Frankreich strahlt
Anders als die Deutschen haben die Franzosen keine Scheu im Umgang mit der Kernkraft: mit 59 Kraftwerken ist Frankreich weltweit unter den Spitzenreitern, sie produzieren 80 Prozent von Frankreichs Stromaufkommen.
Und das, obwohl aus dem französischen Atomkraftwerk Tricastin vor etwa einem Jahr 72 Kilo Uran in die Umwelt gelangt waren und 100 Arbeiter kontaminiert wurden.
Der Himmel strahlt blau über Tricastin. Aus der Ferne grüßen große Windräder - unübersehbar für die unzähligen Touristen, die immer noch auf der Autoroute du Soleil, der Autobahn der Sonne, gen Süden in die Wärme oder zurück in den kühlen Norden preschen. Fast übersieht man auf der anderen Seite der Rhone die beiden Kühltürme. Sie gehören zum Kernkraftwerk Tricastin und damit dem staatlichen Elektrizitätsversorger EDF. Weißen Wasserdampf pusten sie in die Luft. Sie sind das Wahrzeichen von Tricastin, allerdings ein trügerisches. Denn die Stromerzeugung macht nur einen winzigen Teil der Nuklearaktivitäten in Tricastin aus.
Hier, unweit der Stelle, wo die Ardèche in die Rhone mündet, an der Grenze der Departements Drome und Vaucluse hat AREVA seit Anfang der 60er-Jahre riesige Atomanlagen errichtet - und baut gerade für Milliarden zwei der wohl modernsten Urananreicherungsanlagen Europas. Direktor Frederick de Agostini:
"Wir investieren hier vier Milliarden Euro in den kommenden 40 Jahren. Das stellt uns vor besondere Herausforderungen, auch weil es sich um eine Nuklearanlage handelt. Das weckt Medieninteresse und Sensibilitäten in der Bevölkerung. Deshalb müssen wir besondere Sorgfalt bei allem an den Tag legen, was die Anlage von Tricastin anbetrifft …"
… auch, weil Tricastin vor gut einem Jahr in aller Munde war. Von dem 650 Hektar großen Gelände der AREVA, die in Frankreich als Dachgesellschaft quasi sämtliche Atomtechnologieaktivitäten bündelt, waren Anfang Juli letzten Jahres 72 Kilo Uran in die Umwelt gelangt. 100 Arbeiter sind kontaminiert worden.
Kurze Zeit später meldete das benachbarte, vom Elektrizitätserzeuger EDF betriebene Atomkraftwerk, dass sich zwei Brennstäbe im Reaktor in ihrer Halterung verklemmt hatten. Diesen Sommer wurde wieder ein ähnlicher Störfall aus dem AKW Tricastin gemeldet.
Gesetz der Serie? Während in Deutschland vergleichbare Zwischenfälle heftige Diskussionen auslösen, geht man in Frankreich schnell zur Tagesordnung über. Die Bevölkerung in den angrenzenden Kommunen legt eine Art Galgenhumor an den Tag.
"Nein, wir haben keine Angst. Wir haben unsere Jodtabletten für den Notfall. Wenn das explodiert, dann sterben wir sofort","
… meint diese Bäuerin und Gemüsehändlerin in Pierrelatte. Sie hatte freilich Glück, denn sie muss ihre Beete nicht mit dem Grundwasser in unmittelbarer Nähe der Anlage bewässern.
Verseuchtes Grundwasser: Das war das Hauptproblem vergangenes Jahr. Vom Gelände der Entsorgungsfirma SOCATRI, einer der zahlreichen AREVA-Töchter in Tricastin, waren besagte 72 Kilo Uran ins Grundwasser gelangt. Militärische Uranabfälle waren schlampig gelagert worden. Ein unterirdischer Damm war, so wird rekapituliert, gebrochen.
""Die von der Weltgesundheitsorganisation empfohlenen Urangrenzwerte von 15 Mikrogramm pro Liter für Erwachsene und deutlich weniger für Kinder wurden deutlich überschritten. An verschiedenen Punkten wurden bis zu 80 Mikrogramm gemessen. Im Süden der Anlage wurden rund 15 Mikrogramm gemessen, also gerade an der Grenze. Teils lagen die Werte niedriger, teilweise aber auch darüber, sodass der Präfekt keine Wahl hatte. Er musste die Nutzung des Wassers verbieten","
… erläutert Roland Desbordes von CRIIRAD, einer unabhängigen Forschungs- und Informationsorganisation über Radioaktivität. Wochen-, teils monatelang war die Nutzung bestimmter Brunnen und einiger Badeseen in unmittelbarer Umgebung der Atomanlage untersagt. Versagt hatte damals vor allem die Information. Die Autorité de sureté nucléaire (ASN), die Behörde für Nuklearsicherheit, ist erst zehn Stunden nach der Kontamination informiert worden. Präsident André Claude Lacoste:
""Das ist eines der Probleme von Tricastin. Wir müssen umgehend informiert werden. Ein weiteres Problem war, dass wir den Zwischenfall für absolut ungefährlich hielten. Wir hatten allerdings die legitimen Sorgen der Bevölkerung unterschätzt."
Und die scheinen trotz der attestierten Ungefährlichkeit des Zwischenfalls keinesfalls unbegründet. Bei Tricastin weisen Teile des Wassers immer noch erhöhte Werte auf. Die betroffenen Bauern wurden jetzt auf Kosten AREVAs ans Leitungswassersystem angeschlossen. Ihre Brunnen mussten sie stilllegen.
Die Normalität ist längst zurückgekehrt: In Pierrelatte, in Trois Chateau und Lapalud, den Kommunen in unmittelbarer Nähe der Anlage, erinnert man sich nur ungern an den Medienauftrieb im Sommer vergangenen Jahres. Guy Soulavie, stellvertretender Bürgermeister von Lapalud, einem 3500-Seelendorf vier Kilometer von Tricastin entfernt.
"Die viel größere Verseuchung war die durch die Medien. Drei Wochen lang waren wir das Epizentrum. Radio, Fernsehen, Printmedien aus Frankreich, aus dem Ausland fielen in unsere Gemeinde ein, und drei Wochen lang waren wir buchstäblich verseucht. Überall tauchten Mikros und Kameras auf."
Sensationslust oder Sorge? Sommerloch oder investigativer Journalismus? Die Medien waren getrieben durch eine Häufung verschiedener Störfälle. So gab es im Atomkraftwerk Tricastin Probleme mit Brennstäben bei Wartungsarbeiten, die sich übrigens vor Kurzem wiederholten.
In Romans-sur-Isère entwichen durch einen Rohrbruch nach offiziellen Angaben zwischen 120 und 750 Gramm Uran. Offiziell wurden diese Ereignisse auf Stufe eins von sieben, also der untersten Stufe der Bedenklichkeit eingeordnet. Dennoch hatten sie kurzzeitig das Medieninteresse geweckt, aber keine ernsthafte Diskussion in Gang gebracht.
In Paris demonstrierten Juli vergangenen Jahres ein paar Tausend Menschen gegen Atomkraft. Die Regierung versprach regelmäßige Wasserproben im Umfeld aller Nuklearanlagen, und die ASN, die formell unabhängige Nuklearaufsicht, gelobte und gelobt Besserung. André Claude Lacoste:
"Wir müssen noch transparenter und klarer sein, wenn die Umwelt betroffen ist. Das hat uns Tricastin gelehrt. Sobald Radioaktivität austritt, ist die Bevölkerung sensibilisiert - und wir müssen besser informieren."
Der Lokalpolitiker Guy Soulavie bescheinigt der Behörde in der Tat mehr Transparenz.
"Die Wirkung des Zwischenfalls war so groß, dass die Nuklearaufsicht jetzt jeden auch noch so geringen Störfall meldet. Bei SOCATRI ist das Rückhaltebecken erneuert worden und sind drakonische Maßnahmen ergriffen worden."
SOCATRI, das ist die Tochter des Nuklearkonzerns AREVA, die für die Lagerung und Entsorgung nuklearer Sonderabfälle, in diesem Fall militärischer Natur, zuständig ist. Köpfe sind gerollt. Sämtliche AREVA-Töchter, die auf dem 650 Hektar großen Gelände von Tricastin agieren, sind einem Direktor, Frederick de Agostini, unterstellt worden. Er koordiniert die Aktivitäten, vor allem in der Außendarstellung.
"Wir müssen auch verdeutlichen, dass es sich um eine Industrie handelt, wo man das Risiko nicht auf null herunterschrauben kann. Wir versuchen jedoch, das Risiko zu kontrollieren, um es akzeptabel zu machen."
Was ist akzeptabel? Atomkritiker wie Roland Desbordes bemängeln, dass der Staat bei AREVA und dem Elektrizitätsmonopolisten EDF das Sagen hat - und sich gleichzeitig selbst großzügig die Grenzwerte für seine Nuklearaktivitäten festlegt. Natürlich müssen europäische Normen eingehalten werden, aber es bleiben Spielräume und es gibt trickreiche Verfahren, Kontamination wie etwa in Tricastin zu dissimulieren. Roland Desbordes, Präsident der unabhängigen Forschungsgruppe CRIIRAD:
"Die versuchen stets, das Problem, das Leck zu fixieren, wie sie sagen. Zwei Techniken gibt es: Entweder man ummauert die Problemzone, was Elektrizitätsbetreiber EDF macht und durchaus wirksam ist, oder es wird Wasser mit Hochdruck gepumpt, ein Saugeffekt erzielt und in die Rhone geleitet."
70 Tonnen natürliches radioaktives Material führt der Fluss ohnehin mit: Da fallen ein paar Kilo wohl nicht auf. Überall entlang der Rhone haben Desbordes und seine Forscher von CRIIRAD jedoch erhöhte Radioaktivität durch AKW und Krankenhausmüll festgestellt: erhöht, aber innerhalb der staatlichen Grenzwerte. Und genau das bemängeln Atomkritiker wie Desbordes: Der Staat ist Hauptaktionär bei AREVA und EDF, will Kernkraft zum Exportschlager machen und legt im Land ohne interne Debatte die Grenzwerte fest. Wie reagiert die Bevölkerung? Vor Jahresfrist sensibel, was wohl an der Häufung der Zwischenfälle lag, die allesamt jedoch als unbedenklich eingestuft worden waren.
Die Bauern haben laut AREVA insgesamt 400.000 Euro Entschädigung unter anderem für Ernteausfälle infolge mangelnder Bewässerungsmöglichkeiten erhalten.
Einige Betroffene wurden ans Leitungswassersystem angeschlossen, da ihre Brunnen immer noch überhöhte Radioaktivitätswerte aufweisen. Und am cleversten agierten wohl die Winzer der Cotes de Tricastin. Sie sollen fünf Millionen Euro Entschädigung erhalten haben, obwohl, wie eine Probe im Labor der CRIIRAD ergab, der Wein völlig unbedenklich ist - denn er wird aus anderen Schichten bewässert. Dennoch will die Winzergenossenschaft den Namen ändern. Ob es an den Entschädigungszahlungen oder an der wirtschaftlichen Abhängigkeit liegt: In unmittelbarer Nähe von Tricastin muss man Atomgegner fast mit der Lupe suchen.
"Die Nuklearanlage von Tricastin - das bedeutet Jobs und bringt uns Kundschaft."
Der Zeitungshändler von Les Trois Chateau.
"Wir kennen viele Leute, die da arbeiten, und vertrauen denen","
… meint diese Bewohnerin von Lapalud.
""Als ich 1955 hierherkam, war das ein totes Dorf. Es gab nur die Nationalstraße Nummer sieben, die noch hier durchführte und uns etwas Arbeit gab. Als die Straße umgeleitet wurde, gab es gar nichts mehr. Mit der Nuklearanlage ist die Gegend wieder aufgelebt."
Wes Brot ich ess - des Lied ich sing!? Wie Madame Aude behaupten die meisten Anwohner keine Bedenken zu haben. Heftige Proteste, Demonstrationen, wie wir sie aus Deutschland kennen, sind in Frankreich nicht oder nur höchst selten an der Tagesordnung. Außer der jüngst bei den Europawahlen erstarkten Ökologiebewegung stellt niemand den Atomkonsens ernsthaft infrage: Auch Frankreichs Kommunisten galt er stets als Symbol der Unabhängigkeit, wie der grenzüberschreitende Grüne Europaabgeordnete Daniel Cohn Bendit erläutert.
"Was die Maginot-Linie nicht konnte, nämlich die Sicherheit und Unabhängigkeit Frankreichs zu garantieren, das sollte der Konsens zwischen Gaullisten und Kommunisten in der Atomfrage schaffen. Die Sicherheit wurde durch die Atomwaffen garantiert. Und die Unabhängigkeit Frankreichs bei der Energie, diese zweite moderne Maginot-Linie, war die Atomkraft."
Cohn Bendit wirft der Regierung vor, einseitig nur auf Atomkraft zu setzen und alternative Energien nicht ausreichend zu entwickeln. Dieser Vorwurf mag etwas überzogen sein, da Präsident Sarkozy in jüngerer Vergangenheit stets auch die Bedeutung erneuerbarer Energien betont:
"Ein Euro für die Nuklear-, ein Euro für erneuerbare Energie. Wir brauchen beide. Wir haben nicht die Wahl","
… um die Ziele der Verringerung der CO2-Emissionen zu erfüllen. Dazu hat Sarkozy eine eigene CO2-Steuer angekündigt, mit sozialem Ausgleich. Ausgenommen von der Steuer bleibt Strom. Denn Frankreichs 58 Atomkraftwerke decken mehr als 80 Prozent des Strombedarfs französischer Haushalte und der Industrie. Atomstrom produziert keine Treibhausgase.
Für die Regierung ist Kernkraft, trotz der ungeklärten Frage der Endlagerung atomaren Mülls, Teil der Lösung der Klimaprobleme:
""Die Atomenergie ist eine Zukunftslösung. Die Tür steht offen. Unsere Hand ist ausgestreckt: Wir möchten mit den Deutschen gemeinsam die neue Generation der Atomkraft entwickeln. Das ist jedoch eine Entscheidung der Deutschen."
Eine Verlängerung der Laufzeiten bestehender Atomkraftwerke scheint in Frankreich quasi automatisch. Der Staat gibt bei AREVA und dem Elektrizitätsversorger EDF den Ton an. Eine politische Diskussion erübrigt sich. Fessenheim und Tricastin stehen als erste Atomkraftwerke zur Verlängerung an: Ihre Laufzeit soll auf 40 Jahre gestreckt werden. Insgesamt müssen 34 der 58 Atomkraftwerke in den kommenden Jahren für eine Laufzeitverlängerung gerüstet werden. Das geht nicht zum Nulltarif. 400 Millionen Euro pro Kraftwerk soll Schätzungen zufolge die Laufzeitverlängerung verschlingen.
Weiteres Thema: Abkehr vom Atomkraftwerk Belene? - Bulgarien überdenkt Energiepolitik
Von Andreas Meyer Feist
Der Himmel strahlt blau über Tricastin. Aus der Ferne grüßen große Windräder - unübersehbar für die unzähligen Touristen, die immer noch auf der Autoroute du Soleil, der Autobahn der Sonne, gen Süden in die Wärme oder zurück in den kühlen Norden preschen. Fast übersieht man auf der anderen Seite der Rhone die beiden Kühltürme. Sie gehören zum Kernkraftwerk Tricastin und damit dem staatlichen Elektrizitätsversorger EDF. Weißen Wasserdampf pusten sie in die Luft. Sie sind das Wahrzeichen von Tricastin, allerdings ein trügerisches. Denn die Stromerzeugung macht nur einen winzigen Teil der Nuklearaktivitäten in Tricastin aus.
Hier, unweit der Stelle, wo die Ardèche in die Rhone mündet, an der Grenze der Departements Drome und Vaucluse hat AREVA seit Anfang der 60er-Jahre riesige Atomanlagen errichtet - und baut gerade für Milliarden zwei der wohl modernsten Urananreicherungsanlagen Europas. Direktor Frederick de Agostini:
"Wir investieren hier vier Milliarden Euro in den kommenden 40 Jahren. Das stellt uns vor besondere Herausforderungen, auch weil es sich um eine Nuklearanlage handelt. Das weckt Medieninteresse und Sensibilitäten in der Bevölkerung. Deshalb müssen wir besondere Sorgfalt bei allem an den Tag legen, was die Anlage von Tricastin anbetrifft …"
… auch, weil Tricastin vor gut einem Jahr in aller Munde war. Von dem 650 Hektar großen Gelände der AREVA, die in Frankreich als Dachgesellschaft quasi sämtliche Atomtechnologieaktivitäten bündelt, waren Anfang Juli letzten Jahres 72 Kilo Uran in die Umwelt gelangt. 100 Arbeiter sind kontaminiert worden.
Kurze Zeit später meldete das benachbarte, vom Elektrizitätserzeuger EDF betriebene Atomkraftwerk, dass sich zwei Brennstäbe im Reaktor in ihrer Halterung verklemmt hatten. Diesen Sommer wurde wieder ein ähnlicher Störfall aus dem AKW Tricastin gemeldet.
Gesetz der Serie? Während in Deutschland vergleichbare Zwischenfälle heftige Diskussionen auslösen, geht man in Frankreich schnell zur Tagesordnung über. Die Bevölkerung in den angrenzenden Kommunen legt eine Art Galgenhumor an den Tag.
"Nein, wir haben keine Angst. Wir haben unsere Jodtabletten für den Notfall. Wenn das explodiert, dann sterben wir sofort","
… meint diese Bäuerin und Gemüsehändlerin in Pierrelatte. Sie hatte freilich Glück, denn sie muss ihre Beete nicht mit dem Grundwasser in unmittelbarer Nähe der Anlage bewässern.
Verseuchtes Grundwasser: Das war das Hauptproblem vergangenes Jahr. Vom Gelände der Entsorgungsfirma SOCATRI, einer der zahlreichen AREVA-Töchter in Tricastin, waren besagte 72 Kilo Uran ins Grundwasser gelangt. Militärische Uranabfälle waren schlampig gelagert worden. Ein unterirdischer Damm war, so wird rekapituliert, gebrochen.
""Die von der Weltgesundheitsorganisation empfohlenen Urangrenzwerte von 15 Mikrogramm pro Liter für Erwachsene und deutlich weniger für Kinder wurden deutlich überschritten. An verschiedenen Punkten wurden bis zu 80 Mikrogramm gemessen. Im Süden der Anlage wurden rund 15 Mikrogramm gemessen, also gerade an der Grenze. Teils lagen die Werte niedriger, teilweise aber auch darüber, sodass der Präfekt keine Wahl hatte. Er musste die Nutzung des Wassers verbieten","
… erläutert Roland Desbordes von CRIIRAD, einer unabhängigen Forschungs- und Informationsorganisation über Radioaktivität. Wochen-, teils monatelang war die Nutzung bestimmter Brunnen und einiger Badeseen in unmittelbarer Umgebung der Atomanlage untersagt. Versagt hatte damals vor allem die Information. Die Autorité de sureté nucléaire (ASN), die Behörde für Nuklearsicherheit, ist erst zehn Stunden nach der Kontamination informiert worden. Präsident André Claude Lacoste:
""Das ist eines der Probleme von Tricastin. Wir müssen umgehend informiert werden. Ein weiteres Problem war, dass wir den Zwischenfall für absolut ungefährlich hielten. Wir hatten allerdings die legitimen Sorgen der Bevölkerung unterschätzt."
Und die scheinen trotz der attestierten Ungefährlichkeit des Zwischenfalls keinesfalls unbegründet. Bei Tricastin weisen Teile des Wassers immer noch erhöhte Werte auf. Die betroffenen Bauern wurden jetzt auf Kosten AREVAs ans Leitungswassersystem angeschlossen. Ihre Brunnen mussten sie stilllegen.
Die Normalität ist längst zurückgekehrt: In Pierrelatte, in Trois Chateau und Lapalud, den Kommunen in unmittelbarer Nähe der Anlage, erinnert man sich nur ungern an den Medienauftrieb im Sommer vergangenen Jahres. Guy Soulavie, stellvertretender Bürgermeister von Lapalud, einem 3500-Seelendorf vier Kilometer von Tricastin entfernt.
"Die viel größere Verseuchung war die durch die Medien. Drei Wochen lang waren wir das Epizentrum. Radio, Fernsehen, Printmedien aus Frankreich, aus dem Ausland fielen in unsere Gemeinde ein, und drei Wochen lang waren wir buchstäblich verseucht. Überall tauchten Mikros und Kameras auf."
Sensationslust oder Sorge? Sommerloch oder investigativer Journalismus? Die Medien waren getrieben durch eine Häufung verschiedener Störfälle. So gab es im Atomkraftwerk Tricastin Probleme mit Brennstäben bei Wartungsarbeiten, die sich übrigens vor Kurzem wiederholten.
In Romans-sur-Isère entwichen durch einen Rohrbruch nach offiziellen Angaben zwischen 120 und 750 Gramm Uran. Offiziell wurden diese Ereignisse auf Stufe eins von sieben, also der untersten Stufe der Bedenklichkeit eingeordnet. Dennoch hatten sie kurzzeitig das Medieninteresse geweckt, aber keine ernsthafte Diskussion in Gang gebracht.
In Paris demonstrierten Juli vergangenen Jahres ein paar Tausend Menschen gegen Atomkraft. Die Regierung versprach regelmäßige Wasserproben im Umfeld aller Nuklearanlagen, und die ASN, die formell unabhängige Nuklearaufsicht, gelobte und gelobt Besserung. André Claude Lacoste:
"Wir müssen noch transparenter und klarer sein, wenn die Umwelt betroffen ist. Das hat uns Tricastin gelehrt. Sobald Radioaktivität austritt, ist die Bevölkerung sensibilisiert - und wir müssen besser informieren."
Der Lokalpolitiker Guy Soulavie bescheinigt der Behörde in der Tat mehr Transparenz.
"Die Wirkung des Zwischenfalls war so groß, dass die Nuklearaufsicht jetzt jeden auch noch so geringen Störfall meldet. Bei SOCATRI ist das Rückhaltebecken erneuert worden und sind drakonische Maßnahmen ergriffen worden."
SOCATRI, das ist die Tochter des Nuklearkonzerns AREVA, die für die Lagerung und Entsorgung nuklearer Sonderabfälle, in diesem Fall militärischer Natur, zuständig ist. Köpfe sind gerollt. Sämtliche AREVA-Töchter, die auf dem 650 Hektar großen Gelände von Tricastin agieren, sind einem Direktor, Frederick de Agostini, unterstellt worden. Er koordiniert die Aktivitäten, vor allem in der Außendarstellung.
"Wir müssen auch verdeutlichen, dass es sich um eine Industrie handelt, wo man das Risiko nicht auf null herunterschrauben kann. Wir versuchen jedoch, das Risiko zu kontrollieren, um es akzeptabel zu machen."
Was ist akzeptabel? Atomkritiker wie Roland Desbordes bemängeln, dass der Staat bei AREVA und dem Elektrizitätsmonopolisten EDF das Sagen hat - und sich gleichzeitig selbst großzügig die Grenzwerte für seine Nuklearaktivitäten festlegt. Natürlich müssen europäische Normen eingehalten werden, aber es bleiben Spielräume und es gibt trickreiche Verfahren, Kontamination wie etwa in Tricastin zu dissimulieren. Roland Desbordes, Präsident der unabhängigen Forschungsgruppe CRIIRAD:
"Die versuchen stets, das Problem, das Leck zu fixieren, wie sie sagen. Zwei Techniken gibt es: Entweder man ummauert die Problemzone, was Elektrizitätsbetreiber EDF macht und durchaus wirksam ist, oder es wird Wasser mit Hochdruck gepumpt, ein Saugeffekt erzielt und in die Rhone geleitet."
70 Tonnen natürliches radioaktives Material führt der Fluss ohnehin mit: Da fallen ein paar Kilo wohl nicht auf. Überall entlang der Rhone haben Desbordes und seine Forscher von CRIIRAD jedoch erhöhte Radioaktivität durch AKW und Krankenhausmüll festgestellt: erhöht, aber innerhalb der staatlichen Grenzwerte. Und genau das bemängeln Atomkritiker wie Desbordes: Der Staat ist Hauptaktionär bei AREVA und EDF, will Kernkraft zum Exportschlager machen und legt im Land ohne interne Debatte die Grenzwerte fest. Wie reagiert die Bevölkerung? Vor Jahresfrist sensibel, was wohl an der Häufung der Zwischenfälle lag, die allesamt jedoch als unbedenklich eingestuft worden waren.
Die Bauern haben laut AREVA insgesamt 400.000 Euro Entschädigung unter anderem für Ernteausfälle infolge mangelnder Bewässerungsmöglichkeiten erhalten.
Einige Betroffene wurden ans Leitungswassersystem angeschlossen, da ihre Brunnen immer noch überhöhte Radioaktivitätswerte aufweisen. Und am cleversten agierten wohl die Winzer der Cotes de Tricastin. Sie sollen fünf Millionen Euro Entschädigung erhalten haben, obwohl, wie eine Probe im Labor der CRIIRAD ergab, der Wein völlig unbedenklich ist - denn er wird aus anderen Schichten bewässert. Dennoch will die Winzergenossenschaft den Namen ändern. Ob es an den Entschädigungszahlungen oder an der wirtschaftlichen Abhängigkeit liegt: In unmittelbarer Nähe von Tricastin muss man Atomgegner fast mit der Lupe suchen.
"Die Nuklearanlage von Tricastin - das bedeutet Jobs und bringt uns Kundschaft."
Der Zeitungshändler von Les Trois Chateau.
"Wir kennen viele Leute, die da arbeiten, und vertrauen denen","
… meint diese Bewohnerin von Lapalud.
""Als ich 1955 hierherkam, war das ein totes Dorf. Es gab nur die Nationalstraße Nummer sieben, die noch hier durchführte und uns etwas Arbeit gab. Als die Straße umgeleitet wurde, gab es gar nichts mehr. Mit der Nuklearanlage ist die Gegend wieder aufgelebt."
Wes Brot ich ess - des Lied ich sing!? Wie Madame Aude behaupten die meisten Anwohner keine Bedenken zu haben. Heftige Proteste, Demonstrationen, wie wir sie aus Deutschland kennen, sind in Frankreich nicht oder nur höchst selten an der Tagesordnung. Außer der jüngst bei den Europawahlen erstarkten Ökologiebewegung stellt niemand den Atomkonsens ernsthaft infrage: Auch Frankreichs Kommunisten galt er stets als Symbol der Unabhängigkeit, wie der grenzüberschreitende Grüne Europaabgeordnete Daniel Cohn Bendit erläutert.
"Was die Maginot-Linie nicht konnte, nämlich die Sicherheit und Unabhängigkeit Frankreichs zu garantieren, das sollte der Konsens zwischen Gaullisten und Kommunisten in der Atomfrage schaffen. Die Sicherheit wurde durch die Atomwaffen garantiert. Und die Unabhängigkeit Frankreichs bei der Energie, diese zweite moderne Maginot-Linie, war die Atomkraft."
Cohn Bendit wirft der Regierung vor, einseitig nur auf Atomkraft zu setzen und alternative Energien nicht ausreichend zu entwickeln. Dieser Vorwurf mag etwas überzogen sein, da Präsident Sarkozy in jüngerer Vergangenheit stets auch die Bedeutung erneuerbarer Energien betont:
"Ein Euro für die Nuklear-, ein Euro für erneuerbare Energie. Wir brauchen beide. Wir haben nicht die Wahl","
… um die Ziele der Verringerung der CO2-Emissionen zu erfüllen. Dazu hat Sarkozy eine eigene CO2-Steuer angekündigt, mit sozialem Ausgleich. Ausgenommen von der Steuer bleibt Strom. Denn Frankreichs 58 Atomkraftwerke decken mehr als 80 Prozent des Strombedarfs französischer Haushalte und der Industrie. Atomstrom produziert keine Treibhausgase.
Für die Regierung ist Kernkraft, trotz der ungeklärten Frage der Endlagerung atomaren Mülls, Teil der Lösung der Klimaprobleme:
""Die Atomenergie ist eine Zukunftslösung. Die Tür steht offen. Unsere Hand ist ausgestreckt: Wir möchten mit den Deutschen gemeinsam die neue Generation der Atomkraft entwickeln. Das ist jedoch eine Entscheidung der Deutschen."
Eine Verlängerung der Laufzeiten bestehender Atomkraftwerke scheint in Frankreich quasi automatisch. Der Staat gibt bei AREVA und dem Elektrizitätsversorger EDF den Ton an. Eine politische Diskussion erübrigt sich. Fessenheim und Tricastin stehen als erste Atomkraftwerke zur Verlängerung an: Ihre Laufzeit soll auf 40 Jahre gestreckt werden. Insgesamt müssen 34 der 58 Atomkraftwerke in den kommenden Jahren für eine Laufzeitverlängerung gerüstet werden. Das geht nicht zum Nulltarif. 400 Millionen Euro pro Kraftwerk soll Schätzungen zufolge die Laufzeitverlängerung verschlingen.
Weiteres Thema: Abkehr vom Atomkraftwerk Belene? - Bulgarien überdenkt Energiepolitik
Von Andreas Meyer Feist