Frankfurts neue Altstadt
Zwei Jahre lang hat ganz Frankfurt heftig über den Wiederaufbau der 1944 zerstörten Altstadt diskutiert, jetzt hat das Stadtparlament beschlossen, sie in Teilen zu rekonstruieren. Doch es gibt immer noch viele Unzufriedene. Die einen hätten am liebsten den historischen Grundriss detailgetreu wieder gehabt. Die anderen fürchten, dass mit der neuen Altstadt ein Disneyland entsteht.
Ein lauer Herbst-Spätnachmittag am Frankfurter Römerberg. Touristen und Einheimische sitzen beim Ebbelwoi vor den Traditionslokalen "Römerbembel" und "Standesämtchen". Der Apfelwein ist echt, die Fachwerk-Fassaden der sogenannten Römerberg-Ostzeile sind es nicht. Zugereisten wie Romano Martinez, Italiener aus der Pfalz, fällt das gar nicht auf.
"Ist nicht originale, des is nach’m Kriesch kaputt gemacht worden. – Ah, war zerstört, war zerstört, ja."
Wilder Mann, großer und kleiner Engel - alles wieder aufgebaut ab 1982, mit unterschiedlich hohen Giebeln, mit Erkern, Gauben und mehr frei liegendem Fachwerk, als die Häuser vor der Zerstörung tatsächlich zeigten. Geschönte Kopie oder Original – Touristen ist das ziemlich egal.
"Diese Gebäude ist sehr, sehr schön mit Erker raus und die spitze Dach, das ist sehr schön."
Von der Ostzeile fällt der Blick auf den Römer mit seinem Stufen-Giebel und den frisch vergoldeten Staturen. Als der Rat der Stadt Frankfurt am Main das Gebäude Anfang des 15. Jahrhunderts erwarb, war es ein schlichtes Patrizierhaus. Erst im vergangenen Jahrhundert hatte man es gemeinsam mit seinen Nachbarhäusern zum Rathaus einer stolzen Bürgerstadt aufpoliert. Gemeinsam mit Dom und Nikolaikirche wurde der Römer nach dem Krieg aus Ruinen wieder aufgebaut. Peter Germont, Frankfurter hugenottischen Ursprungs, deutet auf Ayo Dilli und dann auf den Balkon des Römers.
"Wir haben ihn gerade kennengelernt und versuchen ihm zu erklären, dass hier unsere Fußballstars gefeiert werden, wenn die was gewonnen haben. Und natürlich dass die Menschen hier heiraten können."
"Schön ist es hier, als Touristenattraktion finde ich es sehr schön. Ich bin zum ersten Mal in Deutschland und in Frankfurt, und ich werde so viel Schönes zu erzählen haben, wenn ich nach Nigeria zurück komme."
"Das ist typisch für Deutschland: Vieles wurde nach dem Krieg wieder aufgebaut. Das zeigt Stolz, die Leute sind stolz und wollen die Dinge so zurück haben wie sie vorher waren – als ob sie die dunkle Seite der Geschichte ihre Landes ausradieren wollten."
… überlegt Michelle Breton, Tourist aus Kanada. Doch bevor die Deutschen und speziell die Frankfurter an den Wiederaufbau gingen, versuchten sie, Geschichte auf sehr viel radikalere Weise auszuradieren, so erinnert sich der achtzigjährige Ernesto Melber, und denkt dabei an die Prachtexemplare der Altstadt, wie das Haus seines Ururgroßvaters, dessen gotisierende Bögen man nach dem Krieg noch flach legte.
"Wie bei der Goldenen Waage das Erdgeschoss ja noch fast völlig vorhanden war – hat man abgerissen. Das schöne Schauspielhaus, das stand ja auch noch, da war nur die Kuppel eingestürzt, ausgebrannt, da hieß es – hat man mir gesagt – 'das ist wilhelminische Herrschaftsarchitektur' und solche Argumente, man wollte ja auch die Alte Oper, einer der Oberbürgermeister hat ja mal gesagt: 'Die müssen wir sprengen.'"
"Zum Esslinger" hieß das Haus von Melbers Vorfahr, alias "Haus der Tante Melber".
"Das Haus hatte Mitte des 18. Jahrhunderts mein Ururgroßvater, als er die Schwester von Goethes Mutter, die Johanna Maria Textor heiratete, gekauft und es war eines der zentralsten und bekanntesten Handelshäuser in Frankfurt mit Messebetrieb und einem Laden vorne, wo alles mögliche einschließlich Süßholz verkauft wurde."
Der kleine Goethe kam gern her, vielleicht um "Süßholz zu raspeln", auf jeden Fall aber, weil er die lustige Tante mochte, nachzulesen in "Dichtung und Wahrheit", erster Teil.
"Seine Tante Melber war besonders kinderlieb und ihm besonders zugetan, es war sozusagen seine Lieblingstante. Und als Goethes Elternhaus im Großen Hirschgraben umgebaut wurde – der Umbau dauerte reichlich zwei Jahre – da wurden der junge Goethe und seine Schwester Cornelia bei der Schwester der Mutter, bei der Tante Melber, im Haus am Hühnermarkt untergebracht und hat dort während der zweiten Phase des Umbaus – etwa acht Monate lang – ständig gewohnt. Und Goethe beschreibt das in Dichtung und Wahrheit relativ ausführlich, wie er auf den Markt geblickt und das Markttreiben gesehen hat. Und er hat diese Eindrücke vier Jahrzehnte später in 'Hermann und Dorothea verarbeitet', als er dort die Häuser am Markt beschrieb."
Das Haus der Tante Melber lag da, wo nach dem Krieg ein Hügel über U-Bahn und Tiefgarage angeschüttet wurde. Da, wo sich Anfang der Siebziger ein hässlicher grauer Elefant mit seinem unvorstellbar breiten Hintern auf den Grundriss der Frankfurter Marktgässchen setzte, samt dem vormals zentralen Platz, nach seiner Bestimmung "Hühnermarkt" genannt. Über den rostigen Stahlträgern des Betonelefanten alias Technisches Rathaus bröselt der Beton.
"Diese Aussparung hier zitiert den Hühnermarkt."
… erklärt der junge Geograf Sven Ott und schaut dabei selbst etwas ungläubig auf den eckigen Elefanten. Ganz unten zwischen dessen Beton–Stampfern ist Platz für öde Souvenir-Läden, China-Gastronomie und ein Cafe, das DDR-Platte atmet.
Ein paar Schritte weiter vor der lang gestreckten Kunsthalle Schirn schauen zwei junge Mütter zu, wie ihre Kinder eine lange steile Treppe hinunter stürmen und unten auf Mauerresten balancieren. Der sogenannte Archäologische Garten: mit Beton befestigte Reste der karolingischen Königshalle, einer römischen Therme und mittelalterlichen Häusern. Was aus dem Archäologischen Garten wird, dazu haben sich die Stadtverordneten noch nicht abschließend geäußert, ein Architektur-Wettbewerb soll Lösungen vorschlagen. Aber zum Wiederaufbau von Teilen der historischen Altstadt, zur detailgetreuen Rekonstruktion von mindestens sechs, sieben Häusern und zum wenigstens kulissenhaften Wiederaufbau auf dem Dom-Rönmer Areal hat sich das Frankfurter Stadtparlament unlängst durchgerungen. Die beiden jungen Mütter, die oberhalb des Archäologischen Gartens ein Keks-Picknick improvisieren, haben ihre Meinungen dazu:
"Rekonstruieren würde ich nicht sagen, dann machen wir ja Disneyland hier aus Frankfurt. Das haben wir ja schon – der Römer ist ja auch nicht original."
"Also ich finde das ganz gut, wenn das historisch nachgebaut wird, weil ich finde, dass ja in Frankfurt viel in moderne Architektur investiert worden ist, was ich auch gut finde, ich bin eigentlich eher modern eingestellt. Aber: ich finde die Kombination aus alt und neu macht’s dann doch letztendlich, denn wir sind einfach ein Land mit Historie, nicht immer rühmlicher Historie, aber ich finde trotzdem, dass es gefördert werden sollte, dass man es erhält und das nach konstruiert, weil einfach zu viel kaputt gegangen ist."
Wiederaufbau der kriegszerstörten Altstadt zumindest im Dom-Römer-Kernbereich, mehr als ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende? Die Durchreisenden aus dem kanadischen Montreal zeigen erstaunlich viel Verständnis für die Marotte:
"Ich finde das nicht verrückt, im Gegenteil: Ich denke, man will den Kontakt zu den eigenen Wurzeln behalten und ich bewundere das. In Amerika haben wir nicht so viel Geschichte hinter uns. Wir rekonstruieren nicht. Wenn wir ein neues Haus bauen, dann bauen wir ein neues Haus."
"So lange es Teil eines Prozesses kultureller Bereicherung ist, finde ich es großartig."
Der Italiener aus der Pfalz erinnert im Sprachduktus ein wenig an Fußballtrainer Giovanni Trappatoni und formuliert seinen Rat an die Frankfurter nicht ganz so intellektuell: Lasst das Alte!
"Lasciare il vecchio - immer konservativ sein."
Das wussten die Frankfurter "Altstadtfreunde" und die Bürgerinitiative "Pro Altstadt" schon längst. Die Anhänger der kleinteilig-gemütlichen Vorkriegsbebauung im Herzen der Stadt wurden nicht müde, frühere modernistische Entwürfe als in Wahrheit "betonistisch" zu geißeln, so nachdrücklich und öffentlichkeitswirksam, bis sie vom Tisch waren. Zahllose Versammlungen und Foren, auf denen Bürger wie der Architekt Peter Westrup immer wieder eines lautstark forderten:
"Wir wollen das ehemalige Gesamtkunstwerk, was die Altstadt vor der Zerstörung in ganz Deutschland war. Die Frankfurter Altstadt war die schönste mittelalterliche Altstadt Deutschlands, wir wollen ja nur einen ganz kleinen Teil davon, aber den wollen wir so, wie er war."
Magistrat und Stadtverordnete gaben dem Druck der Basis teilweise nach: mindestens sechs der früher 48 Häuser zwischen Dom und Römer sollen mit Hilfe der Stadt detailgetreu auf alten Grundrissen wieder aufgebaut werden. Mehr sind dann möglich, wenn sich Investoren finden. Und genau dafür legen sich Altstadt-Fans wie Jürgen Aha jetzt ins Zeug. Er hat das Frankfurter Altstadtforum mit gegründet, Treffpunkt für engagierte Bürger und Akteure aus der Finanz- und Immobilienbranche:
"Die Stadt Frankfurt am Main hat beschlossen, dass die Vergabe an einzelne Bauherren läuft, Haus für Haus. Wir haben darauf hin eine Registrierungsliste aufgelegt. Die hat natürlich keine Verbindlichkeit, aber sie wird in der Immobileinbranche ernst genommen: 48 Interessenten, die Einzelhäuser oder Wohnungen kaufen wollen oder mit Gastronomie oder Einzelhandel einziehen wollen – es sind unterschiedliche Leute. Allerdings alles Leute mit hoher Bonität und echtem Interesse."
Die Töchter von Ernesto Melber erwägen, ein Café in Frankfurts neuer Altstadt zu eröffnen, Kelterer hoffen auf lauschige Orte für Apfelwein-Schänken, ein stadtbekannter Parfümerie-Inhaber sieht die Chance, das kriegszerstörte Stammhaus der Familie wieder zu eröffnen. Prächtige Stuckdecken im Inneren, Kapitelle und Schnitzereien an den Fassaden sehen die Altstadt-Bewohner und -Händler in spe bereits vor ihrem geistigen Auge, alles handgefertigt nach historischen Plänen und Fotografien, die unermüdlich zusammengetragen werden. Wer soll das bezahlen? Heidrun Christensen, Vorsitzende von Pro-Altstadt, hat die Antwort sofort parat.
"Wir würden auf jeden Fall Gelder sammeln, wir würden ein Forum erarbeiten, so wie es in Dresden auch passiert ist. Wir verstehen uns so, dass wir jetzt helfend mit eingreifen."
Es geht darum zu verhindern, dass die von den Stadtverordneten ebenfalls zugelassene Option, neue Häuser sozusagen in eine spitzgieblige Altstadt-Kulisse zu verpacken, zum Zuge kommt - daraus macht die Kunsthändlerin Gerlinde Teutschbein gar keinen Hehl.
Hinterm Dom hat Teutschbein ihre Galerie, in der sie Bilder niederländischer und flämischer Romantiker verkauft. Eine tote Gegend, seit die Frankfurter Altstadt eine Neustadt ist. Touristen, die sich durch die architektonische Ödnis vom Römer bis zum Dom vorgewagt haben, sind da zumeist schon erschöpft von der Unübersichtlichkeit und finden nicht mehr den Weg zum Weckmarkt hinunter. Die Händlerin ist im Stress, aber für ein Gespräch über die Altstadt hat sie immer Zeit:
"Ich bin nämlich im Messeaufbau, anschließend bin ich auf der Kunstmesse in München und zehn Tage später auf der Kunstmesse in Köln, das ist alles ganz knapp hintereinander, deswegen stehen da schon die ganzen Mappen. Ich mach das alles alleine. Und das ist auch meine Idee für die Nutzung. Es ist nicht mehr wie früher: Einer sitzt im Geschäft und wartet gemütlich, bis jemand kommt. Davon kann man weder leben, noch Miete bezahlen. Sondern, man muss die andere Zeit nutzen. Wer jetzt unten einen Verkaufsraum hat und kann über eine Treppe hoch gehen und oben hat er jetzt seine Werkstatt, der kann die Zeit nutzen und Schmuckdesign machen. Kommt jemand, geht er runter, kann denjenigen mit bedienen, das heißt: arbeiten und verkaufen in einem. Ich sitze hier abends oft bis sieben, acht, neun, und wäre dankbar, wenn ich auch hier wohnen könnte."
Wohnen und arbeiten in Frankfurts neuer Altstadt, einer lebendigen Altstadt mit Handwerk, Design und anspruchsvollen Touristen, die genau das anzieht – das ist die Vision der Galeristin, die inmitten gediegener Mahagoni-Möbel, zwischen goldener Seidentapete und beigefarbenem Teppichboden in einem Augenblick voller Hingabe vom zarten Licht flämischer Romantiker schwärmt und im nächsten fast martialisch zum "Häuserkampf" bläst, gegründet auf ein Wahlversprechen, das ihr von Oberbürgermeisterin Petra Roth, CDU, gegeben wurde, nämlich
"Die Altstadt wird wieder auf gebaut und da hieß es nicht, einige Häuser und die übrigen modern, und daran halten wir uns auch. Und wir kämpfen Haus um Haus, Straße um Straße, Platz und Platz."
.
… sagt die hagere Sechzigjährige, die eine ockerfarbene Seidenbluse trägt und so gar nicht wie eine Revoluzzerin wirkt. Am Abend tagt das Altstadtforum. Der Häuserkampf in Frankfurt am Main geht in eine neue Runde. Aber ganz bürgerlich.
"Ist nicht originale, des is nach’m Kriesch kaputt gemacht worden. – Ah, war zerstört, war zerstört, ja."
Wilder Mann, großer und kleiner Engel - alles wieder aufgebaut ab 1982, mit unterschiedlich hohen Giebeln, mit Erkern, Gauben und mehr frei liegendem Fachwerk, als die Häuser vor der Zerstörung tatsächlich zeigten. Geschönte Kopie oder Original – Touristen ist das ziemlich egal.
"Diese Gebäude ist sehr, sehr schön mit Erker raus und die spitze Dach, das ist sehr schön."
Von der Ostzeile fällt der Blick auf den Römer mit seinem Stufen-Giebel und den frisch vergoldeten Staturen. Als der Rat der Stadt Frankfurt am Main das Gebäude Anfang des 15. Jahrhunderts erwarb, war es ein schlichtes Patrizierhaus. Erst im vergangenen Jahrhundert hatte man es gemeinsam mit seinen Nachbarhäusern zum Rathaus einer stolzen Bürgerstadt aufpoliert. Gemeinsam mit Dom und Nikolaikirche wurde der Römer nach dem Krieg aus Ruinen wieder aufgebaut. Peter Germont, Frankfurter hugenottischen Ursprungs, deutet auf Ayo Dilli und dann auf den Balkon des Römers.
"Wir haben ihn gerade kennengelernt und versuchen ihm zu erklären, dass hier unsere Fußballstars gefeiert werden, wenn die was gewonnen haben. Und natürlich dass die Menschen hier heiraten können."
"Schön ist es hier, als Touristenattraktion finde ich es sehr schön. Ich bin zum ersten Mal in Deutschland und in Frankfurt, und ich werde so viel Schönes zu erzählen haben, wenn ich nach Nigeria zurück komme."
"Das ist typisch für Deutschland: Vieles wurde nach dem Krieg wieder aufgebaut. Das zeigt Stolz, die Leute sind stolz und wollen die Dinge so zurück haben wie sie vorher waren – als ob sie die dunkle Seite der Geschichte ihre Landes ausradieren wollten."
… überlegt Michelle Breton, Tourist aus Kanada. Doch bevor die Deutschen und speziell die Frankfurter an den Wiederaufbau gingen, versuchten sie, Geschichte auf sehr viel radikalere Weise auszuradieren, so erinnert sich der achtzigjährige Ernesto Melber, und denkt dabei an die Prachtexemplare der Altstadt, wie das Haus seines Ururgroßvaters, dessen gotisierende Bögen man nach dem Krieg noch flach legte.
"Wie bei der Goldenen Waage das Erdgeschoss ja noch fast völlig vorhanden war – hat man abgerissen. Das schöne Schauspielhaus, das stand ja auch noch, da war nur die Kuppel eingestürzt, ausgebrannt, da hieß es – hat man mir gesagt – 'das ist wilhelminische Herrschaftsarchitektur' und solche Argumente, man wollte ja auch die Alte Oper, einer der Oberbürgermeister hat ja mal gesagt: 'Die müssen wir sprengen.'"
"Zum Esslinger" hieß das Haus von Melbers Vorfahr, alias "Haus der Tante Melber".
"Das Haus hatte Mitte des 18. Jahrhunderts mein Ururgroßvater, als er die Schwester von Goethes Mutter, die Johanna Maria Textor heiratete, gekauft und es war eines der zentralsten und bekanntesten Handelshäuser in Frankfurt mit Messebetrieb und einem Laden vorne, wo alles mögliche einschließlich Süßholz verkauft wurde."
Der kleine Goethe kam gern her, vielleicht um "Süßholz zu raspeln", auf jeden Fall aber, weil er die lustige Tante mochte, nachzulesen in "Dichtung und Wahrheit", erster Teil.
"Seine Tante Melber war besonders kinderlieb und ihm besonders zugetan, es war sozusagen seine Lieblingstante. Und als Goethes Elternhaus im Großen Hirschgraben umgebaut wurde – der Umbau dauerte reichlich zwei Jahre – da wurden der junge Goethe und seine Schwester Cornelia bei der Schwester der Mutter, bei der Tante Melber, im Haus am Hühnermarkt untergebracht und hat dort während der zweiten Phase des Umbaus – etwa acht Monate lang – ständig gewohnt. Und Goethe beschreibt das in Dichtung und Wahrheit relativ ausführlich, wie er auf den Markt geblickt und das Markttreiben gesehen hat. Und er hat diese Eindrücke vier Jahrzehnte später in 'Hermann und Dorothea verarbeitet', als er dort die Häuser am Markt beschrieb."
Das Haus der Tante Melber lag da, wo nach dem Krieg ein Hügel über U-Bahn und Tiefgarage angeschüttet wurde. Da, wo sich Anfang der Siebziger ein hässlicher grauer Elefant mit seinem unvorstellbar breiten Hintern auf den Grundriss der Frankfurter Marktgässchen setzte, samt dem vormals zentralen Platz, nach seiner Bestimmung "Hühnermarkt" genannt. Über den rostigen Stahlträgern des Betonelefanten alias Technisches Rathaus bröselt der Beton.
"Diese Aussparung hier zitiert den Hühnermarkt."
… erklärt der junge Geograf Sven Ott und schaut dabei selbst etwas ungläubig auf den eckigen Elefanten. Ganz unten zwischen dessen Beton–Stampfern ist Platz für öde Souvenir-Läden, China-Gastronomie und ein Cafe, das DDR-Platte atmet.
Ein paar Schritte weiter vor der lang gestreckten Kunsthalle Schirn schauen zwei junge Mütter zu, wie ihre Kinder eine lange steile Treppe hinunter stürmen und unten auf Mauerresten balancieren. Der sogenannte Archäologische Garten: mit Beton befestigte Reste der karolingischen Königshalle, einer römischen Therme und mittelalterlichen Häusern. Was aus dem Archäologischen Garten wird, dazu haben sich die Stadtverordneten noch nicht abschließend geäußert, ein Architektur-Wettbewerb soll Lösungen vorschlagen. Aber zum Wiederaufbau von Teilen der historischen Altstadt, zur detailgetreuen Rekonstruktion von mindestens sechs, sieben Häusern und zum wenigstens kulissenhaften Wiederaufbau auf dem Dom-Rönmer Areal hat sich das Frankfurter Stadtparlament unlängst durchgerungen. Die beiden jungen Mütter, die oberhalb des Archäologischen Gartens ein Keks-Picknick improvisieren, haben ihre Meinungen dazu:
"Rekonstruieren würde ich nicht sagen, dann machen wir ja Disneyland hier aus Frankfurt. Das haben wir ja schon – der Römer ist ja auch nicht original."
"Also ich finde das ganz gut, wenn das historisch nachgebaut wird, weil ich finde, dass ja in Frankfurt viel in moderne Architektur investiert worden ist, was ich auch gut finde, ich bin eigentlich eher modern eingestellt. Aber: ich finde die Kombination aus alt und neu macht’s dann doch letztendlich, denn wir sind einfach ein Land mit Historie, nicht immer rühmlicher Historie, aber ich finde trotzdem, dass es gefördert werden sollte, dass man es erhält und das nach konstruiert, weil einfach zu viel kaputt gegangen ist."
Wiederaufbau der kriegszerstörten Altstadt zumindest im Dom-Römer-Kernbereich, mehr als ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende? Die Durchreisenden aus dem kanadischen Montreal zeigen erstaunlich viel Verständnis für die Marotte:
"Ich finde das nicht verrückt, im Gegenteil: Ich denke, man will den Kontakt zu den eigenen Wurzeln behalten und ich bewundere das. In Amerika haben wir nicht so viel Geschichte hinter uns. Wir rekonstruieren nicht. Wenn wir ein neues Haus bauen, dann bauen wir ein neues Haus."
"So lange es Teil eines Prozesses kultureller Bereicherung ist, finde ich es großartig."
Der Italiener aus der Pfalz erinnert im Sprachduktus ein wenig an Fußballtrainer Giovanni Trappatoni und formuliert seinen Rat an die Frankfurter nicht ganz so intellektuell: Lasst das Alte!
"Lasciare il vecchio - immer konservativ sein."
Das wussten die Frankfurter "Altstadtfreunde" und die Bürgerinitiative "Pro Altstadt" schon längst. Die Anhänger der kleinteilig-gemütlichen Vorkriegsbebauung im Herzen der Stadt wurden nicht müde, frühere modernistische Entwürfe als in Wahrheit "betonistisch" zu geißeln, so nachdrücklich und öffentlichkeitswirksam, bis sie vom Tisch waren. Zahllose Versammlungen und Foren, auf denen Bürger wie der Architekt Peter Westrup immer wieder eines lautstark forderten:
"Wir wollen das ehemalige Gesamtkunstwerk, was die Altstadt vor der Zerstörung in ganz Deutschland war. Die Frankfurter Altstadt war die schönste mittelalterliche Altstadt Deutschlands, wir wollen ja nur einen ganz kleinen Teil davon, aber den wollen wir so, wie er war."
Magistrat und Stadtverordnete gaben dem Druck der Basis teilweise nach: mindestens sechs der früher 48 Häuser zwischen Dom und Römer sollen mit Hilfe der Stadt detailgetreu auf alten Grundrissen wieder aufgebaut werden. Mehr sind dann möglich, wenn sich Investoren finden. Und genau dafür legen sich Altstadt-Fans wie Jürgen Aha jetzt ins Zeug. Er hat das Frankfurter Altstadtforum mit gegründet, Treffpunkt für engagierte Bürger und Akteure aus der Finanz- und Immobilienbranche:
"Die Stadt Frankfurt am Main hat beschlossen, dass die Vergabe an einzelne Bauherren läuft, Haus für Haus. Wir haben darauf hin eine Registrierungsliste aufgelegt. Die hat natürlich keine Verbindlichkeit, aber sie wird in der Immobileinbranche ernst genommen: 48 Interessenten, die Einzelhäuser oder Wohnungen kaufen wollen oder mit Gastronomie oder Einzelhandel einziehen wollen – es sind unterschiedliche Leute. Allerdings alles Leute mit hoher Bonität und echtem Interesse."
Die Töchter von Ernesto Melber erwägen, ein Café in Frankfurts neuer Altstadt zu eröffnen, Kelterer hoffen auf lauschige Orte für Apfelwein-Schänken, ein stadtbekannter Parfümerie-Inhaber sieht die Chance, das kriegszerstörte Stammhaus der Familie wieder zu eröffnen. Prächtige Stuckdecken im Inneren, Kapitelle und Schnitzereien an den Fassaden sehen die Altstadt-Bewohner und -Händler in spe bereits vor ihrem geistigen Auge, alles handgefertigt nach historischen Plänen und Fotografien, die unermüdlich zusammengetragen werden. Wer soll das bezahlen? Heidrun Christensen, Vorsitzende von Pro-Altstadt, hat die Antwort sofort parat.
"Wir würden auf jeden Fall Gelder sammeln, wir würden ein Forum erarbeiten, so wie es in Dresden auch passiert ist. Wir verstehen uns so, dass wir jetzt helfend mit eingreifen."
Es geht darum zu verhindern, dass die von den Stadtverordneten ebenfalls zugelassene Option, neue Häuser sozusagen in eine spitzgieblige Altstadt-Kulisse zu verpacken, zum Zuge kommt - daraus macht die Kunsthändlerin Gerlinde Teutschbein gar keinen Hehl.
Hinterm Dom hat Teutschbein ihre Galerie, in der sie Bilder niederländischer und flämischer Romantiker verkauft. Eine tote Gegend, seit die Frankfurter Altstadt eine Neustadt ist. Touristen, die sich durch die architektonische Ödnis vom Römer bis zum Dom vorgewagt haben, sind da zumeist schon erschöpft von der Unübersichtlichkeit und finden nicht mehr den Weg zum Weckmarkt hinunter. Die Händlerin ist im Stress, aber für ein Gespräch über die Altstadt hat sie immer Zeit:
"Ich bin nämlich im Messeaufbau, anschließend bin ich auf der Kunstmesse in München und zehn Tage später auf der Kunstmesse in Köln, das ist alles ganz knapp hintereinander, deswegen stehen da schon die ganzen Mappen. Ich mach das alles alleine. Und das ist auch meine Idee für die Nutzung. Es ist nicht mehr wie früher: Einer sitzt im Geschäft und wartet gemütlich, bis jemand kommt. Davon kann man weder leben, noch Miete bezahlen. Sondern, man muss die andere Zeit nutzen. Wer jetzt unten einen Verkaufsraum hat und kann über eine Treppe hoch gehen und oben hat er jetzt seine Werkstatt, der kann die Zeit nutzen und Schmuckdesign machen. Kommt jemand, geht er runter, kann denjenigen mit bedienen, das heißt: arbeiten und verkaufen in einem. Ich sitze hier abends oft bis sieben, acht, neun, und wäre dankbar, wenn ich auch hier wohnen könnte."
Wohnen und arbeiten in Frankfurts neuer Altstadt, einer lebendigen Altstadt mit Handwerk, Design und anspruchsvollen Touristen, die genau das anzieht – das ist die Vision der Galeristin, die inmitten gediegener Mahagoni-Möbel, zwischen goldener Seidentapete und beigefarbenem Teppichboden in einem Augenblick voller Hingabe vom zarten Licht flämischer Romantiker schwärmt und im nächsten fast martialisch zum "Häuserkampf" bläst, gegründet auf ein Wahlversprechen, das ihr von Oberbürgermeisterin Petra Roth, CDU, gegeben wurde, nämlich
"Die Altstadt wird wieder auf gebaut und da hieß es nicht, einige Häuser und die übrigen modern, und daran halten wir uns auch. Und wir kämpfen Haus um Haus, Straße um Straße, Platz und Platz."
.
… sagt die hagere Sechzigjährige, die eine ockerfarbene Seidenbluse trägt und so gar nicht wie eine Revoluzzerin wirkt. Am Abend tagt das Altstadtforum. Der Häuserkampf in Frankfurt am Main geht in eine neue Runde. Aber ganz bürgerlich.