Fraktionszwang "muss Grenzen haben"

Marco Bülow im Gespräch mit André Hatting |
Der Fraktionszwang im Bundestag schade dem Ansehen der Politik, kritisiert der Sozialdemokrat Marco Bülow, der das Buch "Wir Abnicker" geschrieben hat. Eine Regierung in allem zu unterstützen, habe "nichts mehr mit dem freien Mandat und mit dem Gewissen zu tun".
André Hatting: Heute stimmt der Bundestag über die Frauenquote ab. Das hätte spannend werden können, denn den Gesetzentwurf von SPD und Grüne finden auch viele Unionsabgeordnete richtig. Sogar Arbeitsministerin Ursula von der Leyen hatte erwogen, für den Antrag der Opposition zu stimmen. Aber seit dem Montag ist das passé, der Bundesvorstand der CDU hat mit einem Kompromiss seine Ausreißer wieder eingefangen. Die Fraktion wird heute also brav mit der Regierung gegen die gesetzliche Frauenquote stimmen – und für die Zypern-Hilfe, über die der Bundestag heute auch entscheidet. Egal, wie groß die Bauchschmerzen bei dem einzelnen Parlamentarier auch sein mögen.

Typisches Abnickverhalten, könnte man mit Marco Bülow sagen. Der SPD-Bundestagsabgeordnete hat wiederholt diese Haltung seiner Kollegen kritisiert, egal welcher Partei sie angehören. Guten Morgen, Herr Bülow.

Marco Bülow: Ja, schönen guten Morgen.

Hatting: Fraktionszwang heißt das, was da heute stattfinden wird. Sind Sie da selber auch schon mal richtig Opfer von geworden?

Bülow: Ja, klar. Vor allen Dingen in Regierungszeiten neigt man noch stärker dazu, einstimmig abzustimmen, auch wenn Teile der Fraktion das nicht so sehen, manchmal sogar große Teile das nicht so sehen, um die Regierung in allem zu unterstützen und Änderungen auch nicht zuzulassen. Und das ist natürlich ein Problem, weil das dann nichts mehr mit dem freien Mandat und mit dem Gewissen zu tun hat.

Hatting: Das wollte ich Sie gerade fragen, so steht es ja im Grundgesetz, Sie sind ja eigentlich nur Ihrem Gewissen unterworfen. Fühlen Sie sich tatsächlich nur Ihrem Gewissen unterworfen?

Bülow: Nein, natürlich nicht. Und ich finde es auch richtig, dass es Fraktionen gibt und dass man natürlich auch solidarisch mit diesen Fraktionen stimmt. Nur, es muss halt Grenzen haben. Und ich finde, bei wichtigen Abstimmungen, die über das normale Maß hinausgehen, muss das Gewissen eben auch berücksichtigt werden. Und das tut es eben immer weniger. Und ich glaube, dass man gerade bei sehr fundamentalen Entscheidungen, die wir zum Beispiel auch heute treffen, dann die Fraktionsdisziplin aufgeben muss und dann eben dafür sorgen muss, dass man insgesamt Mehrheiten kriegt. Das ist schwierig in der Demokratie manchmal, aber ich glaube, dafür haben wir sie.

Hatting: So wie der Fraktionszwang jetzt ausgeübt wird, schadet er dem Ansehen der Politik?

Bülow: Ja, auf jeden Fall. Weil die Leute ja mitkriegen … Es war ja klar, dass in der Union beispielsweise eben bei der Frauenquote heute eine Reihe von Abgeordneten eigentlich mitstimmen … oder nicht mitstimmen wollten und normalerweise es dann keine Mehrheit geben würde. Das heißt ja nicht automatisch, dass wir dann eine andere Mehrheitslage haben, aber dann hätte man eben einen Kompromiss finden müssen. Und ich glaube, das ist genau das, was Politik ausmacht, dass man dann, wenn die Mehrheit nicht steht in einem Bundestag, dass man dann Kompromisse suchen muss, eventuell auch mit der Opposition. Und ich finde, das würden, glaube ich, viele Menschen honorieren. Und so sehen sie immer nur, dass eigentlich sowieso alles das geschieht, was die Regierung vorgibt, egal wie die Diskussionen sind, und egal wie die Meinungen sind.

Hatting: Wenn ich mir Ihr eigenes Abstimmungsverhalten der Vergangenheit anschaue, dann fällt auch auf, dass Sie bei manchen heiß diskutierten Themen gar nicht erst da waren: Leistungsschutzrecht, die Offenlegung der Nebeneinkünfte, Einführung des Betreuungsgeldes – Marco Bülow fehlte bei der Abstimmung. Wieso?

Bülow: Das hat unterschiedliche Gründe. Beispielsweise habe ich eine kranke Tochter, die als Frühchen geboren ist, und da war ich gerade, als wichtige Abstimmungen waren, leider nicht dabei.

Hatting: War also kein Protest gegen einen Fraktionszwang?

Bülow: Nein, Protest nicht. Aber Sie werden sehen, bei den meisten namentlichen Abstimmungen war ich dabei. Und ich habe aber auch immer wieder mal bei wichtigen Abstimmungen nicht so gestimmt wie meine Fraktion. Das mache ich wirklich nur im Zweifelsfall, und das ist eine sehr starke Belastung in solch einem Fall, das muss man auch gut begründen, das habe ich aber auch immer wieder getan.

"Ausufernden Lobbyismus bekämpfen"
Hatting: Das stimmt, das kann man bei den Abstimmungen sehen. Ist das genau der Mut, den Sie von Politikern fordern in Ihrem Buch "Wir Abnicker", das vor drei Jahren erschienen ist? Ist das genau das, dass man wieder die Macht der Politik in die Mitte des Parlaments zurückholt?

Bülow: Ja, auf jeden Fall. Das ist natürlich nicht nur bei den Abstimmungen so, sondern da gibt es natürlich noch andere Dinge, wo man das tun muss. Also, man muss, denke ich, den ausufernden Lobbyismus bekämpfen. Weil, im Prinzip bestimmen einige wenige große Unternehmen mehr mit als viele Abgeordnete und Fachpolitiker. Und man muss vor allen Dingen sie wieder in diese Fachausschüsse zurückholen, da, wo die Leute sitzen, die sich jahrelang mit diesen politischen Feldern beschäftigen.

Deswegen vertraue ich auch immer stark – und deswegen glaube ich auch, dass es Fraktionen geben muss – den Fachpolitikern meiner Fraktion da, wo ich nicht so einen starken, tiefen Einblick habe. Aber im Prinzip läuft es halt so, dass die Regierung vorgibt und dann die Regierungsfraktionen im Parlament mitgehen und die Opposition im Zweifelsfall ablehnt oder in einzelnen Fällen dann zustimmt. Und das ist eine falsche Aufgabenteilung.

Hatting: Der Lobbyismus ist tatsächlich ein großes Problem, Sie haben es angesprochen. Wie kann man den effektiv bekämpfen? Oder anders formuliert: Wie kann man dafür sorgen, dass wirklich die Parlamentarier die Politik machen und nicht die Wirtschaft?

Bülow: Ja, erst mal, indem man die Transparenz erhöht. Also, es gibt ganz viele Länder mit einem vorgeschriebenen Lobbyregister, wo sich alle eintragen müssen, weil heute ist auch Lobbyismus nicht mehr so einfach, das sind nicht nur bestimmte Konzerne und Gewerkschaften und Kirchen, sondern es sind viele Anwaltskanzleien, PR-Agenturen und so weiter, wo man gar nicht weiß, mit wem man es zu tun hat, wer die Geldgeber sind. Das müsste alles in einem Lobbyregister aufgelistet werden und nur Leute, die dort aufgelistet sind und namentlich gekennzeichnet sind und wo man weiß, wo die herkommen und von wem sie bezahlt werden, die haben dann überhaupt noch Zugang.

Aber hier hat mittlerweile irgendwie jeder Zugang im Bundestag, und man wird eben dann stark von denen beeinflusst, die sehr viele Mitarbeiter haben, die Lobbyismus stark betreiben können, weil sie viel Geld haben, und die kleinen Verbände, Initiativen, die sich das nicht leisten können, die nur Pressemitteilungen schreiben, gehen dann unter. Also, ich habe nichts prinzipiell dagegen, dass Verbände, Vereine und auch Konzerne uns ihre Positionen benennen, das ist sogar wichtig für eine Demokratie, aber es gibt halt ein sehr starkes Ungleichgewicht. Und das muss man versuchen zu beseitigen. Und wir Abgeordnete können mit dafür sorgen, indem wir es dann zumindest veröffentlichen, unsere Lobby-Termine beispielsweise, und auch schauen, dass wir Zeit haben für die, die nicht so viel Geld haben.

Hatting: Jetzt haben wir über mehr Transparenz beim Lobbyismus gesprochen, darüber, dass man vielleicht den Fraktionszwang bei entscheidenden Themen häufiger aufhebt. Was halten Sie von dem ganz großen Wurf, nämlich davon, das deutsche Parteiensystem zu reformieren? Denn anders als in den USA oder Großbritannien verpflichtet das Verhältniswahlrecht den Abgeordneten ja zu allererst seiner Partei. Also, wenn Sie im September wieder für den Wahlkreis Dortmund das Direktmandat holen wollen, dann dürfen Sie es sich mit der SPD aber nicht verscherzen.

Bülow: Ja, das ist schon wahr. Allerdings gibt es da auch Nachteile. Also, einerseits denke ich, es stimmt, dass, wenn man vor allen Dingen über die Wahlkreise geht, es viel einfacher ist seine Meinung zu sagen und freier Abgeordneter zu sein, als wenn man über die Landeslisten abgesichert wird, weil da die Parteien viel stärker noch entscheiden. So entscheidet in den Wahlkreisen bei mir zum Beispiel nur die Basis meiner Partei und nicht irgendwelche Spitzenfunktionäre, die die Landeslisten aufsetzen. Und das gibt mir natürlich ein Stück mehr Freiheit.

Auf der anderen Seite hätten dann einige Menschen in dieser Republik, egal ob schwarz oder rot oder andere Farben, fast nie eine Chance, in den Bundestag zu kommen, weil, es gibt Wahlkreise, die hätte auch Willy Brandt nicht geholt oder auf der anderen Seite Konrad Adenauer nicht geholt. Und dann hätte man diese dauerhaft ausgeschlossen, wenn es keine Landeslisten gibt. Also, das ist eine schwierige Diskussion, die ich nicht so einfach zu lösen sehe.

Hatting: Über die Freiheit der Bundestagsabgeordneten habe ich mit Marco Bülow gesprochen, der SPD-Bundestagsabgeordnete kämpft seit Jahren für mehr Mut im Parlament. Ich bedanke mich, Herr Bülow.

Bülow: Ja, ich danke auch.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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