Frank Goosen über das Ruhrgebiet

"Auch für mich geht etwas zu Ende"

Frank Goosen vor einer Backsteinmauer (Bild: Ira Schwindt)
Frank Goosen: Staub, der überall hinkriecht. © Ira Schwindt
Moderation: Andrea Gerk |
Frank Goosen ist ein Kind des Ruhrgebiets. Seine Bücher thematisieren das Leben "im Pott". Er sagt: Für die Menschen ist der Bergbau identitätstiftend. Wenn morgen für die Kumpel die letzte Klappe fällt, müsse das Erbe weiter gepflegt werden.
Andrea Gerk: Mit einer letzten Grubenfahrt in der Bottroper Zeche Prosper Haniel endet morgen der Steinkohlebergbau in Deutschland, der ja mal Motor des Wirtschaftswunders war. Der Schriftsteller Frank Goosen ist ein echtes Reviergewächs. 1966 in Bochum geboren und angeblich sogar auf Halde gezeugt, hat er in seinen Romanen über das Ruhrgebiet und seine Kindheit in den 70er- und 80er-Jahren geschrieben. Ende November kam auch die Verfilmung seines Romans "So viel Zeit" ins Kino. Ich bin jetzt mit ihm in einem Studio in Bochum verbunden. Hallo, Herr Goosen, schön, dass Sie da sind!
Frank Goosen: Hallo, schönen guten Tag! Ich sitze allerdings in Essen.
Gerk: Ach, na ja, das ist ja auch gleich um die Ecke. Wie fühlen Sie sich denn, wenn Sie daran denken, dass da morgen die letzte Grubenfahrt im Ruhrpott stattfindet? Geht da für Sie persönlich auch was zu Ende?

Der Onkel wechselte zu Krupp, Vater war Elektriker

Goosen: Auf jeden Fall geht auch für mich persönlich was zu Ende. Allerdings bin ich nicht ganz so nahe dran, weil ich nicht jetzt aus einer Pütt-Familie komme. Mein Opa väterlicherseits ist zwar noch eingefahren auf Zeche Konstantin in Bochum, aber den habe ich nicht mehr richtig kennengelernt. Der ist gestorben, als ich anderthalb war. Und mein Onkel ist dann zu Krupp gewechselt, und 1973, als ich sieben Jahre alt war, hat dann auch die letzte Zeche in Bochum, die Zeche Hannover, schon dichtgemacht.
Mein Vater war selbstständiger Elektriker, und die Familie meiner Mutter, also meine mehr oder weniger berühmte Oma, über die ich schon viel geschrieben habe, war im Öffentlichen Dienst bei der Stadt Bochum beschäftigt. Deshalb bin ich da nicht ganz so stark vom Bergbau geprägt worden. Aber es hat natürlich in unglaublicher Weise die gesamte Mentalität im Ruhrgebiet geprägt, und davon habe ich eine ganze Menge mitbekommen.
22.03.2018 Bochum ehemaliges Bergwerk Hannover . Ausstellung - Revierfolklore , zwischen Heimatstolz und Kommerz - Schalke und Bergmann Badeente
Ruhrpottfolklore - und ein gute Zusammenfassung dessen, was das Herz vieler Menschen in Bochum und Umgebung bewegt: Fußball und das Revier. © imago stock&people
Gerk: Sie waren auch gar nicht mal mit unter Tage, oder haben Sie das dann später in irgendeinem der Kulturdenkmäler mal gemacht? Da kann man das ja, glaube ich, auch noch ausprobieren?
Goosen: Ja, es gibt das Bergbaumuseum in Bochum, wo ich auch um die Ecke wohne. Aber das vermittelt nicht ansatzweise den Eindruck. Obwohl es toll ist, das muss man dazusagen. Ich bin zweimal in eine arbeitende Zeche eingefahren. Einmal auf Auguste-Viktoria in Marl und einmal im Bergwerk West, Kamp Lintfort, und ich darf sagen, das war lebensverändernd, weil man das wirklich mal mitgemacht haben muss, um die Bedingungen, unter denen da gearbeitet wurde, wirklich nachempfinden zu können.

Dunkelheit und Stille

Die Hitze, der Staub, der einem wirklich überall hin kriecht. Deshalb kriegt man ja alles bis hin zur Unterwäsche gestellt. Man kann ständig irgendwo gegenstoßen. Wenn man die Lampe ausmacht, hat man eine Dunkelheit, die man über Tag nicht kennt. Wenn alle mal die Klappe halten, hat man eine Stille, die man über Tage nicht kennt.
Als ich zu Hause wieder aus dem Auto ausstieg nach meiner ersten Grubenfahrt in Kamp Lintfort – ich hatte noch ein bisschen im Stau gestanden auf der A 42 –, habe ich gedacht, so muss es sein – das hat jetzt der Alexander Gerst erlebt, wenn er aus dem Weltall zurückkommt. Du fühlst dich doppelt so schwer. Und ich war nur drei, vier Stunden da unten gewesen. Ich kam um sieben Uhr abends nach Hause. Ich war, wie man sagt, fertig mit Schönschreiben. Pulle Bier auf, Nachrichten gucken, und lasst mich alle in Ruhe. Es war unglaublich eindrucksvoll.
Gerk: Damit ist ja auch so eine ganze Kultur, so eine Lebensart verbunden. Meine Oma lebte auch in Essen, und wenn ich da zu Besuch war, dann gab es da in der Kneipe, in die mein Onkel ging, einen Sparverein. Oder man ging zu Onkel Alois in den Schrebergarten. Es gab irgendwie Taubenzüchtervereine. Gibt es davon noch was? Lebt das auch ohne den Bergbau weiter, oder ist das komplett ausgestorben?

Auch die Schrebergärten im Pott sind heute anders

Goosen: Erst mal ist das genau das Wichtige, warum das jetzt so ein dramatischer Einschnitt ist. Es hat eben den Alltag der Leute auch durchdrungen, mit den ganzen Vereinen, die Sie angesprochen haben. Aber auch die Fußballvereine, die Männergesangsvereine, die ganze Kultur, die direkt an den Zechen dranhing, das ist natürlich im Verschwinden begriffen. Wir sehen aber zum Beispiel bei der Schrebergartenkultur, dass es hochgehalten wird.
Ich habe erst neulich für den WDR einen Film machen dürfen, der demnächst im März erst gesendet wird. Da haben wir eine moderne Schrebergärtnerin besucht, eine Musikmanagerin, die da mit ihrer Frau zusammen den Schrebergarten betreibt. Das heißt, die ganze Anlage ist diverser geworden. Da hängen türkische Fahnen, da hängt die VFL-Fahne, da hängt aber auch die Regenbogenfahne. Und das in einer ganz klassischen Kleingartenanlage. Das wird zum Beispiel hochgehalten.
Viele andere Sachen, also die Fußballvereine, die größeren Fußballvereine, von denen man so hört, auch wenn da auf Schalke gestern zu Recht das groß verabschiedet wurde, haben natürlich keinen direkten Kontakt mehr dazu.
Gerk: Aber dass da so eine große Toleranz herrscht im Ruhrgebiet, den Eindruck hatte ich auch immer. Oder ist das ein Klischee? So, wie Sie es gerade beschrieben haben, da lässt ja schon auch irgendwie so jeder jeden sein. Gehört das auch zu dieser speziellen Mentalität und auch zu diesem Humor, den Sie ja wirklich wunderbar beschreiben in Ihren Büchern?
Bildnummer: 53298959 Datum: 31.12.2001 Copyright: imago/Hans Blossey DEU, Deutschland, Bochum, NRW, Bergbaumuseum mit Zechenturm und Polizeiverwaltung.
Wahrzeichen Bochums: der Zechenturm des Bergbaumuseums.© imago stock&people
Goosen: Wenn ich jetzt in den letzten Jahren mit Bergleuten oder ehemaligen Bergleuten gesprochen habe, dann zog sich eines immer dadurch, oder zwei Sachen: Das eine ist das Wort Zusammenhalt. Zusammenhalt und Solidarität. Das ist gelebt worden, weil es auch unter Tage gar nicht anders ging. Du warst angewiesen auf Leute, mit denen du vielleicht über Tage überhaupt nichts zu tun haben wolltest. Weil wenn dir was passiert, dann dauert das eine halbe bis eine Stunde oder noch länger, bis Hilfe kommen kann. Das heißt, in der Zeit helfen dir nur die, die da unten sind. Und das führt zu Zusammenhalt. Und Zusammenhalt funktioniert eben nur auch durch Toleranz.

Der Bergbau war immer Integrationsmotor

Der Bergbau war immer ein Integrationsmotor mit unterschiedlichen Nationalitäten und Kulturen. Die berühmten Polen, dann später die Türken, die Italiener. Es gab mal in den 60er-Jahren eine starke Wanderungsbewegung aus Südkorea. Hochinteressante Sache, koreanische Bergleute im Ruhrgebiet, die alle voll integriert haben. Und da wurde wirklich gelebt. Es ist egal, wo du herkommst, Hauptsache, wir können uns auf dich verlassen. Man muss allerdings dazusagen, damals waren auch diese Gegensätze noch nicht so stark religiös unterfüttert. In der heutigen Zeit wage ich keine Diagnose, weil seit ein paar Jahrzehnten ist ja vieles – da kommt Religion mit ins Spiel, und dann wird es ja immer ein bisschen kitzeliger.
Gerk: Jetzt hat sich das Ruhrgebiet schon lange gewandelt, und durch den Strukturwandel ist das ja so eine Art Vorzeigeregion auch geworden. Aber Sie schreiben auch ganz schön, dass das eben noch gar nicht alle gemerkt haben. Oder bei Ihnen heißt es in dem Geschichtenband "Radio Heimat": "Wir im Ruhrgebiet laden Auswärtige gern ein, zu uns zu kommen, um ihren Begriff von Schönheit zu erweitern." Das ist ja nicht so eine pittoreske Schönheit im Ruhrgebiet oder so eine Idylle. Was macht denn für Sie die Schönheit des Ruhrgebiets aus?

Rauheit, die man sonst nirgendwo findet

Goosen: Das ist das Raue. Das, was man woanders nirgendwo findet. Das ist auch das Erbe der Schwerindustrie, sowohl der Stahlindustrie als auch des Steinkohlebergbaus. Und das ist auch wirklich das, was uns von anderen unterscheidet. Wenn Leute von außen drauf gucken, sagen die immer, ihr macht euch manchmal viel zu klein. Man muss ja die Leute für die Gegend hier interessieren, um zum Beispiel über Tourismus auch eine Perspektive hier, eine wirtschaftliche Perspektive auch zu entwickeln.
Was ja passiert. Das, was wir hier haben, die alten Zechen, die alten Stahlwerke, das ist ja woanders, zum Beispiel in England, komplett plattgemacht worden. Das sieht man alles gar nicht mehr. Unser Erbe hier ist sichtbar und wird gepflegt, und das ist für uns und für die Leute hier unheimlich wichtig, dass man auch im Nachhinein – das nimmt dann natürlich manchmal folkloristische, manchmal sogar kitschige Züge an. Aber Herrgott, in Bayern laufen sie mit Rasierpinseln am Hut rum und haben auch seit hundert Jahren keine Kuh auf die Alm getrieben.
Gerk: Und Sie bewahren das ja auch so ein bisschen in Ihren Romanen – was heißt ein bisschen? –, auf großartige Weise, finde ich. Wären Sie beleidigt, wenn man sagt, dass das auch in gewisser Weise Heimatromane sind?
Goosen: Nein. Erst mal kann man gegen die Schubladen und Stempel sowieso nichts machen. Deshalb, das ist vergebliche Liebesmüh. Ich hab halt nicht nur darüber geschrieben.

Seine neuen Bücher führen raus aus dem Ruhrgebiet

Gerk: Ja, in dem neuen Roman geht es ja auch weg aus dem Ruhrgebiet, nach Berlin.
Goosen: Schon das letzte Buch "Förster, mein Förster", da sind die dann ja an die Ostsee gefahren. Aber das könnte auch woanders spielen. Oder Sie haben die Verfilmung von "So viel Zeit" angesprochen. Da ist mir persönlich sogar zu viel Ruhrgebiet drin. Hätte man mir gesagt, wir lassen das in München spielen, hätte ich auch kein Problem damit gehabt, weil es da innerlich um was anderes geht. Und im neuen Buch, das pendelt halt zwischen Bochum und Berlin und Ostberlin im zweiten Halbjahr 1989, weil ich das Ruhrgebiet da ganz bewusst in einen größeren Fokus stellen wollte der Veränderungen, die in Deutschland 1989 passiert sind.
Gerk: Aber Sie werden nicht fertig mit dem Ruhrgebiet, hoffe ich.
Goosen: Nein, wie denn? Kann ja keiner. Man schreibt ja immer am besten vor der eigenen Haustür, weil man sich da am besten auskennt. Und ich schließe nicht aus, dass sich meine Romane auch noch weiter aus dem Ruhrgebiet entfernen werden zwischendurch immer wieder. Ich habe aber noch den einen oder anderen Plan für einen richtig großen Ruhrgebietsroman.
Gerk: Ich freue mich drauf, Frank Goosen. Vielen Dank für dieses Gespräch!
Goosen: Ich danke Ihnen auch!
Gerk: Und im Februar erscheint ein neuer Roman von Frank Goosen unter dem Titel "Kein Wunder" beim Verlag Kiepenheuer & Witsch.
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