Antisemitismus in Frankreich

Die Angst ist allgegenwärtig

27:10 Minuten
Eine Frau Kniet auf einem Gehweg, wo Blumen und Kerzen zum Gedenken stehen.
Das Attentat an der jüdischen Ozar Hatorah-Schule in Toulouse am 19. März 2012 hat das Leben für viele Juden in Frankreich verändert. © imago / ChristianNitard / Panoramic
Von Léonardo Kahn |
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Als am 19. März 2012 ein Islamist in einer jüdischen Schule vier Menschen erschießt, ist das ein Wendepunkt für viele Juden in Frankreich. Auch zehn Jahre nach dem antisemitischen Attentat ist das Land traumatisiert.
Toulouse, 19. März 2012, 8 Uhr morgens: Mohammed Merah steigt vor der jüdischen Schule Ozar Hatorah von seinem Scooter. Erst erschießt er Jonathan Sandler, dann dessen beide Kinder: Arieh und Gabriel. Sein viertes Opfer heißt Myriam Monsonégo, die acht-jährige Tochter des Schulleiters.
Es ist das erste antisemitische Attentat seit dem Zweiten Weltkrieg, das von einem Franzosen begangen wurde. Lange tappen die Behörden im Dunkeln, was die Hintergründe des Attentats angeht. War es ein verrückter Einzeltäter? Oder steckt doch ein rechts-radikales Netzwerk dahinter?
Mitten im Präsidentschaftswahlkampf tötet jemand sieben Menschen, darunter drei Kinder. Die Hypothese, das Attentat könnte islamistisch motiviert sein, wurde damals von der Politik und den Medien ausgeklammert, erzählt der damalige Bürgermeister von Toulouse Pierre Cohen:
„Es stimmt, wir waren damals schlecht vorbereitet. Am ersten Tag kreiste das Gerücht, es handle sich um einen Rechtsextremisten, weil das für uns in der Zeit schlüssiger erschien.“

Der Dschihad kam nach Frankreich

Mohamed Merah war Toulouser. In Afghanistan und Pakistan radikalisiert, brachte er den Dschihad nach Frankreich. Für viele französische Juden war das Attentat ein Wendepunkt, erklärt der Antisemitismushistoriker Pierre Birnbaum.
„Dieser Fall hat das jüdische Leben in Frankreich tief greifend erschüttert. Mohammed Merah ist Franzose, er ist in Frankreich zu einer öffentlichen Schule gegangen. Er ist ein Toulouser, vielleicht hatte er sogar einen Akzent, aß Couscous oder Würste, was weiß ich. Und dann tötet er kleine Mädchen, eine Kugel in den Kopf, kleine Mädchen auf dem Schulhof, weil sie Jüdinnen sind. Das ist unvorstellbar.“
Zehn Jahre ist der Anschlag nun her. Die jüdische Schule wurde in Ohr Torah umbenannt, auf Deutsch Licht der Torah. Ein Zweieinhalb-Meter hoher Blechzaun trennt das Gelände von der Außenwelt. Über dem Zaun hängt Stacheldraht. Mehrere Sicherheitskameras überwachen den Eingang.
Maëva Benaiche. Eine junge Frau mit langen lockigen Haaren steht an einer Steintreppe.
Die Fotografin Maëva Benaiche war damals Schülerin der jüdischen Ozar Hatorah-Schule.© Deutschlandradio / Leonardo Kahn
Maëva Benaiche war damals 15, als drei ihrer Mitschüler erschossen wurden. Heute arbeitet sie als Fotografin. Im Haupteingang der Schule hängt eine Ausstellung von ihr.
„Mit meinen Fotos wollte ich zeigen, dass die Schule nur von außen verriegelt aussieht. Ich weiß nicht, wie viele Kameras Schulen üblicherweise haben, doch das hier ist nicht normal. Und auch der Stacheldraht. Die Schüler sind hier von der Außenwelt abgeschottet", sagt Maëva Benaiche.

Ein Friedensbaum aus Stahl

Der Innenhof wirkt hingegen recht normal: Kinder spielen, Jugendliche verstecken sich zum Rauchen. Mitten auf dem Platz steht ein Friedensbaum aus Stahl, auf denen die Namen der vier Opfer eingraviert sind. Die Nachmittagssonne spiegelt sich im Monument und projiziert Licht auf den Asphalt. Es ist Maëva Benaiches Lieblingsmoment des Tages.
„Siehst du das Licht, das sich im Baum spiegelt und kleine Leuchtspuren auf den Boden macht? Ich weiß nicht warum, aber das tut mir gut", sagt Maëva Benaiche.
Eine Schule mit Bäumen und Pflanzen davor.
"Die Schüler sind hier von der Außenwelt abgeschottet", sagt Maëva Benaiche über ihre alte Schule.© Deutschlandradio / Leonardo Kahn
Das Attentat vom 19. März 2012 hat ihr soziales Umfeld komplett verändert, vor allem ihre Familie. Ihr Vater Patrick Benaiche war damals einer der Ersten, der zum Tatort geeilt ist. Heute ist er Wachmann der Schule.
1,90 Meter groß, tiefe Augenhöhlen und einen fein gepflegten Henriquatre Bart: Patrick Benaiche ist wohl nicht zufällig Sicherheitsbeamter geworden.

"Sie haben meine Tochter ermordet!"

Er erzählt über das Attentat, will jedoch nicht dabei aufgenommen werden. Die Erinnerungen seien zu frisch. Er zeigt mit dem Finger die Straße hinauf.
"Dort Oben lief der Schulleiter hin und her. Er schrie: ´Sie haben Myriam umgebracht! Sie haben meine Tochter ermordet!` Er lief die Straße rauf und runter – wie ein Verrückter. Der Nachbar hat zwei Stühle rausgebracht und ich habe ihn mit ganzer Kraft darauf festgehalten, bis er sich beruhigen konnte. Das, was ich gesehen habe, wünsche ich keinem auf der Welt. Auch zehn Jahre danach läuft es mir kalt den Rücken runter, schau!“, sagt Patrick Benaiche.
Der Wachmann fährt mit der flachen Hand über seinen Vorderarm – seine weißen Haare stehen zu Berge. Seine Tochter Maëva erzählt, das Attentat sei in ihrer Familie ein Tabuthema.
„Wir haben darüber noch nie gemeinsam gesprochen, genauso wie ich auch meine Freunde nicht danach gefragt habe, wie es für sie war. Ich hatte Angst, mich ungeschickt zu verhalten oder dass mir jemand ins Gesicht sagt: ´Du kannst das nicht verstehen, weil du nicht dabei warst.`“
Maëva Bernaiche ist an dem Montag nicht zur Schule gegangen. Auch zehn Jahre danach plagen sie Schuldgefühle.

Gedenken in Toulouse mit der Politikelite

Am 20. März wird in Gedenken an die Opfer eine Trauerzeremonie veranstaltet. Staatschef Emmanuel Macron und der israelische Präsident Isaac Herzog besuchen die Schule, und auch die ehemaligen Präsidenten Nicolas Sarkozy und François Hollande sind vor Ort, genauso wie vor zehn Jahren.
Die Trauerzeremonie wird vom jüdischen Dachverband CRIF organisiert, eine Organisation, die Politikern das Anliegen der Juden vermittelt. Ihr Vorsitzender aus Toulouse, Franck Touboul, fordert von den anwesenden Politikern eine klare Haltung gegen radikale Elemente des Islams.
„Frankreich hat aktuell ein Problem mit dem radikalen Islam. Es zu bekämpfen, bedeutet nicht den Rechtsextremisten in die Karten zu spielen, ganz im Gegenteil, es bedeutet, Menschen zu retten.“

Politisierung des Attentats

Damals wie heute wird das Attentat politisiert. Damals wie heute ist Antisemitismus ein aktuelles Problem in Frankreich.
Das American Jewish Comittee, kurz AJC, hat im Januar in Zusammenarbeit mit der Stiftung für politische Innovation eine Studie veröffentlicht, der zufolge drei von vier französischen Juden in ihrem Leben antisemitisch beleidigt werden und jeder Vierte wegen seiner Religion physisch angegriffen wird.
Simone Rodan-Benzaquen ist einer der Co-Leiterinnen des Forschungsprojektes. Die gebürtige Deutsche ist vor 20 Jahren nach Paris gezogen.
Simone Rodan. Eine junge Frau mit langen dunklen Haaren steht auf einem Platz.
Vor 20 Jahren konnte man in Frankreich vergessen, dass man jüdisch ist, sagt Simone Rodan.© Deutschlandradio / Leonardo Kahn
„Als ich vor mittlerweile fast 20 Jahren nach Frankreich gekommen bin, hat mir vor allem etwas gefallen, was ich in Deutschland nicht gefunden habe: Die Tatsache, dass man vergessen konnte, dass man jüdisch ist. In Deutschland ist das fast unmöglich. Und in Frankreich war das ganz anders, ich kann mich erinnern, ich habe damals Fernsehshows gesehen, wo man zum Beispiel Patrick Bruel oder irgendwelche andere französisch-jüdische Sänger und so weiter hatte und ich habe mir damals eben gedacht:
Unglaublich, niemand weiß, dass er jüdisch ist und auch wenn sie es wissen, ist es ihnen egal. Das hat mir ursprünglich wahnsinnig gefallen in Frankreich, das hat sich natürlich um einiges geändert. Nicht so sehr in der Art und Weise wie man Juden in Frankreich sieht, aber die Art und Weise wie man sein Judentum erlebt in Frankreich und angesehen der Tatsache, dass man einfach diesen Antisemitismus hat und dass man einfach Angst hat.“

Religiöse Zeichen werden aus Angst versteckt

Die Zahl judenfeindlicher Angriffe stieg zuletzt rasant. Im Vergleich zum Vorjahr um 75 Prozent– fast dreimal so stark wie in Deutschland. 73 Prozent aller Straftaten mit religiös motiviertem Hintergrund wurden gegen Juden verübt, obwohl diese in Frankreich nur ein Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen.
Aus Angst verstecken viele mittlerweile religiöse Zeichen wie Kippa oder Davidstern. Da die meisten Aggressionen in der Schule stattfinden, bitten über die Hälfte aller Eltern ihre Kinder darum, ihr Judentum nicht öffentlich zur Schau zu stellen. Juden, die in Banlieues leben, sind dabei noch etwas vorsichtiger, erklärt Simone Rodan-Benzaquen. Juden fühlen sich nicht überall gleich sicher.
„Dann gibt es natürlich einen Unterschied zwischen Städten. Zum Beispiel die Stadt Toulouse, wir haben ja die zehn Jahre seit dem terroristischen Anschlag in Toulouse erlebt. Da hat man eine ganze Stadt, von französischen Juden, die total traumatisiert sind. Und das Leben ist einfach nie wieder das gleiche geworden.“

Stark verbreitete antisemitische Vorurteile

Auffällig an der Studie ist, dass offenbar je nach Milieu unterschiedliche antisemitischen Vorurteile vorherrschen. So denkt etwa jeder dritte Wähler einer extremistischen Partei, dass Juden in der Wirtschafts- und Finanzwelt zu viel Macht hätten. Das ist bei Jean-Luc Mélenchons linken Wählerschaft so und auch bei der rechts-populistischen Kandidatin Marine Le Pen.
Bei der muslimischen Bevölkerung hingegen scheint über die Hälfte der Befragten zu glauben, dass Juden einen zu großen Einfluss auf Medien hätten. Bei über 50-jährigen Muslimen und denen, die wöchentlich die Moschee besuchen, erreicht dieser Wert über 60 Prozent.
Französische Politologen sprechen in diesem Zusammenhang von einem „neuen Antisemitismus“, so Simone Rodan.
„Das, glaub ich, war eines der großen Probleme, die wir einfach in Frankreich hatten jahrelang seit Anfang der 2000er, einfach zu sehen, dass der Antisemitismus nicht mehr der Gleiche ist, es ist nicht mehr die Rechtsextreme, es sind nicht mehr nur Neonazis.
Antisemitismus ist heute einfach anders und er kommt leider von einer Minderheit, die selber natürlich unter Rassismus leidet, unter Diskrimination leidet, aber man kann von einer Minderheit sein und trotzdem selbst rassistisch sein, und das war, glaube ich, ein der Schwierigkeiten, die viele auf der französischen Linken hatten, aber nicht nur auf der französischen Linken, die generell die französische Gesellschaft hatte.“

Auf Stimmenfang mit Antisemitismus

Da Identitätsfragen im aktuellen Wahlkampf eine zentrale Rolle einnehmen, wird auch viel über den Antisemitismus verschiedener Präsidentschaftskandidaten debattiert. Ein Name, der dabei oft auftaucht, ist der des früheren Essayisten Éric Zemmour.
Mithilfe historischer Falschaussagen versucht er, das Narrativ über die Judendeportation unter dem Vichy-Regime zu manipulieren. Dem Hobbyhistoriker zufolge habe Marschall Philippe Pétain 1942 lediglich ausländische Juden an die Nazis ausgeliefert. Dazu ein Auszug aus der Fernsehsendung On n'est pas couché:
Éric Zemmour: „In Wahrheit geht Vichy einen Pakt mit dem Teufel ein. Das heißt, er verhandelt mit den Deutschen und sagt, wir geben euch ausländische Juden und er besteht darauf, dass sie die französischen Juden nicht anrühren. Man kann das schrecklich finden. Man muss sich nur vor Augen führen, dass die Deutschen in den Ländern, die mit ihnen nicht verhandelt haben, sie alle Juden vernichtet haben wie in den Niederlanden.“
Moderatorin: „Es war nicht Pétain, der die Juden gerettet hat, sondern die Zivilbevölkerung!“
Éric Zemmour: „Ganz und gar nicht, das ist der herrschende Diskurs.“
Moderatorin: „Hat Pétain die Juden gerettet?“
Éric Zemmour: „Pétain hat französische Juden gerettet, ja!“

Pétain hat keine Juden gerettet!

Dass Philippe Pétain keine Juden gerettet hat, sondern dass drei Viertel der Juden in Frankreich trotz der antisemitischen Politik von Philippe Pétain überlebt haben – darüber sind sich Forscher seit den 70ern einig. Der Historiker Laurent Joly hat deshalb im Januar ein Essaybuch über Éric Zemmours Falschaussagen zur Judendeportation publiziert. Es sei schlimm, dass man seinetwegen die öffentliche Debatte um 50-Jahren zurückversetze, so Laurent Joly.
„Das ist das Merkwürdige am Phänomen Zemmour. Es ist seine Fähigkeit, alte Kontroversen zu recyceln, die uns in die 50er-Jahre zurückversetzen. Letzten Endes nimmt Zemmour unsere politische Gesellschaft mit seinen eigenen Versessenheiten als Geisel. Denn er ist wirklich der Einzige, der diesen Diskurs führt.“
Stellt sich bloß die Frage, warum er das tut. Dem Historiker Laurent Joly zufolge, versucht er die Antisemitismusfrage in eine Frage nach nationaler Zugehörigkeit umzuformulieren. Vichy habe ausländische Juden an Deutschland ausgehändigt, um die französischen Juden zu schützen, und so sollte die Regierung auch heute ihre Staatsbürger bevorzugen. Laurent Joly zufolge ist das die Strategie des rechtsextremen Kandidaten Éric Zemmour.

Stimmungsmache gegen Migranten und Juden

“Eric Zemmour ist der Ansicht, dass Frankreich sich für die Judendeportation schäme und dass das uns lähmen würde. Er meint, diese kollektive Schuld führe dazu, dass das Problem der Ausländer nicht erkannt würde weswegen Maßnahmen umgesetzt würden, um Frankreich von den Migranten zu befreien. Zemmour ist der Meinung, dass die französische Gesellschaft einen Komplex hat, und er möchte diesen Komplex auflösen.“
Ende März kündigte der rechtsextreme Kandidat sogar an, ein Abschiebungsministerium gründen zu wollen, sollte er die Präsidentschaftswahl gewinnen.
Auch wenn Éric Zemmour Juden nie direkt als Bevölkerungsgruppe angreift, so zeigt sich der jüdische Dachverband CRIF trotzdem besorgt. Der ehemalige Essayist habe sich unzählige Mal antisemitisch verhalten: Zum Attentat in Toulouse schrieb er zum Beispiel, dass die jüdischen Opfer keine wahren Franzosen seien, weil sie in Israel beerdigt wurden.
Als seine Wahlgegner daraufhin von Journalisten auf den Antisemitismus des rechtsextremen Kandidaten angesprochen wurden, behaupteten einige Kandidaten wie etwa der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon im Fernsehsender BFMTV, Éric Zemmour könne kein Antisemit sein, da er selbst algerisch-jüdische Wurzeln habe.
“Ein antisemitischer Jude, das ist Mal eine Neuigkeit! Ja ich denke sie irren sich. Herr Zemmour ist kein Antisemit, da er kulturelle Verhaltensweisen von Juden reproduziert: ´Wir vermischen uns nicht mit anderen Kulturen, um Himmels Willen!.` Das sind Traditionen die mit dem Judentum in Verbindung stehen. Und das hat auch seine guten Seiten, denn dadurch konnten sie im Laufe der Geschichte überleben. Also, ich glaube nicht, dass er Antisemit ist.“  

Besorgniserregender Präsidentschaftswahlkampf

Der grüne Kandidat Yannick Jadot hingegen tut sich nicht schwer, den früheren Kolumnisten Zemmour einen Antisemiten zu nennen. Die Art wie er das Mitte Februar im jüdischen Hörfunk Radio J tut, wirft allerdings auch Fragen auf.
Yannick Jadot: „Eric Zemmour unterscheidet von Jean-Marie Le Pen, dass er selbst Jude ist. Er ist ein Jude im Dienst der Antisemiten.“
Moderator: „Das ist schlimm, was Sie da sagen.“
Yannick Jadot: „Na klar! Aber es ist viel schlimmer, was Éric Zemmour mit unserer Gesellschaft anrichtet.“
Auch aufgrund solcher Aussagen zeigen sich viele Juden besorgt über den Präsidentschaftswahlkampf. Der jüdische Dachverband CRIF ruft vehement dazu auf, nicht für extremistische Kandidaten zu stimmen.
Doch die Einstellung der Dachorganisation teilt nicht jeder. Der Shoa-Überlebende und Historiker Serge Klarsfeld ist zum Beispiel der Meinung, dass es Juden historisch gesehen nie besser ging.
Beate und Serge Klarsfeld. Eine ältere Frau und ein älterer Mann stehen in einem Raum.
"Eine winzige Minderheit kann enormen Schaden anrichten", sagt Serge Klarsfeld. Hier mit seiner Frau Beate Klarsfeld.© Deutschlandradio / Leonardo Kahn
„Der Präsident des jüdischen Dachverbands tut ständig so, als gäbe es die Apokalypse, dabei gibt es die nicht. Ja, es gab Attentate, es gab Drohungen und so weiter. Aber die Drohungen erfolgen über das Internet. Eine winzige Minderheit kann enormen Schaden anrichten. Die Realität ist, dass es Juden in der Menschheitsgeschichte noch nie besser ging. Es gibt einen jüdischen Staat und im Westen stehen ihnen alle Möglichkeiten offen.“
Und trotzdem: Seit zehn Jahren werden in Europa wieder Juden ermordet. In Frankreich ausschließlich im Namen des Islams. Das spaltet die französische Gesellschaft. Am zehnten Jahrestag des Attentats in Toulouse sprechen die linken Kandidaten nur von Antisemitismus und die rechten Kandidaten nur von Islamismus.
Antisemitischer Terrorismus sollte hingegen als gesamt-gesellschaftliches Problem betrachtet, und nicht politisch instrumentalisiert werden, beteuert die Forscherin Simone Rodan-Benzaquen.
„Wenn die Rechte nur den Antisemitismus sieht, wenn er von der Linken kommt und die Linke den Antisemitismus nur sieht, wenn er von der Rechten kommt und es im Endeffekt kein nationaler Konsens gibt, um alle Formen von Antisemitismus zu bekämpfen.“
Immerhin sind laut Studie des AJCs, drei von vier Franzosen der Meinung, dass Antisemitismus ein Problem sei, das die ganze Bevölkerung etwas anginge. Das sei ein Fortschritt, meint die Leiterin der Studie:
„Ich glaube, wenn wir die Frage gestellt hätten vor zehn Jahren, hätten wahrscheinlich die meisten Franzosen gesagt, dass es ein Problem für die jüdische Gemeinde ist. Heute ist das nicht der Fall. Ungefähr 75 Prozent aller Franzosen glauben, dass das Problem des Antisemitismus ein Problem für die ganze Gesellschaft ist. Das ist für mich einer der wichtigsten Aspekte, weil ja natürlich ist es wichtig, dass Politiker gegen Antisemitismus kämpfen. Aber ich glaube, einer der wichtigsten Sachen und was mir bis jetzt ein bisschen gefehlt hat, ist eine Mobilisierung der Gesellschaft.“

Nur wenige Juden gehen weg

„Glücklich wie ein Jude in Frankreich“, das russische Sprichwort stammt aus dem 19. Jahrhundert, als sich die Hälfte aller Franzosen gegen die kafkaeske Verurteilung des jüdischen Generals Alfred Dreyfus einsetzte. Diese Solidarität innerhalb der französischen Gesellschaft wiederholte sich auch während der NS-Besatzung. Drei-Viertel der jüdischen Bevölkerung hat dank der Zivilcourage vieler Franzosen überlebt.
Heute ziehen einige Juden aus Frankreich weg, doch die überwiegende Mehrheit bleibt. Alleine in Paris leben dreimal so viele Juden wie in ganz Deutschland.
Auch Maëva Bernaiche bleibt mit ihrer Familie in Toulouse.
Maëva Bernaiche: „Anders als andere Freunde wollte ich nie von hier weg. Das Gras ist anderswo nicht unbedingt grüner und so führe ich lieber hier mein Leben fort.“
Seit zwei Jahren wandern weniger französischer Juden nach Israel aus als in den Jahren zuvor. Ob das an der Pandemie lag oder daran, dass sie sich in Frankreich wohlfühlen, wird sich allerdings erst zeigen, wenn die Pandemie überwunden ist.

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