François Jullien: "Es gibt keine kulturelle Identität"

Kluger Essay kritisiert den Kulturkampf

François Jullien hält die Vorstellung von "Identität" mit Blick auf Kulturen für einen grundsätzlichen Denkfehler.
François Jullien hält die Vorstellung von "Identität" mit Blick auf Kulturen für einen grundsätzlichen Denkfehler. © imago/allOver; Suhrkamp
Von Catherine Newmark |
Ist Europa christlich geprägt? Oder aber laizistisch? Beides! Sowohl Christentum als auch die Aufklärung seien europäische "Ressourcen", sagt der französische Philosoph François Jullien. Mit seiner Denkfigur der "kulturellen Ressource" wendet er sich gegen reaktionäre Fantasien.
Von der Angst vor der Globalisierung als Triebkraft für den Aufstieg von Nationalismus und Rechtspopulismus in Europa und den USA ist in letzter Zeit viel die Rede gewesen. Von wirtschaftlichen Abstiegsängsten ebenso wie der Sorge, eigener kultureller Traditionen durch die Migrationsbewegungen verlustig zu gehen - als Motor für die immer lauter werdenden Forderungen nach einer Rückkehr zu geschlosseneren, homogeneren Gesellschaften, zu "unseren" eigenen Traditionen und "Werten" oder zu einer auf Abstammung beruhenden nationalen und kulturellen Identität.
Eine interessante Kritik am Kulturkampf hat nun der renommierte französische Philosoph und Sinologe François Jullien formuliert. "Es gibt keine kulturelle Identität" stellt sein Essay bereits im Titel mit aller Deutlichkeit klar. Die philosophische Argumentation, mit der er diese Behauptung untermauert, ist begrifflich einigermaßen anspruchsvoll, aber sehr überzeugend.

Politisch umstrittene Frage der "Identität" Europas

Jullien hält die Vorstellung von "Identität" mit Blick auf Kulturen für einen grundsätzlichen Denkfehler: Die Verschiedenheit von Kulturen lasse sich nicht in Kategorien der Differenz von in sich geschlossenen Identitäten denken, sondern müsse eher in Begriffen des "Abstandes" gefasst werden. Was die derart einander mehr oder weniger nahen oder fernen Kulturen dann auszeichne, seien nicht ihre jeweiligen "Identitäten", sondern ihre jeweiligen "Ressourcen".
Sehr anschaulich macht Jullien das am Beispiel der – politisch noch immer umstrittenen – Frage nach der "Identität" Europas. Ist Europa christlich geprägt, wie die einen behaupten, oder aber in erster Linie laizistisch, humanistisch und durch die Religionskritik der Aufklärung?
Jullien hält den Streit darüber für unbegründet: Europa ist offensichtlich sowohl durch das Christentum als auch durch die Aufklärung geprägt. Beides sind in Julliens Sinne "Ressourcen" der europäischen Kultur – aber keines von beiden schließt das andere aus und bestimmt allein die "Identität" Europas. Anders als "Werte" sind Ressourcen nicht etwas, auf das man sich emphatisch beruft oder das man verteidigen müsste, sondern vielmehr etwas, das man aktivieren und schlicht und einfach nutzen, ja ausbeuten kann.

Begriff der kulturellen Ressource schließt niemanden aus

Mit seinem Begriff der kulturellen Ressourcen gewinnt Jullien auch eine Kategorie zur Kritik der Globalisierung, die der Philosoph als kommerzielle Uniformisierung und Verflachung ansieht. Kulturelle Ressourcen sind – von Sprachgebräuchen über Bildungstraditionen bis zu Alltagsgebräuchen – nicht global und gleichförmig, sondern kleinteilig und partikular. Aber, und das ist die Pointe, sie schließen niemanden aus; sie sind vielmehr nützlich und nutzbar, und zwar von allen.
Julliens beherzter Aufruf zur kulturübergreifenden Nutzung von kulturellen Ressourcen mag begrifflich anspruchsvoll sein, aber er liefert auch eine für einen Philosophen wohltuend handfeste Anleitung, wie wir das Verhältnis zwischen unterschiedlichen Kulturen fruchtbarer denken können und sollten. Nämlich weder im Sinne einer fortschreitenden Vereinheitlichung, wie es die wirtschaftliche Globalisierung will, noch aber in der einfachen Alternative von universalistischen Werten versus denkfaulem Kulturrelativismus. Und schon gar nicht in der reaktionären Fantasie von unveränderlichen kulturellen Identitäten.

François Jullien: Es gibt keine kulturelle Identität
Aus dem Französischen von Erwin Landrichter
Suhrkamp, Berlin 2017
96 Seiten, 10 Euro

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