Françoise Sagan: "Die dunklen Winkel des Herzens"
Aus dem Französischen von Waltraud Schwarze und Amelie Thoma
Ullstein Verlag, Berlin 2019
192 Seiten, 20 Euro
Bourgeoise Tristesse
04:51 Minuten
Das Geraune im Vorfeld war enorm, seit ein unbekannter Roman von Françoise Sagan angekündigt wurde. Aber hätte die 2004 verstorbene Schriftstellerin selbst diese Schilderungen von Bordell-Besuchen und skandalösen Affären veröffentlichen wollen?
Schon Monate vor seinem Erscheinen rätselte die Pariser Literaturbranche, um was für ein Buch es sich handeln möge, das der Verlag Plon geheimnisvoll als Sensation ankündigte und die Zeitung "Le Monde" als "Atombombe" umraunte.
Mitte September wurde sie abgeworfen: Ein neuer, unbekannter, bislang unveröffentlichter Roman der Kultschriftstellerin Françoise Sagan. Nun erreicht er im Programm des Ullstein Verlags den deutschen Buchmarkt und fordert die Frage heraus, ob es sich möglicherweise eher um eine Bomben-, beziehungsweise eine Romanattrappe handelt.
Denis Westhoff, der Sohn und Erbe von Sagan, hat in ihrem Nachlass zwar Textteile und Entwürfe gefunden, einen abgeschlossenen Roman mit dem Titel "Die dunklen Winkel des Herzens", wie er auf Deutsch heißt, aber nicht. Diesen hat Westhoff nachträglich zusammengestellt und, wo sich Lücken auftaten, vorsichtig fertig geschrieben. Strengen editorischen Maßstäben genügt eine solche Arbeitsweise selbstredend nicht.
Ambiente der französischen Bourgeoisie
Aber Françoise Sagan, die im Jahr 1954 als Neunzehnjährige mit "Bonjour Tristesse" einen Weltbestseller landete und bis zu ihrem Tod 2004 die Öffentlichkeit mit Drogenexzessen, Affären, Gerichtsprozessen und einem Leben auf Jet-Set-Niveau in Atem hielt, zählte zu jenen Popstars der Literatur, denen vieles verziehen wird. Diese Nonchalance scheint sich auf den postumen Umgang mit ihrem Werk zu erstrecken.
Sujet, Personal, Handlung und Setting sind in der Tat "saganesk", wie Denis Westhoff den Roman im Nachwort charakterisiert. Er spielt, wie sämtliche Sagan-Romane, im Ambiente der französischen Bourgeoisie. Im Zentrum steht die Familie Cresson, der es nicht an Geld und Gütern mangelt, jedoch an menschlichen Umgangsformen. Der junge Ludovic, die Hauptfigur der Geschichte, ist nach einem schweren Autounfall und einem zweijährigen Klinikaufenthalt in sein herrschaftliches Elternhaus in der Provinz zurückgekehrt.
Seltsam anachronistisch
Ludovic wird von der eigenen Gattin verachtet, vom Vater herumkommandiert und von den restlichen Familienmitgliedern als Idiot behandelt. Er beginnt eine erotische Affäre mit seiner Schwiegermutter Fanny, deren Reize allerdings auch den Vater anlocken.
Dieser beratschlagt sich ausgerechnet mit der Betreiberin seines Lieblingsbordells, wie er es bewerkstelligen kann, seine Ehefrau gegen Fanny auszutauschen. Nebenbei werden im Haushalt der Cressons die Vorbereitungen für einen großen Ball getroffen.
Die Aneinanderreihung kurioser Episoden wirkt nicht nur etwas wahllos, sie wirkt auch seltsam anachronistisch. Als spiele der Roman nicht am Ende des 20. Jahrhunderts, sondern an dessen Beginn, in einer Kulturepoche, in der Patriarchen ihre sexuell ausgehungerten Söhne ins Bordell mitschleppten und skandalöse Affären den einzigen Fluchtweg aus der Trostlosigkeit des Daseins darstellten.
Es fragt sich, ob Françoise Sagan das unfertige Manuskript, das den 80er- oder 90er-Jahren entstammen soll, auch deshalb in der Schublade liegen ließ, weil sie an seinem literarischen Niveau und seiner historischen Konsistenz zweifelte. Neu ist dieser Roman, ein echter Sagan-Roman, nur bedingt.