Sozialstaat Frankreich

Protest im teuren Paradies

08:14 Minuten
Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux demonstriert in Paris mit vielen anderen Menschen. Links von ihr der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon, der auf sie zeigt.
Die Nobelpreisträgerin und der Linkspopulist: Am Sonntag demonstrierte Annie Ernaux gemeinsam mit Jean-Luc Mélenchon. Sie wolle ihrer Herkunft treu bleiben, sagt Nils Minkmar. © imago / NurPhoto / Samuel Boivin
Nils Minkmar im Gespräch mit Korbinian Frenzel |
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Die hohen Preise treiben die Menschen in Frankreich auf die Straße. Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux marschiert an der Seite des Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon. Ein „Sektenführer“, meint Journalist Nils Minkmar. Dennoch versteht er Ernaux.
Nach den Demonstrationen vom Sonntag mit Zehntausenden Teilnehmern erwartet der Journalist Nils Minkmar weitere Protestaktionen in Frankreich. Bei dem „Marsch gegen die hohen Lebenshaltungskosten und die Untätigkeit beim Klimaschutz“ waren Sofortmaßnahmen wie das Einfrieren der Energiekosten und Mieten gefordert worden.
Frankreich sei „schon lange“ zu teuer für die Franzosen, erklärt Minkmar: „Die Gehälter sind niedriger als in Deutschland, aber die Preise sind genauso hoch, wenn nicht manchmal sogar höher.“ Durch die Inflation werde es nun „sehr eng“ für kleine und mittlere Einkommen; das werde das Land wahrscheinlich noch „eine ganze Weile“ mobilisieren.
Organisiert hatten den „Marsch“ französische Linke wie der gescheiterte Präsidentschaftskandidat Jean-Luc Mélenchon. Dass die frisch gekürte Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux an der Seite des Linkspopulisten lief, sieht Minkmar mit gemischten Gefühlen.   

Ernaux und der "gruselige" Mélenchon

Mélenchon sei ein „Sektenführer viel mehr als ein Politiker“, eine „gruselige Figur“. Gleichwohl verstehe er Ernaux, die ihrer Herkunft treu bleiben wolle, über die sie so oft schreibe.
„Dann denkt sie, sie marschiert auch mit, wenn es darum geht, dass die Leute am Monatsende mehr Geld haben“, meint Minkmar. Ihm gehe es mit Ernaux ähnlich wie mit Günter Grass oder Martin Walser: Deren Bücher schätze er, deren politische Einstellung teile er dagegen nicht.
In Frankreich herrscht nach Darstellung Minkmars grundsätzlich eine andere Protestkultur als in Deutschland, wo sich die Sozialpartner an einen Tisch setzen und miteinander verhandeln. Das „Streiken und Rabatzmachen auf der Straße“ hätte bei den Franzosen eine lange Tradition und führte oft zu einem Nachgeben der Regierung: „Man erreicht richtig etwas.“

Frankreich – ein paradiesischer Sozialstaat?

Jenseits des aktuellen Teuerungs- und Einkommenproblems sei der französische Sozialstaat aber „top“, fügt der Journalist hinzu. „Das ist ein Sozialstaat, wie man ihn sich wünschen würde.“ Dennoch hätten die Franzosen den Eindruck, in einem „üblen neoliberalen System“ zu leben.
Der Schriftsteller Sylvain Tesson habe einmal gesagt: Frankreich ist ein Paradies, das von Menschen bevölkert ist, die sich in der Hölle glauben. Das stimme. „Das ist ein eigenartiges Kochen im eigenen Saft“, findet Minkmar.
(bth)
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