Sie küssten und beschimpften ihn
Francois Truffaut starb vor 30 Jahren. Der Regisseur begründete die Filmbewegung "Nouvelle Vague" mit - damals eine Revolution im französischen Kino. Arthaus fasst das eigenwillige Werk Truffauts in einer DVD-Edition zusammen.
"Och, dieser Lümmel, Du Strohkopf, das schlägt doch wirklich dem Fass den Boden aus. Solange Du hier wohnst und von uns ernährst, gekleidet wirst, hast Du auch zu folgen. Sonst stecken wir Dich in ein Internat, hast Du verstanden?"
Antoine wird wieder mal vom Stiefvater ausgeschimpft. Dieses Mal nicht, weil er wieder die Schule geschwänzt oder geklaut hätte, sondern weil er versehentlich einen Karton in Brand gesetzt hat. Aber ob versehentlich oder nicht spielt keine Rolle, der 13-Jährige bekommt es eh dauernd ab – für die Eltern ist er nur ein Störenfried. Als Antoine schließlich in die Jugendstrafanstalt kommt, ist die Mutter froh:
"Für Dich ist bei uns kein Platz mehr, Du gehörst in die Besserungsanstalt. Du wolltest Dich doch selber durchschlagen, nun wirst Du feststellen, ob es Dir hier besser gefällt als bei uns. Viel Glück."
Trotz dieser bedrückend geschilderten Situation ist Francois Truffauts Debütfilm "Sie küssten und sie schlugen ihn" kein schweres Sozialdrama, sondern eine in dokumentarischen Bildern erzählte Episoden-Geschichte, die in ihrer nüchternen Betrachtung immer noch beeindruckt. Der Realismus dieses Debüts ist typisch für die Filmbewegung der Nouvelle Vague, die mit dem gefeierten Film, der 1959 in Cannes die Goldene Palme erhält, einer breiten Öffentlichkeit bekannt wird.
Als Aushängeschild des neuen Kinos kann Truffaut nun teure Produktionen wie die verspielte Film-Noir-Hommage "Schießen Sie auf den Pianisten" mit Charles Aznavour verwirklichen. Er dreht aber auch weiterhin Low-Budget-Produktionen wie "Jules und Jim". Der Sensationserfolg von 1963 über eine Liebe zu dritt ist wie immer bei Truffaut auch autobiografisch, kein anderer Filmemacher hat seine Biografie wohl so intensiv filmisch verarbeitet.
Wie sein Filmheld Antoine in "Sie küssten und sie schlugen ihn" auch, ist Truffaut 1932 unehelich geboren und war zeitweise in einer Jugendstrafanstalt. Mit Hauptdarsteller Jean-Pierre Léaud hat Truffaut in vier weiteren Filmen die Geschichte seines Alter Egos Antoine Doinel fortgesetzt und dabei selbstironisch wie spielerisch biografische Details einfließen lassen – etwa seine lebenslange Sehnsucht nach einer heilen Familie. Auch Antoine verspürt diesen Wunsch – deshalb nistet er sich gerne bei den Eltern seiner Angebetenen ein, wie er in "Liebe auf der Flucht" von 1978 zugibt:
"Du gehst doch immer mit der gleichen Sorte von Mädchen, ich bin sicher, dass die Neue der alten gleicht. Du magst ja nur wohlerzogene, kleine Mädchen."
"Aber darum geht es doch überhaupt nicht. Wohlerzogen oder nicht, ich verliebe mich nie in ein bestimmtes Mädchen, ich verliebe mich immer in die ganze Familie, ich liebe den Vater und die Mutter. Ich liebe Mädchen mit netten Eltern."
Als "Hure der Filmindustrie" beschimpft
Truffaut hat mit Jean-Pierre Léaud über einen Zeitraum von 20 Jahren Antoines Entwicklung weitererzählt - ein bislang einzigartiges filmisches Projekt. Und wie in allen seinen Filmen ist auch hier das soziale Milieu präzise beschrieben. Dennoch hat sich Truffaut nie als politischer Regisseur verstanden - was ihm die Feindschaft seines früheren Nouvelle-Vague-Freundes Jean-Luc Godard eintrug, der ihn einmal als "Hure der Filmindustrie" beschimpft hat. Aber die Zeitverhältnisse spielen in Truffauts Filmen immer eine zentrale Rolle, so auch in "Die letzte Metro" von 1980. Der Film spielt im von den Deutschen besetzten Paris des Jahres 1942. Der jüdische Theaterdirektor Steiner muss sich im Keller seines Theaters verstecken, während seine Frau Marion das Haus weiterführt. Aus dem Versteck gibt er Probenanweisungen:
"Marion?"
"Ja?"
"Durch mein Bigofon habe ich die Probe der Liebesszene gehört zwischen Bernard und Dir."
"Ja und?"
"Ich weiß nicht, die erschien mir... die könnte besser sein."
"Was willst Du mir damit sagen?"
"Es ist die einzige Liebesszene in dem Stück, versuch ein wenig ehrlicher zu sein."
Damit forciert Steiner auch noch ungewollt die sich anbahnende Affäre zwischen Marion und ihrem Schauspielerkollegen. Wie so oft bei Truffaut entspinnt sich auch in "Die letzte Metro" eine vertrackte Liebesgeschichte, in der eine Frau – gespielt von Catherine Deneuve – zwischen zwei Männern steht. Mit Anspielungen auf Ernst Lubitschs "Sein oder Nicht sein" inszeniert Truffaut ein bewusst künstliches, doppelbödiges Spiel im Spiel, mit dem er das Thema der Kollaboration reflektiert - und zugleich großes Schauspielerkino inszeniert.
"Die letzte Metro" zeigt noch einmal viel von Truffauts filmischem Verständnis, wie man es in dieser stimmigen DVD-Edition nachvollziehen kann. Es fehlen zwar wichtige Filme wie etwa "Der Wolfsjunge", aber die geschickte Auswahl – ergänzt durch filmhistorische Einführungen und die frühen Kurzfilmen Truffauts - ergibt Sinn. Und sie gibt Gelegenheit, einige der schönsten Autorenfilme der Kinogeschichte wiederzusehen.