Franco Moretti: "Ein fernes Land. Szenen amerikanischer Kultur"
Aus dem Amerikanischen von Bettina Engels und Michael Adrian
Konstanz University Press, Konstanz 2020
148 Seiten, 22 Euro
Die kulturellen Wurzeln der USA
06:45 Minuten
Die USA sind auch in kultureller Hinsicht eine Großmacht. Der lange in Stanford lehrende, italienische Literaturwissenschaftler Franco Moretti zeigt, wie diese Hegemonie ästhetisch funktioniert. Ein künftiges Standardwerk, findet unsere Kritikerin.
Dieses Buch sollte Pflichtlektüre für alle Erstsemester eines geisteswissenschaftlichen Faches sein. Klarer, knapper und ansteckender kann man die Notwendigkeit nicht vermitteln, sich mit Literatur, Film und bildendender Kunst befassen zu müssen.
Franco Moretti, 1950 im italienischen Sondrio geboren, viele Jahre lang Professor in Stanford, geht der kulturellen Hegemonie der US-amerikanischen Kultur nach und zeigt an verschiedenen Beispielen auf, worin ihre Wirkmächtigkeit besteht. Aber zuerst benennt er sein Instrumentarium, zu dem Begriffe wie "petite phrase" oder die "antichaotische Funktion der Form" gehören, und hält fest, was ihn umtreibt.
Ästhetische Erziehung bestehe darin, die Magie eines Kunstwerks zu genießen und dann diese Erfahrung einer skeptischen Revision zu unterziehen. Dies sei das Wesen der Kritik.
Whitman – demokratischer als der elitäre Franzose Baudelaire
Was der Erkenntnisgewinn ist, zeigt Moretti in den folgenden Kapiteln. Während Baudelaire in "Die Blumen des Bösen" die Großstadterfahrung in flüchtigen, zufälligen Episoden vermittelt und in eine komplexe Sprache voller unheilvoller Metaphern gießt, operiert Walt Whitmann in dem ebenfalls 1857 erschienen Band "Grasblätter" mit Reihungen. Sein freier Vers kann buchstäblich alles in sich aufnehmen; bei ihm treten Zimmermann, Lotse, Maat oder Kinder gleichberechtigt in Aktion, alle arbeiten, Hierarchien gibt es nicht, sein Stilmittel ist das Verzeichnis.
Whitman setzt auf Demokratisierung, seine emphatische Schlichtheit richtet sich an ein großes Publikum. Baudelaire hingegen konzentriert sich auf die faits divers, einen Schwan, der aus einem Käfig flieht, ein verendendes Tier voller Maden, den Rummelplatz, Gestalten der Niederlage, die den Boulevard hinunterhuschen. Moretti spricht davon, dass hier der semantische Stoff zerfetzt sei.
Ähnlich breitenwirksam wie Whitman ist einige Jahrzehnte später Hemingway. Auch hier zeigt der Literaturwissenschaftler, wie dessen Kurzgeschichte "Großer doppelherziger Strom" auf der Mikroebene funktioniert. Der untergründig mitschwingenden Kriegserfahrung wird die Beherrschung des Raums durch die Abfolge alltäglicher Verrichtungen entgegengesetzt, was sich in den Verben widerspiegelt. Alles, was der Held tut, ist zweckmäßig: Seine Angel auswerfen, Pflöcke einhauen, sein Zelt aufbauen. Die hypnotischen Wortwiederholungen – im Vergleich zu den schwieriger zu bewältigenden assoziativen Sprüngen in "Ulysses" von James Joyce – machen den Text für den Leser eingängig.
US-Western versus europäischer "Film noir"
Genauso aufschlussreich sind die Vergleiche zwischen Western und "Film noir". Der Kameraschwenk zu Beginn eines Western nimmt die Weite des Landes in den Blick, es geht um Eroberungen; der Held wird im Moment der Gewalt – John Wayne, der auf seinen Gegner schießt – selbst zum Gesetz.
Moretti zeigt, wie sich im sehr viel beunruhigenderen "Film noir" diese binäre Logik in lauter Dreiecke aufsplittert: Immer wieder geht es um Liebesverrat, Ehebruch, Betrug; die Leichen multiplizieren sich.
Seine kulturelle Hegemonie erreicht Amerika dadurch, dass seine Romane, Filme, Gemälde so abgeschliffen und zugänglich wie möglich sind. Das Ganze gipfelt in Andy Warhols serieller Porträtreihe von Marilyn Monroe. Kultur ist genormt, was Warhol mit seiner Factory zur ultimativen Coolness erklärt.