Ist Gott an allem schuld?
Töten Menschen aus Frustration? Münden Gottesbilder in Gewalt? Der Historiker Jörg Baberowski hält beide Thesen für "ganz großen Unfug". Er warnt vor den Fehlschlüssen, aus Gottesvorstellungen oder aus sozialen Ursachen Tötungsabsichten abzuleiten.
Frank Meier: Gewalt ist das Thema dieser Tage, Gewalt im Krieg, in Syrien und Afghanistan, Gewalt bei Terroranschlägen in Beirut, Paris, Bamako und Tunis, Gewalt, die sich meistens auf eine Religion beruft. Und wir sprechen hier in der "Lesart" immer wieder über dieses Thema mit Autoren, die sich mit Gewalt und Religion auseinandergesetzt haben oder auch mit der Gewalt in der Geschichte. Einer von ihnen ist der Berliner Historiker Jörg Baberowski. Er hat zuletzt das Buch "Räume der Gewalt" veröffentlicht. Guten Tag, Herr Baberowski!
Jörg Baberowski: Guten Tag!
Meier: Die These Ihres Buches ist ja, Gewalt ist jetzt kein Betriebsunfall der Geschichte oder ein Extremfall, Gewalt ist immer eine Handlungsoption für Menschen. Ist denn vor diesem Hintergrund das, was wir gerade in Syrien erleben, so etwas wie ein historischer Normalfall?
Baberowski: Nein, das kann man nicht sagen, dass das, was jetzt geschieht, ein historischer Normalfall, es gibt überhaupt keine Normalfälle, es gibt immer nur Möglichkeiten. Und der Krieg ist immer eine Möglichkeit, so wie der Frieden auch immer eine Möglichkeit war.
Aber immer dann, wenn Kriege ausbrechen und Staaten zerstört werden, passiert genau das, was jetzt gerade in Syrien und im Irak passiert. Das ist nichts Ungewöhnliches, es ist gar nichts Neues, das hat es immer schon gegeben und es wird Krieg auch immer geben.
Und wenn man das weiß, dass es das immer geben wird und geben kann – nicht geben muss –, dann wird man vielleicht auch Vorkehrungen treffen können, die den Ausbruch solcher Konflikte verhindern. Ich denke, die USA sind ja sehr naiv in die Irak-Intervention hineingegangen. Hätten sie gewusst, was sie anrichten, wenn sie den Gewaltraum öffnen, wären sie vielleicht vorsichtiger gewesen.
Meier: Was heißt das, Gewaltraum öffnen?
"Ich halte es für falsch, bei jedem Terroranschlag einen Koranexperten einzuladen"
Baberowski: Das heißt, dass man einen Raum schafft, in dem die Gewalt darüber entscheidet, wie Menschen sich verhalten und wie sie sich zueinander verhalten. Wenn sie staatliche Institutionen zerstören, Waffen freigeben und Unsicherheit erzeugen, dann werden Menschen sich bewaffnen. Sie werden versuchen, sich zu schützen, sie werden versuchen, sich denjenigen anzuschließen, die bewaffnet sind und die Macht haben. Und sie verwandeln dann einen befriedeten Raum in einen Gewaltraum. Der Gewaltraum ist dadurch definiert, dass alles, was geschieht, zu den Bedingungen von Gewalt organisiert wird.
Meier: Wir haben ja dann heute eine Gewalt, einen Terror, der sich auf einen Gott beruft. Sie haben sich viel mit stalinistischem Terror befasst. Da gab es nun keinen Gottesbezug, aber vielleicht eine ähnlich fundamentalistische Überzeugung, für die richtige Sache Terror zu verüben?
Baberowski: Nein, ich glaube, dass das ganz falsch ist. Und ich halte es auch für falsch, bei jedem Terroranschlag gleich einen Koranexperten oder einen Islamwissenschaftler einzuladen. Es ist ein Irrglaube, anzunehmen, dass es Menschen, die motiviert sind, leichter falle, Gewalt auszuüben. Wir alle kennen doch überzeugte Kommunisten, die wollten, dass ihre Gesellschaft anders sein sollte, die dennoch aber nicht imstande waren, Befehle zu erteilen, um Millionen von Menschen umzubringen.
Man kann aus diesen Ideologien, aus den Gottesvorstellungen, nicht die Tötungsabsichten ableiten. Wenn Sie Menschen töten wollen, dann müssen Sie dazu Möglichkeiten haben, Gelegenheiten haben, Situationen haben und Menschen haben, die Ihnen dabei helfen, ein solches Programm zu verwirklichen. Sie müssen Hemmungen überwinden, Sie müssen Hemmschwellen überschreiten. Und es kostet viel Kraft und Überwindung, andere Menschen zu töten. Und kein Glaube hilft Ihnen dabei, dass es für Sie leichter wird. Der Glaube ist dann wichtig, wenn gerechtfertigt werden muss, was man getan hat, dafür ist der Glaube wichtig.
"Man kann aus Gottesvorstellungen keine Tötungsabsichten ableiten"
Meier: Aber was motiviert dann Menschen, diese Hemmschwellen zu überschreiten? Wenn wir jetzt an die Attentäter von Paris denken, was für eine Motivation erkennen Sie da, wenn Sie sagen, der Glaube ist nicht das wichtige Motiv?
Baberowski: Es gibt nicht die eine Motivation des einen Menschen, weil Menschen sehr verschieden sind. Es gibt schwache Menschen, es gibt starke Menschen, es gibt Psychopathen, es gibt ängstliche Menschen. Es gibt Menschen, die sind frustriert und fühlen sich nicht wahrgenommen, die wollen wichtig sein. Es gibt ganz unterschiedliche Möglichkeiten. Und man muss über diese Möglichkeiten im Bilde sein, um die Dynamik einer Situation zu entdecken.
Der Mensch ist komplexer, als man annimmt, und Menschen sind sehr verschieden. Und es kommt wirklich auf die Situation an, in der man sich befindet, ob man bereit ist, Gewalt auszuüben. Dass für die Gruppe selbst, die tötet, die gemeinsam tötet, der Glaube an etwas hilft, die Gruppe zusammenzuhalten und Abweichler zu sanktionieren, das ist ganz klar.
Deshalb ist das gar nicht erstaunlich, dass alle Gruppen, die töten, sich immer eine Ideologie geben, immer einen Glauben geben, weil sie der Umwelt zeigen, dass sie entschlossen sind, und weil sie aber auch untereinander sich vergewissern, dass sie etwas tun, was richtig ist. Das braucht man. Das braucht man auch, um sein Gewissen zu beruhigen. Für das Töten selbst ist eine Situationsdynamik entscheidend und nicht der Glaube an irgendetwas.
Meier: Sie haben ja auch den Begriff der Entwurzelung jetzt verwendet, das ist ja eine Erklärung, Jürgen Habermas hat die jetzt auch in die Debatte mit eingebracht als Versuch einer Erklärung auch für die Attentate in Paris, wenn er mit sozialen Ursachen, eben mit Entwurzelung, sozialer Entwurzelung argumentiert. Was halten Sie von dieser Erklärung?
"Für das Töten selbst ist eine Situationsdynamik entscheidend und nicht der Glaube"
Baberowski: Ich halte das für ganz großen Unfug, weil die Entwurzelung dem Täter nicht die Hand führt. Wenn es so wäre, wie Habermas sagt, müssten Millionen von Menschen Gewalttäter werden, so ist es aber nicht. Man kann als entwurzelter, frustrierter Mensch zum Angeln gehen, man kann sich betrinken, man kann alle möglichen Dinge tun, man kann sich immer gegen seine Neigungen entscheiden, das kann man immer. Und die Frustration führt nicht automatisch in die Gewalt und in die Revolte. Wenn es so wäre, dürfte die Gewalt ja gar nicht aufhören.
Das ist einfach viel zu einfach, von sozialen Ursachen auf Gewalt zu schließen. Die meisten frustrierten Muslime in Frankreich sind nicht gewalttätig, das ist die Wahrheit. Und es ist auch gefährlich zu behaupten, nur weil diese Leute sich nicht als dazugehörig empfinden, neigten sie dazu, andere Menschen zu töten. Das ist einfach falsch und man macht Leuten auch unnötig Angst, indem man diese Kausalkette herbeiredet, das sollte man nicht tun.
Meier: Woher kommt Gewalt? Wir haben mit dem Historiker Jörg Baberowski gesprochen, sein Buch über die "Räume der Gewalt" ist im S. Fischer Verlag erschienen. Herr Baberowski, vielen Dank für das Gespräch!
Baberowski: Ja, ich danke Ihnen auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.