Frankreich

Die große Anarchofamilie

Von Michael Kleeberg |
Die Herbstproteste in Frankreich führten die Bretonen an. Mit roten Mützen wehrten sie sich lautstark gegen den Niedergang ihrer Region - und gegen den Präsidenten. Was hinter dem alljährlichen Ritual steckt, weiß der Schriftsteller Michael Kleeberg.
In einem Asterix-Band gibt es eine Szene, in der Asterix und Obelix einem fremden Volk, das nichts von den Galliern weiß und ihre Sprache nicht versteht, in einer Art gestischem Tanz erklären müssen, was es mit ihrem Menschenschlag auf sich hat: Sie deuten an, dass sie große Zecher und Fresser sind, sich gerne streiten und noch lieber wieder versöhnen und halten sich die Hände über den Kopf, um zu zeigen, dass sie sich nur vor einer Sache fürchten: nämlich davor, dass der Himmel ihnen auf den Kopf falle.
Die Reaktion der anderen ist das typische spechtartige Hämmern mit dem Zeigefinger an die Stirn: Die spinnen, diese Fremdlinge! Im Grunde geht es uns mit den Nachfolgern der Gallier doch kaum anders, und wir stehen oft so hilflos vor ihnen wie Obelix mit dem Blumenstrauß in der Hand vor Falbala. Daher im Folgenden drei Handreichungen, drei Puzzleteile zu einem kleinen Psychogramm der Franzosen.
Da ist zunächst, sehr wichtig, die Figur des "Instituteur"“, des Volksschullehrers in der Zeit der Dritten Republik, das heißt von 1871 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs. Unzählige Denkmäler in Form von Filmen und Romanen wurden diesen Männern errichtet, die als große Idealisten und anonyme Wohltäter in die nationale Mythologie eingegangen sind.
Der Volksschullehrer ist die Inkarnation der jungen Republik und ihrer Ideale am Ende des 19. Jahrhunderts. Er päppelt in der gottverlassenen Provinz die kleinen Pflänzchen hoch und macht sie fit für den großen Weg nach Paris, wo sie dermaleinst die Ideale der französischen Sprache und Kultur und Demokratie hochhalten werden und sich dankbar zurück erinnern an ihre Kindheit in der Dorf- und Kleinstadtschule, in der sie begonnen haben und an den Mann, dem sie (fast) alles verdanken.
Die Franzosen verreisen ungern - sie bleiben lieber zu Hause
Fast ebenso oft besungen und zum Beispiel in den Filmen von Claude Sautet mit Romy Schneider ein unverzichtbares Requisit ist das Familienhaus auf dem Lande, wo sich sommers die ganze Sippe trifft, streitet, ver- und entliebt. Noch heute sind die Franzosen im Gegensatz zu uns Deutschen keine Tourismusmeister. Sie bleiben, wer will es ihnen verdenken, zu Hause.
Oft genug tatsächlich in einem häufig sehr bescheidenen und unkomfortablen Haus auf dem Land, das irgendeiner Großmutter oder Großtante gehört und wo man schon als Kind mit Cousinen und Cousins und den neuen Freunden der Tanten die unglaublich langen französischen Sommerferien verbracht hat.
Anfang September werden die Zelte abgebrochen, und die Autoschlangen wälzen sich zurück nach Paris. Das ist die "Rentrée", bei der sich alle erzählen, was sie mit ihren unerträglichen Familien dieses Jahr wieder durchgemacht haben, anstatt endlich einmal wie andere Menschen auch ins Flugzeug zu springen und in Urlaub zu fliegen.
Zu Paris gehört der alljährliche Streik im Herbst
Zu Frankreich und besonders zu Paris gehört auch, ebenso sehr wie der Big Ben zu London, der alljährliche Streik im Herbst. Man kann seine Uhren danach stellen. Meist geht es bei der Bahn los, in jedem Fall bei einem der "services publics", beim öffentlichen Dienst – denn außer dem öffentlichen Dienst kann sich eigentlich niemand so einen mehrwöchigen Streik leisten.
Der "service public" jedoch ist eine heilige Kuh in Frankreich und eine der Säulen der Republik, ganz gleich ob es sich um die Bahnbediensteten oder die der staatlichen Radio- und Fernsehsender handelt. Daher nimmt auch niemand diese Streiks übel – im Gegenteil, sie haben im Allgemeinen großen Rückhalt bei der Bevölkerung, dienen sie doch auch immer dazu, "denen da oben", den Regierenden, zu zeigen, was eine Harke ist und dass sie nicht mit allem durchkommen.
Wenn sich die Wolken gar zum Generalstreik aller Beschäftigten des öffentlichen Dienstes ballen, dann wackeln Regierungen, dann kippen Premierminister und dann herrscht ein paar Tage lang das, was die Franzosen heimlich als den ihnen gemäßen Zustand empfinden: Freudvolle Anarchie und alltägliches Durchwursteln.
Michael Kleeberg wurde 1959 in Stuttgart geboren und wuchs in Süddeutschland und Hamburg auf. Er studierte Politische Wissenschaften und Geschichte an der Universität Hamburg. Nach Aufenthalten in Rom und Amsterdam lebte er von 1986 bis 1999 in Paris. Heute arbeitet er als freier Schriftsteller und Übersetzer aus dem Französischen (Marcel Proust) und Englischen (John Dos Passos) in Berlin. Neben Erzählungen und der Novelle "Barfuß" (1995) veröffentlichte er die Romane "Proteus der Pilger" (1993, Anna-Seghers-Preis 1996) und "Ein Garten im Norden" (1998, Lion-Feuchtwanger-Preis 2000). Zuletzt erschienen bei DVA der Roman "Der König von Korsika" (2001), 2004 das vielbeachtete libanesische Reisetagebuch "Das Tier, das weint" und der Roman "Karlmann (2007)", für den er den Irmgard-Heilmann-Preis 2008 erhielt. Sein aktueller Roman "Das amerikanische Hospital" (2010) wurde mit dem Evangelischen Buchpreis ausgezeichnet. Sein Werk ist in zahlreiche Sprachen übersetzt. Michael Kleeberg war Stadtschreiber 2008 der Stadt Mainz, des ZDF und 3sat. Sein erstes Kinderbuch "Luca Puck und der Herr der Ratten" (2012, Dressler Verlag, das er für seine Tochter geschrieben hat, erhielt den Saarländischen Kinder- und Jugendbuchpreis 2012.
Der Schriftsteller Michael Kleeberg
Der Schriftsteller Michael Kleeberg© Jörg Schwalfenberg