Francesca Sanna: Die Flucht
Aus dem Englischen von Thomas Bodmer, NordSüd Verlag, Zürich 2016, 48 Seiten, 17,99 Euro, ab 4 Jahren
Eine Reise ins Unbekannte
Wenn das Schicksal für einen Menschen die Flucht vorgesehen hat - ein Buch über den Umgang mit Vertreibung und über die Suche nach einem neuen Zuhause, erzählt von Kindern.
Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, Kindern vom Schrecken der Flucht zu erzählen: Mit viel oder wenig Text, mit lauten oder leisen Bildern, dramatisch oder beschwichtigend. Eins muss so ein Buch aber immer sein: leicht verständlich und mit literarischem, künstlerischem Anspruch. Letzteres gelingt der Italienerin Francesca Sanna beeindruckend. Sie hat sich für die Version mit wenig, aber eindrücklichem Text und wuchtigen Bildern entschieden.
Ein Kind erzählt vom Zuhause, das vom Krieg zerstört wird, vom Tod des Vaters, von dem Plan der Mutter, mit Tochter und Sohn in ein sicheres Land zu gehen. Und von der gefährlichen Flucht in den unterschiedlichsten Fahrzeugen über Land und über Wasser und der tagelangen Weiterreise im Zug. Das Ende bleibt offen. Man kann nur die Hoffnung haben, dass alles gut wird.
Eine unzerstörbare Einheit
Es ist nicht klar, wer hier erzählt, ob das Mädchen oder der Junge, aber das ist auch nicht so wichtig. Denn die beiden bilden zusammen mit ihrer Mutter eine feste, unzerstörbare Einheit. (Und so gibt es auch nur wenige andere Menschen in diesem Bilderbuch.) Wir kennen ihre Namen nicht, sie sind weniger Individuen als Stellvertreter einer riesigen Menschengruppe. Denn die drei stehen – wie die Künstlerin im Nachwort schreibt – für alle Flüchtlingsschicksale weltweit.
Francesca Sanna erzählt diese Fluchtgeschichte in einer einfachen, knappen, klaren Sprache. Der Text nimmt nur wenig Raum ein. "Eines Tages nahm der Krieg uns Papa weg" heißt es zum Beispiel über den Tod des Vaters. Mehr nicht. Der kleine weiße Satz schwingt über die schwarze Buchseite. Gerade in seiner Lakonie spiegelt sich seine tiefe Bedeutung.
Mit langen schwarzen Klauen
Umso intensiver sind Francesca Sannas Bilder: Gedeckte Farben dominieren – was der Stimmung und der Anspannung einer Flucht vollkommen entspricht. Manche Seiten sind fast schwarz. Vom toten Papa schweben nur ein paar kleine Utensilien über den schwarzen Hintergrund. Flächig und mit harten Konturen setzen sich die Figuren von ihren Hintergründen ab, Mutter und Kinder sind wie symbiotisch ineinander verschlungen – oft sind das Mädchen und der Junge nur mit den schwarzen langen Haaren der Mutter bedeckt, in sie hineingeschlungen und so geschützt und gewärmt.
Mal bedroht vom Krieg oder einem Bewacher der Grenze, die mit langen schwarzen Klauen nach ihnen greifen; mal geschützt im Blätterdickicht des Urwalds; dann einsam in einem winzigen Boot über den bunten Abgrund des Meeres schwimmend – Mutter und Kinder sind existenziellen Erfahrungen und Erlebnissen ausgesetzt. "The journey" - die Reise - wie das Buch im englischen Original heißt erzählt vom Wechsel in andere Kulturen, von der Veränderung und von einer neuen Existenz in einer neuen Welt. Auch wenn die Reise dahin voller Herausforderungen und Gefahren ist. Selten sind Flüchtende so gut geschützt und aufgehoben wie in Francesca Sannas Texten und Bildern. Gut so!