Frankreich ein Jahr nach den Anschlägen

Beeindruckende Besonnenheit

Ein Jahr nach den Anschlägen in Paris legt der französische Präsident Hollande in der Nähe des Cafés 'A La Bonne Biere' einen Kranz nieder.
Gedenken für die Opfer der Anschläge in Paris. © dpa/picture alliance / Philippe Wojazer/Pool
Von Jürgen König |
Ermutigende Signale sieht unser Kommentator Jürgen König in der Reaktion der französischen Gesellschaft auf den Terror. Man stelle sich den schmerzhaften, aber notwendigen Debatten: über Parallelgesellschaften etwa oder die Trennung von Staat und Kirche.
Der 13. November 2015 hat sich fest in die kollektive Erinnerung der Franzosen eingeschrieben. Wen immer man fragt: jedem steht die Schreckensnacht der Anschläge von Saint-Denis und Paris sofort wieder vor Augen - jeder weiß, wo er an jenem Abend war, was er gemacht hat.
Diese Nacht hat das Land verändert, nichts ist, wie es vorher war. Die patrouillierenden Soldaten in den Straßen, mit dem Sturmgewehr im Arm und dem Finger am Abzug: sie rufen immer wieder aufs Neue die Erinnerung daran wach, dass täglich etwas passieren kann, dass es Gefahren gibt, die vor dem 13. November 2015 niemand für möglich gehalten hätte.

Die Dschihadisten haben ihr Ziel nicht erreicht

Die Besonnenheit, mit der die Franzosen auf die Anschläge reagiert haben, ist beeindruckend. Auch durch weitere islamistische Schreckenstaten - die Ermordung zweier Polizisten, die Hinrichtung eines Priesters, der Anschlag von Nizza - wurde nicht erreicht, was die dschihadistische Ideologie will: dass Muslime und Nicht-Muslime gegeneinander in Stellung gehen.
Stattdessen ist es dem Land gelungen, die Fassungslosigkeit über das Geschehene zu überwinden und sich den schmerzhaften Debatten, die sich daraus ergaben, tatsächlich zu stellen. Den Diskussionen über die Probleme der französischen Geheimdienste etwa oder über die Zustände in den völlig überfüllten Gefängnissen, in denen die islamistische Radikalisierung von Jugendlichen an der Tagesordnung ist.

Gehört der Laizismus auf den Prüfstand?

Dass es in Frankreichs tristen Vorstädten Parallelgesellschaften gibt, auch solche radikaler Islamisten, konnte schon früher jeder wissen, der es wissen wollte - doch das Problem wurde weitgehend ignoriert. Jetzt aber scheint sich ein gesellschaftliches Bewusstsein dafür zu entwickeln, wie gefährlich ein solches Ausblenden von Tatsachen ist. Diskutiert wird plötzlich darüber, warum auch Jugendliche aus der französischen Mittelschicht sich radikalisieren und nach Syrien gehen - oder auch darüber, wie wenig man doch weiß über die immerhin vier bis fünf Millionen Muslime in Frankreich.
Die sommerliche Burkini-Debatte brachte auch die - öffentlich gestellte und diskutierte - Frage an den Tag, ob eine Religion wie der Islam wirklich als Privatsache behandelt werden kann, die von der Öffentlichkeit ferngehalten werden muss. Hält jene strikte Trennung von Kirche und Staat, die für die Französische Republik aus historischen Gründen elementar ist, der Gegenwart noch stand? Gehört nicht das gesamte Konzept der Laizität auf den Prüfstand?
Es sind wahrlich grundsätzliche Fragen, die die Anschläge vom November 2015 ausgelöst haben, und sie bringen weitere Verunsicherung mit sich. Doch es hat den Anschein, als ob viele in Frankreich sich diesen Themen stellen wollen, dass es mehr und mehr ein gemeinschaftliches Gefühl dafür gibt, dass Frankreich sich verändern muss. Das ist außerordentlich ermutigend.
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