Frank Sieren: Der China Code

Rezensiert von Jacques Schuster · 01.07.2005
In nicht allzu ferner Zukunft wird Rügen das Mallorca der Chinesen werden und die Ostseeküste ihre Costa del Sol. Scharen chinesischer Touristen werden die Ruhe am Bodensee genießen und in Berlin, München oder Hamburg den Altersdurchschnitt wenigstens im Sommer auf unter 60 Jahre drücken.
Die Luft wird wieder so gut sein wie vor der Industriellen Revolution, weil es keine Schwerindustrie mehr geben wird. Im Freizeitpark Deutschland werden die Menschen vornehmlich vom Tourismus leben. Als Hoteliers, Kellner und Fremdenführer können sie dann von den vergangenen Zeiten träumen, von den Jahren, in denen Deutschland noch Exportweltmeister war und nicht ihr Land, sondern China zur Dritten Welt gehörte.

Vielen Zuhörern mag diese Vorhersage zu düster erscheinen, und vielleicht wird es tatsächlich nicht ganz so grausam kommen. Dennoch wählt Frank Sieren dieses Bild in drastischer Deutlichkeit. In seinem Buch "Der China-Code" beschäftigt sich der Peking-Korrespondent der "Wirtschaftswoche" mit dem unaufhaltsamen Aufstieg der Chinesen. Glaubt man dem Verfasser, wird er dazu führen, dass Europa am Ende abgeschlagen sein wird und allenfalls die Vereinigten Staaten noch mit der Volksrepublik konkurrieren können. Sieren nennt die Fakten: Während sich Chinas Anteil an der Weltproduktion seit Beginn der achtziger Jahre auf fast dreizehn Prozent vervierfacht hat, sank der deutsche um ein Viertel auf 4,5 Prozent. Ähnlich sieht es in den meisten anderen Bereichen aus. In Deutschland gingen die Auslandsinvestitionen um fast zwei Drittel zurück, in China stiegen sie dagegen um gut 25 Prozent auf 54 Milliarden US-Dollar. Damit nicht genug, klagen wir seit Jahren über die Stagnation unserer Ökonomie. Die Chinesen dagegen verzeichnen ein Wirtschaftswachstum von jährlich neun Prozent. Hält diese Entwicklung an, wird China Deutschland in drei Jahren als drittgrößte Volkswirtschaft nach den USA und Japan abgelöst haben. Schon jetzt kann es sich keine Industrienation mehr leisten, die Volksrepublik zu ignorieren. Im Gegenteil: Wer seinen Wohlstand halten will, muss im Reich der Mitte investieren und gerät damit in seine Abhängigkeit. Sieren warnt:

"Die hohen deutschen Investitionen sind zwar gut für die dort tätigen deutschen Unternehmen, aber in der Summe schlecht für die Volkswirtschaft. Denn dass Deutschland im Jahr 2004 wieder Exportweltmeister wurde, sicherte zwar Arbeitsplätze, allerdings nur kurzfristig. Seit 2004 ist China zwar der zweitgrößte Käufer deutscher Waren, es kauft jedoch vor allem Produktionsanlagen, die künftig in China Arbeitsplätze schaffen. "

Gewandt legt Sieren dar, wie zielstrebig Peking die ausländischen Firmen im eigenen Land nutzt, um unabhängig zu werden und die westlichen Konkurrenten am Ende abzuhängen.

"Noch kaufen die Chinesen zwar unsere Maschinen, doch sie beginnen schon, sie selber herzustellen, manchmal in Lizenz, häufiger jedoch als Raubkopie. Oftmals verbieten sie sogar, Maschinen zu benutzen, die im Ausland hergestellt wurden. Der deutsche Transrapid darf ab 2010 nur dann in Shanghai fahren, wenn siebzig Prozent seiner Teile aus China stammen. Mit Hilfe dieser Auflagen wissen die Chinesen bald, wie Technologie funktioniert. Kein Land und keine Institution der Welt sind derzeit mächtig genug, den chinesischen Kopierern das Handwerk zu legen. "

Anhand dieser und vieler anderer Beispiele schildert der Autor, wie die Chinesen vorgehen und auf welch willfährige Weise die westlichen Unternehmen um Aufträge werben. "Konkubinenwirtschaft" nennt der Autor dieses System:

"Die Konkubinenwirtschaft besticht durch ihre einfache Konstruktion. Hersteller, die in der freien Wildbahn der Marktwirtschaft einen großen Bogen umeinander machen, lassen sich in China eine chinesische Muttergesellschaft aufzwingen, mit der sie ein Gemeinschaftsunternehmen aufbauen. Vom ersten Tag an buhlen die Ausländer um die Chance, ihren chinesischen Partner verwöhnen zu dürfen. "

Diese Teilhaber, so Sieren, halten meist die Mehrheit in den Gemeinschaftsunternehmen, haben das Sagen und streben danach, die Produkte - vornehmlich Autos, immer häufiger aber auch andere Spitzengüter - so schnell wie möglich selbst herzustellen. Am Ende der Entwicklung stünde China als Weltmacht dar, als Staat, der über kurz oder lang selbst die USA hinter sich lassen wird, fürchtet der Verfasser.

Darin mag er übertreiben. Überhaupt neigt Sieren dazu, noch in den undurchsichtigsten Kapillaren der chinesischen Volkswirtschaft Belege für Pekings Aufstieg zu finden. Die Schattenseiten der chinesischen Gesellschaft, die Armut der Landbevölkerung, der Zwang, jedes Jahr acht Millionen Arbeitsplätze für die auf den Markt drängende Jugend zu schaffen, kann auch dazu führen, dass Chinas Hau-Ruck-Wirtschaft schneller zusammenbricht als man heute denkt. Dennoch tut Sieren gut daran, die Deutschen wach zu rütteln. Nicht der britische Drang nach einer Freihandelszone bedroht Europa, wie viele meinen, sondern der riesige chinesische Markt mit seinen Billiglöhnen und der grenzenlosen Fähigkeit, westliche Produkte zunächst zu kopieren und dann zu übertreffen. Sieren schärft den Sinn für diese Gefahr. Deshalb sollte man seinen Zuspitzungen genauso verzeihen wie seiner um Tiefe bemühten Suche nach einem China-Code, den es in dieser Schlichtheit gar nicht gibt.

Ob man Sierens Fatalismus folgen und sich mit ihm am Bild des deutschen Zimmermädchens erfreuen sollte, das reiche chinesische Touristen bedient, sei dahin gestellt. Im Umgang mit China gibt es für Europa drei Möglichkeiten: Es kann versuchen, sich auf die globalisierte Welt einzustellen. Es kann mit Karl Marx darauf hoffen, dass im Reich der Mitte ein sich bildendes Bürgertum bald die Macht übernimmt und das Regime zu Fall bringt. Schließlich kann es auf Daniel Bell setzen. Der amerikanische Soziologe glaubt, dass jede Macht ihren Aufschwung als asketische Bewegung beginnt. Steht sie an der Spitze, setzt die Lust am Luxus und am schönen Leben ein. Im Sinne Europas rät der Verfasser dieser Zeilen zum ersten Weg. Wer den Aufstieg der Chinesen nur Schulter zuckend beobachtet, sieht am Ende nur noch deren Hinterteil.

Frank Sieren: Der China Code
Wie das boomende Reich der Mitte Deutschland verändert
Econ Verlag, Berlin 2005