Frank Sieren: "Shenzhen. Zukunft made in China"
Penguin Verlag, München 2021
416 Seiten, 22 Euro
Leben in der Hightech-Autokratie
05:58 Minuten
In der chinesischen 20-Millionen-Metropole Shenzhen können wir heute schon beobachten, wie die Zukunft vielleicht auch hierzulande aussehen könnte. Frank Sieren beschreibt eine glitzernde Hightech-Metropole – und ihre Schattenseiten.
"Shenzhen? Nie gehört, wo liegt das denn?" Das ist die Standardantwort, die man hierzulande bekommt, wenn man nach dieser Stadt fragt. Deshalb zur Orientierung vorweg: Shenzhen ist eine 20-Millionen-Metropole im Süden Chinas, direkt gegenüber Hongkong. Der seit fast 30 Jahren in China lebende Journalist Frank Sieren hat nun ein 400-Seiten-Buch über diese chinesische Stadt geschrieben, die viele gar nicht kennen. Ein gewagtes Unternehmen also. Aber dieses Wagnis muss sein. Diese Stadt muss bekannter werden, weil sie – wie Sieren zu Recht schreibt – "unsere Welt verändert".
Licht und Schatten der Glitzermetropole
In Shenzhen kann man schon heute besichtigen, was morgen oder vielleicht auch erst übermorgen hierzulande passieren könnte – im positiven wie im negativen Sinne. Hier wurde binnen kürzester Zeit der Verkehr einer Millionenstadt auf Elektro umgerüstet, hier beherrschen Roboter zunehmend den Alltag, hier verfolgen Drohnen Verkehrssünder, hier revolutionieren ortsansässige Konzerne das Gesundheitswesen und hier startet möglicherweise ein vegetarischer Boom.
Aber der Autor Frank Sieren verfällt nicht in blinde Techno-Euphorie, von der man durchaus ergriffen werden kann, wenn man sich zu lange in dieser dynamischen, pulsierenden Stadt aufhält. Sieren sieht und beschreibt auch die Schattenseiten dieser Glitzermetropole. Shenzhen ist für ihn "eine Modellstadt voller Ambivalenzen". Sieren zählt die Widersprüche der Metropole auf: Sie sei gleichzeitig totalitär und total cool, sie sei dörflich und futuristisch, typisch grün und hart wie Stahl, nachhaltig und verschwenderisch.
Kann der Westen von Chinas Modellstadt lernen?
In acht Kapiteln erklärt Sieren diese widersprüchliche und vielleicht gerade deswegen so faszinierende Stadt. Die Kapitel sind jeweils mit einem Verb überschrieben: Wohnen, Bewegen, Überwachen, Chillen, Vernetzen, Assistieren, Heilen und Essen. Diese originelle Einteilung ermöglicht dem Leser je nach Interesse, sich einzelne Info-Häppchen herauszupicken. In jedem dieser Kapitel treten viele Akteure und Protagonisten auf. Sieren sprach mit Architekten wie dem deutschen Ole Scheeren, die sich in dieser Stadt austoben und futuristische Konzepte umsetzen dürfen. Er besuchte Professor X, der das autonome Fahren in der Stadt einführt. Er tauchte mit einem Expat-Paar in die – ja, auch das gibt es - Subkultur Shenzhens ein. Und er porträtiert sehr ausführlich Ren Zhengfei, den Gründer des weltweit umstrittenen Telekommunikationskonzerns Huawei, das seinen Sitz in Shenzhen hat und ein weltweit einmaliges Managementmodell entwickelt hat. Diese geschickt integrierten Personality Stories gestalten dieses Sachbuch abwechslungsreich und das Lesen deshalb nie langweilig.
Dabei stellt Sieren immer wieder einen reflektierenden Bezug zu Deutschland, zum Westen her. Die unausgesprochene Frage, die permanent über dem Text schwebt, lautet: Können wir im Westen von dieser Modellstadt Shenzhen lernen? - Ja, sagt Sieren, wohlwissend, dass es sich um zwei verschiedene politische Systeme – hier demokratisch, dort autoritär - handelt. Letztere können Maßnahmen und Strategien von oben verordnen. Es geht deshalb nicht darum, das Modell Shenzhen eins zu eins zu übertragen, sondern gewisse, systemunabhängige Elemente. Eine erhöhte Bereitschaft und ein unverkrampftes Verhältnis zu Innovationen sind jedenfalls keine Fragen des Systems. In dieser Hinsicht können wir vom technologie-affinen Shenzhen lernen. Doch Lernen setzt voraus, dass wir erst einmal ein Lehrbuch zur Hand nehmen. Das Buch von Frank Sieren eignet sich dazu.