"Kritische Theorie hat mit Blick auf Rechtspopulismus viel zu bieten"
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Theodor W. Adorno beschrieb die Soziologie einmal als Fassadenkletterei: Sie bleibe an der Oberfläche gesellschaftlicher Entwicklungen. Wie steht es heute, 100 Jahre nach Gründung, um das Fach? Der Frankfurter Soziologe Ferdinand Sutterlüty antwortet.
Marietta Schwarz: Frankfurter Schule, Kritische Theorie, Achtundsechziger und Habermas: Das sind die Schlagwörter, die einem einfallen zum Institut für Sozialforschung in Frankfurt. 1923 gegründet, vier Jahre, nachdem in Frankfurt am Main der erste Lehrstuhl für Soziologie eingerichtet wurde an einer deutschen Universität überhaupt, 1919, also kurz nach dem Ersten Weltkrieg, ein Kind der Weimarer Republik. Und dieses 100-jährige Jubiläum feiern die Frankfurter Soziologen. Heute zum Festakt sprach Saskia Sassen und verbunden bin ich mit Ferdinand Sutterlüty, Soziologe und kommissarischer Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung. Herr Sutterlüty, was war denn das Besondere vor 100 Jahren, das Sie heute beziehungsweise in diesem Jahr so groß feiern?
Sutterlüty: Ich glaube, dass die Geschichte des Instituts für Sozialforschung und der Kritischen Theorie mit der Enttäuschung darüber anfängt, dass die Arbeiterklasse nicht unbedingt ihr eigenes Schicksal in die Hand nimmt und das Subjekt der geschichtlichen Entwicklung ist. Dann hat man versucht, zu erklären, wie es denn kommen kann, dass die Arbeiterschaft politischen Richtungen anhängt, die gar nicht unbedingt ihre Interessen vertreten. Und dann kam die Wende zur Psychoanalyse, man muss das mit unbewussten Dispositionen oder Neigungen versuchen, zu erklären.
Forschungsprogramm der Kritischen Theorie ist hochaktuell
Und so ist man dann sehr früh darauf gekommen, auf die sogenannten Studien über Autorität und Familie, also die Frage zu stellen, wie die Sozialisation, also die Erziehung von Kindern, mit der sozialen Struktur und deren Reproduktion zusammenhängt. Und das ist ein Markenzeichen der Kritischen Theorie geblieben, auf der einen Seite die sozialen Strukturen zu untersuchen, auf der anderen Seite aber auch die Seite der Subjekte, also wie Menschen innerpsychisch sozusagen funktionieren, wenn Sie so wollen, und wie das miteinander zusammenhängt. Und so haben die dann auch sehr früh den Weg hin zum Faschismus gesehen und erkannt, schon in den 30er-Jahren haben sie diese Tendenzen analysiert und untersucht. Und ich glaube, das ist ein Forschungsprogramm, das nach wie vor hochgradig aktuell ist, gerade wenn wir an neuere Entwicklungen im Bereich des Rechtspopulismus und des Rechtsextremismus denken.
Schwarz: Ist das auch etwas, was die Soziologie momentan umtreibt, genau diese Themen?
Sutterlüty: Das sind Themen, die die Soziologie nach wie vor umtreiben. Es gibt auch mittlerweile bekannte Studien aus den USA, aber auch aus Deutschland, die sich genau mit dem Aufstieg von Rechtsextremismus, Nationalismus und so weiter beschäftigen. Das ist eines der Themen, die auch heute mehrfach angesprochen wurden auf dem Festakt, 100 Jahre Soziologie in Frankfurt. Natürlich gibt es auch andere Themen wie etwa die ökologische Krise, die Entwicklung des Finanzsektors, der sich ablöst von der Realökonomie, das sind entscheidende Fragen, Digitalisierung, auch dort gibt es natürlich große Fragen, künstliche Intelligenz, also es gibt mehrere Punkte. Aber ich glaube, dass gerade die Tradition der Kritischen Theorie mit Blick auf die Entstehung von Rechtspopulismus, Rechtsextremismus ganz besonders viel zu bieten hat.
Das Moment der Rebellion ist konservativ
Ich glaube nicht, dass man das eins zu eins sozusagen von den 30er-Jahren auf heute umlegen kann. Aber dieser Grundansatz, sozusagen das Pendant zwischen gesellschaftlichen Entwicklungen und psychischen Dispositionen zu beforschen, das halte ich nach wie vor für äußerst vielversprechend. Schon in den 30er-Jahren wurde etwa von einem rebellisch-autoritären Syndrom gesprochen. Ich glaube, dass sich gerade heutige rechte Strömungen als rebellisch begreifen, insofern sie gegen das Establishment sind. Sie sind in diesem Sinne nicht autoritätshörig, gehen auf der anderen Seite aber davon aus, dass die Etablierten gegenüber den Später-Gekommenen Vorrechte haben müssten. Sie haben ein sehr konservativ-patriarchalisches Familienverständnis, das ist das autoritäre Element. Also das sind Begriffe, mit denen wir, glaube ich, heute noch sehr viel anfangen können, um eben gegenwärtige Phänomene besser zu verstehen.
Schwarz: Heute hatte, Sie haben das schon erwähnt, Saskia Sassen gesprochen, eine klassische Soziologin, würde ich mal sagen, wie auch ihr Mann Richard Sennett. Aber wenn wir jetzt an die sogenannte Frankfurter Schule denken, zum Beispiel an Adorno und Habermas, da würde man doch jetzt eher von Philosophie sprechen, oder? Ich frage mal anders: Wie würden Sie denn überhaupt die Grenze definieren zwischen Philosophie und Soziologie?
Sutterlüty: Das ist eine sehr gute Frage. Ich denke, Sie sprechen einen wichtigen Punkt an. Man kann sagen, dass die Kritische Theorie heutzutage vielleicht stärker mit Sozialphilosophie, auch mit ästhetischer Theorie verbunden wird und weniger mit der Soziologie. Man muss aber sagen, dass zum Beispiel die empirische Forschung über Autoritarismus am Institut für Sozialforschung mehrere Jahrzehnte umspannt hat. Das war sehr wichtig. Man muss sich vor Augen führen, dass die erste Generation der Kritischen Theorie empirische Forschung in Deutschland überhaupt erst eingeführt hat.
Kritische Theorie will Grenzen einreißen
Insofern ist die Kritische Theorie auch für die Soziologie natürlich sehr, sehr wichtig. Aber insgesamt steht die Kritische Theorie gerade für die Verknüpfung und nicht für die Separierung zwischen begrifflicher Reflexion, Sozialphilosophie – wenn Sie so wollen – auf der einen Seite, und auf der anderen Seite soziologisch-empirische Forschung. Natürlich war die Kritische Theorie insofern immer skeptisch gegenüber der Soziologie, weil sie die Befürchtung hatte, dass sich die Soziologie nur mit Oberflächenphänomenen beschäftigt. Adorno sprach einmal von der Soziologie als einer Disziplin von Fassadenkletterern sozusagen, die bearbeiten die Oberfläche, korrelieren ein paar Faktoren, wie sie miteinander zusammenhängen, haben aber gar nicht den Gesamtzusammenhang der Gesellschaft vor Augen. Damals sagte man, die gesellschaftliche Totalität. Und das ist, glaube ich, typisch für die Kritische Theorie, sozusagen die starren Grenzen zwischen Philosophie und Soziologie gerade einreißen zu wollen, also die begriffliche Reflexion theoretischer Arbeit mit empirischer Forschung zu verknüpfen.
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