Ein reformierter Christ wird Bundespräsident
Mit Frank-Walter Steinmeier zieht nach dem Lutheraner Gauck erneut ein evangelischer Christ ins Schloss Bellevue: Der neue Präsident gehört den reformierten Christen an. Was das bedeutet, auch für seine Politik, erklärt Matthias Freudenberg.
Anne-Françoise Weber: Frank-Walter Steinmeier – SPD-Politiker, Jurist, Kanzleramtschef, Außenminister, diese Eckpunkte seiner Biografie sind bekannt. Weniger bekannt ist, dass Steinmeier bekennender reformierter Christ ist, also ein Protestant, der sich nicht auf Martin Luther, sondern vor allem auf Johannes Calvin bezieht. Die reformierten Christen sind in Deutschland eine kleine Minderheit. Weniger als zehn Prozent der Mitglieder der EKD, der Evangelischen Kirche in Deutschland, stellen sie, das sind nur rund zwei Millionen reformierte Christen.
Aber Minderheiten sind sich ihrer Eigenheiten ja oft besonders bewusst – und diesen Eigenheiten, auch dem vielleicht besonderen Politikverständnis, wollen wir jetzt nachspüren mit einem Experten für reformierte Theologie: Matthias Freudenberg ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Saarbrücken, Landespfarrer an der dortigen Evangelischen Studierendengemeinde, und hat zahlreiche Bücher zur reformierten Theologie veröffentlicht. Ich habe vor der Sendung mit Matthias Freudenberg gesprochen und ihn zunächst nach der Herkunftsgemeinde von Frank-Walter Steinmeier gefragt: Sie waren Vikar in der Gemeinde Schwalenberg, aus der Frank-Walter Steinmeier stammt – sie liegt in Ostwestfalen, im Gebiet der Lippischen Kirche. Auch wenn Steinmeier da schon nicht mehr dort wohnte, lässt sich da so ein kirchlich reformiertes Milieu beschreiben, das ihn geprägt hat?
Matthias Freudenberg: Ja, das ehemalige Fürstentum Lippe ist seit 1605 reformiert, ist eins der beiden reformierten Landeskirchen, die Lippische Landeskirche. Und hier ist Frank-Walter Steinmeier in einem durchaus reformierten Milieu aufgewachsen, das sich etwa dadurch auszeichnet, dass hier eine besondere Aufmerksamkeit auch für das Zusammenleben, das Miteinander im Ort, auch in der Kirchengemeinde stattfindet. Man kann davon sprechen, dass es eine gewisse konfessionelle Identität gibt, in der Menschen sich zu der Organisation oder eben Kirche halten und auch sehr bewusst diesen Weg wahrnehmen. Und ich habe den Eindruck, dass das bei Frank-Walter Steinmeier damals der Fall gewesen ist.
Heute gibt es mehr Gemeinsamkeiten mit den Lutheranern
Weber: Sie sagen, "eine Aufmerksamkeit für das Zusammenleben" – aber für das Zusammenleben unter Gleichgesinnten, oder? Denn Steinmeier hat auch in einer Rede beschrieben, dass er als Grundschulkind eigentlich gar keine Lutheraner oder Katholiken kannte, sondern wirklich in diesem komplett reformierten Milieu unterwegs war.
Freudenberg: Ja, so mag das noch in den 50er-, 60er-Jahren der Fall gewesen sein. Das hat sich natürlich inzwischen sehr weit auch aufgelöst, sodass Reformierte und Lutheraner viel mehr Gemeinschaft haben, als es früher der Fall gewesen ist. Eine wesentliche Marke auf diesem Weg war die sogenannte Leuenberger Concordia 1973, die die Konfessionsgrenzen weitgehend relativiert hat, sodass man heute im ehemaligen Fürstentum Lippe sagen kann, Reformierte und Lutheraner leben sehr einträchtig miteinander und freuen sich, dass es auch Katholische in diesem Land gibt.
Weber: Sie leben einträchtig miteinander – ist sich aber so der durchschnittsreformierte Christ noch gewisse theologische Unterschiede bewusst, oder ist auch das verschwunden?
Freudenberg: Weitgehend ist das verschwunden. Aber wenn man mit Blick auf die Historie das noch einmal nachvollzieht, kann man schon einige Identitätsmerkmale wahrnehmen. Also das eben schon genannte Blicken auf Strukturen, auf die Gestaltung einer gemeinsamen Leitung auch von Kirche. Vielen ist das heute gar nicht mehr bewusst, aber in der Weise, wie sie leben, ist das gelegentlich interessanterweise dann doch zum Vorschein gekommen. Ich nehme das bei Herrn Steinmeier auch so wahr, dass er ja immer wieder betont, dass das Zusammenleben auch im Blick auf die, die weniger privilegiert sind, die Not leiden, ihm ein besonderes Anliegen ist.
Über Obdachlosigkeit promoviert
Weber: Er hat ja auch über Obdachlosigkeit promoviert. Also da war durchaus auch dieser soziale Aspekt drin.
Freudenberg: Auf jeden Fall. Und seine Herkunft ist ja keineswegs die eines hoch begüterten jungen Mannes gewesen, sondern er stammt aus einer Arbeiterfamilie, im Hintergrund auch Landwirte. Sein Großvater musste das Land als Saisonarbeiter verlassen, um als Ziegler für Baustoffe im Ruhrgebiet zu sorgen. Also eine keineswegs sehr privilegierte Ausgangslage für den neuen Bundespräsidenten.
Weber: Eine reformierte Kirche erkennt man ja oft daran, dass im Mittelpunkt nicht ein Kreuz hängt, sondern die Kanzel. Ist das ein Zeichen, dass das Reformiertentum noch wortlastiger ist als das Luthertum, und dass vielleicht auch reformierte Christen besonders wortgewaltig sein können?
Freudenberg: Sie sagen "wortlastig" – ich würde es etwas anders sagen. Ich würde sagen, die Aufmerksamkeit auf das verkündigte Wort und im Hintergrund auf das Zeugnis der Bibel spielt in der Tat bei den Reformierten eine besondere Rolle. Ich nehme es eher als einen Reichtum wahr, dass die Reformierten so deutlich den Worten nachspüren, darin auch auf den Wegen derer sind, die dem Wort noch etwas zutrauen und die auch davon ausgehen, dass durch Worte das Leben eine Änderung, eine Aufhellung, ja einen Trost erfährt.
"Der Protestantismus ist ein plurales Phänomen"
Weber: Steinmeier hat einmal eine Grundüberzeugung in seiner Arbeit als Außenminister so beschrieben: "Nur, wenn wir die kulturellen, historischen und politischen Erfahrungen kennen, die das Denken und Handeln unserer Partner prägen, nur wenn wir diese zu verstehen suchen, nur dann werden wir in der Lage sein, gemeinsame Lösungen für die Probleme unserer Zeit zu finden. Das heißt ja, für ihn steht jetzt nicht die eine absolute Wahrheit im Vordergrund, sondern verschiedene Sichtweisen, die er verstehen will. Entspringt das auch so ein bisschen dieser Vielstimmigkeit der reformierten Theologie, die sich ja doch nie so zentralisieren und vereinheitlichen hat lassen wie das Luthertum?
Freudenberg: Eindeutig ja. Die Reformierten leben in einer großen Pluralität. Das geht schon auf die Anfänge zurück. Es gibt nicht die eine reformierte Kirche am Anfang, sondern es gibt die Kirche von Genf, die mit dem Namen Johannes Calvin sich verbindet, es gibt die Kirche von Zürich, die sich mit dem Namen Ulrich Zwingli verbindet. Und aus diesen beiden Urzentren reformierten Christentums sind dann weitere reformierte Kirchen schon im 16. Jahrhundert in ganz Europa entstanden und später in Nordamerika, dann Südafrika, Korea und im Lauf der Zeit natürlich in der ganzen Welt.
Und sie existieren in einer geradezu beglückenden pluralen Weise, sodass deutlich wird, der Protestantismus als solcher ist ein plurales Phänomen und kann sich nicht nur auf eine einzelne Person – bei aller Wertschätzung Martin Luthers – zurückbeziehen.
Weber: In letzter Zeit hat Steinmeier immer wieder den Westfälischen Frieden als Denkmodell für die Konfliktlösung im Mittleren Osten ins Gespräch gebracht. Wir wollen jetzt hier nicht über die Syrien-Politik oder Nahost-Politik der Bundesregierung debattieren, aber erscheint Ihnen diese Referenz zu diesem Friedensschluss, der ja auch für die Reformierten als Anerkennung ganz entscheidend war, auch irgendwie dadurch geprägt, dass eben Steinmeier reformiert ist?
Erst 1648 wurden die Reformierten in Deutschland anerkannt
Freudenberg: Ich denke, schon. Steinmeier ist sich natürlich dessen bewusst, dass erst 1648 tatsächlich für die Reformierten in Deutschland die Anerkennung vollzogen worden ist, fast ein Jahrhundert später, als bei den Lutheranern dies geschehen ist. Und daraus eben abzuleiten, dass nicht Konfessionen gegen Konfessionen kämpfen dürfen, ja überhaupt Menschen einander nicht Unrecht und Schaden zufügen dürfen, sondern das Gegenteil, dass es um Versöhnung, um Frieden, um Recht geht, das habe ich schon als eine wesentliche Linie von Steinmeier als Außenminister wahrgenommen, und ich kann mir gut vorstellen, dass er jetzt als Bundespräsident diesen Akzent in aller Geduldigkeit, die er selbst für sich ja auch in Anspruch nimmt, und zeigt, dass er diesen Akzent deutlich setzen wird.
Weber: Den Reformierten wird auch eine große Offenheit für den christlich-jüdischen Dialog zugeschrieben, weil eben das Alte Testament eine große Bedeutung hat, also die hebräische Bibel. Erwarten Sie da auch von Steinmeier Impulse als Bundespräsident vielleicht auch im Verhältnis zu Israel?
Freudenberg: Ich gehe davon aus, dass Frank-Walter Steinmeier im Blick auf Israel, aber auch im Blick auf das Zusammenleben von Menschen nichtjüdischen und jüdischen Glaubens in Deutschland deutliche und auch nachdenkliche Worte finden wird, nämlich dafür auch sich einsetzt, was etwa in unserer Kirche, der rheinischen Kirche, aus der ich komme, schon seit vielen Jahren auch ganz hoch gehängt wird und als ganz wichtig erachtet wird, nämlich dass sich Christen nur dann selbst recht verstehen, wenn sie auch im Gespräch mit Jüdinnen und Juden sind, und insbesondere zeigt sich das darin, dass die hohe Wertschätzung des Alten Testaments, der hebräischen Bibel zum Kernbestand evangelischer Verkündigung und kirchlichen Lebens gehört.
Das Gesetz als Gebot Gottes
Weber: Interessant ist ja auch die Rolle, die das Gesetz in der reformierten Theologie spielt. Bei Luther befreit man sich im Grunde vom Gesetz durch das Evangelium, und bei den zumindest Calvinisten ist das Gesetz doch mehr noch Teil des Erlösungsglaubens, oder?
Freudenberg: Ja. Das Gesetz wird bei den Reformierten in der Regel als Gebot verstanden, und zwar unter ganz positiven Vorzeichen, als Gottes Weisung hinein ins Leben verstanden. Nicht als etwas, was den Menschen klein hält oder gar knechtet, sondern das ihn in die christliche Freiheit hinausführt. Und hier hat etwa der für die Reformierten so wesentliche Heidelberger Katechismus einen entscheidenden Impuls gesetzt, indem er zunächst einmal ganz positiv äußert, dass die Gebote zu dem Bereich der Dankbarkeit des Menschen gehört. Das heißt, die Gebote zeigen, dass Menschen dankbar sein können, dass Gott sie in die Freiheit führt. Und diesen Akzent setzen Reformierte bis heute, und ich hoffe, auch in Zukunft.
Weber: Hat das jetzt aber Konsequenzen bis dahin, wie ein reformierter Jurist seinen Beruf versteht?
Freudenberg: Ich denke, indirekt schon, nämlich darin, dass ein Jurist auch danach schauen wird, wie Leben, Zusammenleben ermöglicht werden kann, wie Menschen, die in Rechtlosigkeit oder Not sich befinden, wieder Aufhellung in ihrem Leben erfahren. Dass das Gesetz nicht nur dazu da ist, Menschen abzuurteilen, sondern Menschen auch dazu führt, dass es ein gelingendes Zusammenleben in der Gesellschaft, übrigens auch in der Kirche geben kann. Also, ich erwarte mir schon, dass als gleichsam reformierte Grundierung bei Frank-Walter Steinmeier dieses Verständnis des Gesetzes als Gebot Gottes eine Rolle spielen wird.
Freiheit, Gnade und Verantwortung
Weber: Steinmeiers Vorgänger, Joachim Gauck, war früher Pfarrer in der lutherischen Landeskirche Mecklenburgs. Beim Staatsakt zur Eröffnung des Reformationsjubiläums hat er eine Rede gehalten, in der er Freiheit und Gnade als zwei zentrale Begriffe der Reformation herausgestellt hat, die auch für uns heute noch eine große Bedeutung haben. Ist das eine typisch lutherische Sichtweise der Dinge? Hätte da ein Reformierter andere Begriffe ins Zentrum gestellt, um diese Zeitenwende zu beschreiben?
Freudenberg: Ich sage immer gern, dass die Reformierten die konsequenteren Lutheraner sind, und das zeigt sich auch an dieser in sich völlig stimmigen Äußerung von Herrn Gauck. Gewiss, das gehört zusammen, Freiheit und Gnade, aber die Reformierten würden vielleicht noch einen dritten Aspekt hinzufügen, nämlich christliche Verantwortung. Eine Verantwortung, die sich im Leben, in der Freiheit eben zeigt. Das heißt, die christliche Freiheit ist nicht nur ein Prozess, der den Rückblick in eine sündhafte Vergangenheit eröffnet, sondern zugleich ein Vorausblick in eine Zukunft bietet, in der tatsächlich ein Leben in Freiheit, in Versöhnung, in Frieden, in Recht gestaltet werden kann.
Das heißt, dieser Dreiklang ist es, Freiheit, Gnade und christliche Verantwortung, der besonders für die Reformierten prägend ist. Damals haben Calvin und andere diese christliche reformierte Verantwortung mit dem Begriff der Heiligung umschrieben, um deutlich zu machen, es geht um einen Vorausblick in ein Leben, das schon auf ganz irdische Weise einen Abglanz, einen Vorausblick auf Gottes eigenes Reich bietet.
Reichtum und Besitz müssen geteilt werden
Weber: Der Soziologe Max Weber hat die These aufgestellt, die Prädestinationslehre im Calvinismus habe den Kapitalismus in besonderer Weise begünstigt. Das ist ja mittlerweile sehr umstritten, zumal der Gedanke, dass das eigene Schicksal sowieso von Gott vorherbestimmt ist, auch unter reformierten Christen nicht mehr so verbreitet ist. Aber was doch stimmt, ist, dass der Calvinismus oft mit ziemlicher Strenge und Askese einhergeht, also kein Prunk und Protz, sondern Verantwortung und Disziplin, Zurückhaltung. So was begünstigt natürlich auch Wirtschaftswachstum, also da erklärt sich dann auch wieder Max Webers These. Aber meinen Sie, das könnte auch einen neuen Stil im Schloss Bellevue prägen, also eine gewisse Nüchternheit, weniger Banketts, mehr Empfänge mit langen Reden und nur wenig Wein?
Freudenberg: Ob der Wein fehlt, das mag ich bezweifeln. Ich denke, dass Reformierte keineswegs diejenigen sind, wie man es ihnen gern nachsagt, dass die zum Lachen in den Keller gehen, sondern schon Calvin hat gesagt, der Weingenuss gehört zu den Freuden des Lebens und ist von Gott auch so gewollt. Aber abgesehen davon: Vielleicht weniger protzig geht es zu, obwohl ich nicht weiß, ob es bislang sehr protzig dort zugegangen ist. Es wird aber sicherlich eine Rolle spielen, dass Frank-Walter Steinmeier aus seinen Reformierten-Hintergründen einen besonderen Blick darauf hat, dass etwa Reichtum, dass etwa Besitz immer auch darauf angelegt sind, dass es geteilt werden muss. Dass immer diejenigen auch im Blick sein müssen, denen es weniger gut geht. Das hat er auch gelegentlich in Reden durchblicken lassen, dass es eben um den rechten Umgang mit Besitz geht und die äußere Darstellung von Luxus und Prunk jedenfalls nicht das ist, was einen reformierten Christen auszeichnet.
Nüchternheit und Bescheidenheit
Weber: Jetzt haben wir viel über Christentum geredet. Frank-Walter Steinmeier macht aus seinem Glauben ja wirklich keinen Hehl, ist beim Evangelischen Kirchentag engagiert, tritt in kirchlichen Kontexten auf. Bei Joachim Gauck als ehemaligem Pfarrer war das natürlich noch viel deutlicher. Nun ist aber ja doch das Christentum in Deutschland auf dem Rückzug, noch etwas mehr als die Hälfte der Bevölkerung gehört ihm an. Denken Sie, dass es irgendwann auch mal Zeit wäre für einen atheistischen Bundespräsidenten?
Freudenberg: Das mag gewiss so sein, und es war ja auch schon in der Debatte jetzt, vor der Wahl von Frank-Walter Steinmeier, danach gefragt worden, wäre das nicht an der Zeit. Also ich bin völlig entspannt bei der Frage, ob auch ein Bundespräsident muslimischen Glaubens für Deutschland eine gute Rolle spielen könnte. Nun haben wir einen evangelisch-reformierten Christen, Frank-Walter Steinmeier, als Bundespräsident, und ich bin davon überzeugt, dass er sicherlich auch auf dem Hintergrund einer gewissen Bescheidenheit, einer Nüchternheit keineswegs als Prediger durchs Land geht und damit Politik und die Aufgabe verwechselt, sondern er wird in seiner Funktion als Bundespräsident wahrnehmen, dass er eine christliche Grundierung hat, die seinem Leben einen Kompass, eine Orientierung gibt. Und das wird eine Rolle spielen für alle Menschen in Deutschland, auch für die, die anderen Glaubens oder keinen Glauben pflegen.
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