Frank Witzel: "Inniger Schiffbruch"
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2020
360 Seiten, 25 Euro
Blankes Sozialporträt der 60er-Jahre
04:56 Minuten
Frank Witzel vertieft sich in seinem Roman "Inniger Schiffbruch" erneut in seiner eigenen Geschichte. In einer Art Collage durchforstet er unter anderem den Nachlass seiner Eltern – und macht Lesern Brüche verständlich, die diese heute noch erleben.
Vielleicht braucht es am Anfang genau diesen Traum, einen Albtraum, der glaubhaft Frank Witzels breiten, immer wieder abzweigenden Erinnerungsreigen ankündigt und zugleich ein Bild für den anhaltenden Schrecken findet. Da streift der Erzähler Nacht für Nacht durch das verlassene Haus seiner verstorbenen Eltern, durch Dunkelheit und abgestandene Luft, bis ihn verendende Tiere, erst abgemagerte Hunde, dann ein riesiges dahinsiechendes Rhinozeros hochschrecken lassen.
Mit diesen sich wiederholenden Traumschleifen beginnt ein Erinnerungsmarathon, der zum einen in die Schrecken seiner Kindheit zurückführt und zugleich eine Mentalitätsgeschichte der jungen Bundesrepublik der 60er Jahre wird: Zwischen Kittelschürzen und Bärenmarke-Reklame, zwischen Internationalen Frühschoppen und dem fortwährenden Zweifel an der eigenen Erinnerung.
Eine Kindheit voller Verschweigen und Disziplin
Auch in seinem neuen Roman "Inniger Schiffbruch" schöpft Frank Witzel seine Literatur aus dem eigenen Erleben. In seiner Generationengeschichte ist der Leser buchstäblich mit dabei, wenn er nach dem Tod seiner Eltern deren Nachlass durchsucht. Wenn er sich im verwaisten Haus mit Notizbüchern, Familienfotos und Videos das Leben seiner Eltern und damit auch das seiner Kindheit in Erinnerung ruft. Seine Mutter, die als junges Mädchen aus ihrer schlesischen Heimat vor den Russen floh und nie darüber sprach. Sein strenger Vater, ein Kirchenmusiker, der selbst zu Hause die Krawatte nicht löste und penibel genau einen Kalender über "Franks Klavier- und Fernsehstunden" führte.
Eine Kindheit mit Verschweigen, mit Züchtigung und Disziplin, mit Tonband- und Fernsehverbot – umrahmt von einer zur Schau getragene Makellosigkeit, die Denken und Fühlen ausklammerte. "Inniger Schiffbruch" ist ein blankes Sozialporträt der 60er-Jahre, das seine Tiefe und Glaubwürdigkeit dadurch erhält, dass sich er selbst zur Verfügung stellt, ohne Wenn und Aber.
Dabei holt Frank Witzel große Erinnerungsmeister hinzu, deren Bücher er als Folie benutzt, um sich und seine Eltern besser zu verstehen: Walter Benjamin, Thomas Bernhard - und auf seiner Suche nach der verlorenen Zeit darf auch Marcel Proust nicht fehlen. Es ist ein wildes Erscheinen von Geistesgrößen, auch Adorno rät ihm im Traum, "auf das zu achten, was so gewöhnlich sei, dass man es gemeinhin nicht wahrnehme".
Frank Witzel will im Meer der Worte untergehen
Einem Erzähler wie Witzel, der sich ohnehin für ein breites Erzählen entschieden hat, muss man so etwas nicht sagen. Eine Unmenge an Träumen, Geschichten, Reflexionen setzt er auf 360 Seiten zu einer großen Collage zusammen, die auch kleinste Details, auch Banales, nicht auslassen. Witzel durchforstet unzählige Tagebücher seines Vaters, in denen dieser so gut wie alles festgehalten hat; selbst in dessen katholisches Aufklärungsbuch "Vom Jungmann zum Ehemann" aus den 50er-Jahren vertieft er sich. All das erzählt, weit über das Persönliche hinaus, was zu den Beschädigungen und Brüchen geführt hat, die wir heute noch erleben.
Es sind schließlich die von seinen Eltern so verehrten Gedichtzeilen von Giacomo Leopardi "Und Schiffbruch leid ich gern in solchem Meere", die sich Frank Witzel für seinen Titel leiht. Er weiß nur zu gut, dass mit seinem ausladenden Erzählen und permanentem Zweifel daran sein Schiffbruch gewissermaßen vorprogrammiert ist. Er ist ganz bewusst ohne Karte und Kompass in See gestochen, denn im Meer der Worte unterzugehen, hat für ihn etwas Beruhigendes. Frank Witzel feiert vielmehr seinen Schiffbruch – in gekonnter Weise: glaubhaft und vor allem innig. Denn vom Grunde auf lässt sich alles erzählen.