher ein, schauen sich solche Satellitensendungen an, wo auch prominente Muftis vertreten sind, die dann über Call-in-Sendungen oder Liveschaltungen Telefonanrufe entgegennehmen und Fatwas mündlich erteilen ...
Weber: Zum Beispiel Al-Qaradawi auf Al Dschasira.
Kutscher: ... zum Beispiel Al-Qaradawi auf Al Dschasira, aber auch übers Internet selbstverständlich die Möglichkeit besteht, dass die Muslime sich auf einer Website ihres Vertrauens gewissermaßen erkundigen oder Rat suchen zu einer bestimmten Frage aus ihrem Umfeld, aus ihrem Leben.
Weber: Ist diese Internetsuche oder diese Internet-Fatwas, sind die daraus entstanden, dass es eben mehr Muslime in Minderheitenkontexten gibt, und trägt sich das jetzt zurück in die muslimischen Mehrheitsgesellschaften, oder wo ist das Phänomen zuerst entstanden? Kann man das sagen?
Kutscher: Die ersten Websites, die entstanden sind zu Online-Fatwa-Ratgebung, kamen schon aus einem arabisch-islamischen Umfeld. Also wie gesagt, al-Munajjid in Saudi-Arabien war einer der ersten, eben so Al-Qaradawi, der ägyptisch geboren ist, aber mittlerweile in Katar lebt.
Die allerdings damals - ganz interessant - ihre Websites zuerst auf Englisch erstellt hatten, was natürlich zum einen die Lingua Franca des Internets war, zum anderen einfach auch die technischen Voraussetzungen damals noch nicht gegeben waren, um arabischsprachige Fatwas zu erstellen. Und somit haben sie sich zwangsläufig an Muslime gewandt, die des englischen mächtig sind, damit also in erster Linie beispielsweise in den USA, in Kanada, oder in Großbritannien lebten.
Weber: Gibt es denn Versuche, das irgendwie zu vereinheitlichen, also dieser Pluralisierung, die das Internet bringt, einen Riegel vorzuschieben?
Kutscher: Unabhängig vom Internet gab es in der Vergangenheit in den letzten Jahren immer wieder auch Versuche und Initiativen, die Fatwa-Ratgebung zu vereinheitlichen, das Problem hierbei liegt wohl darin, dass es in der islamischen Welt nicht vergleichbar dem Papst eine übergeordnete Institution gibt, die sagen könnte und festlegen könnte: Ab sofort ist der Islam A oder B.
Der Islam ist keine monolithische Religion und entsprechend gibt es sehr viele verschiedene Ausprägungen, und die Möglichkeiten zur Vereinheitlichung sind in der Vergangenheit eher mit sehr bescheidenem Erfolg gesegnet gewesen.
Weber: Vielen Dank, Jens Kutscher! Islamwissenschaftler und Mitarbeiter am Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa. Danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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Neue Rechtsgelehrte braucht das Land
Wege in den Terror - Den Ursachen für die Radikalisierung junger Muslime