Unruhen in Frankreich

Keine Visionen für den Fortgang der Gesellschaft

"Revolte für Nael" hat jemand auf die Scheibe eines Gebäudes in Paris geschrieben. Davor stehen mehrere junge Männer, die offenbar Teil der Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Zivilisten sind, die gegen den gewaltsamen Tod des 17-jährigen Nahels durch einen Polizisten protestieren.
Viele der "brandschatzenden" Jugendlichen in den französischen Banlieues hätten offenbar keine Hoffnung mehr, meint Uwe Bork. Umgeben von alltäglichem Rassismus sähen sie keinen Silberstreif mehr an irgendeinem Horizont. © IMAGO / ZUMA Wire / IMAGO / Telmo Pinto
Ein Einwurf von Uwe Bork |
Angesichts der Unruhen und Proteste in Frankreich fühlt sich Autor Uwe Bork an die Studentenrevolte 1968 erinnert. Der entscheidende Unterschied jedoch, so Bork: Die Protestierenden damals hätten die Vision einer besseren Gesellschaft vor Augen gehabt.
Am besten sage ich es gleich: Ja, ich bin mittlerweile ein alter weißer Mann.

Die Jahre zwischen 1970 und '80 haben mich politisch geprägt, ich selbst sie allerdings weit weniger. Dafür waren Göttingen und seine Universität denn doch zu provinziell. Gut, "Bürger, runter vom Balkon, unterstütz den Vietcong!" – das kam mir auf diversen Demos schon von den Lippen, aber die Balkons hingen eben nur vor südniedersächsischem Fachwerk.

Und trotzdem: Selbst Unmögliches für möglich und machbar zu halten, das ist mir seither nicht fremd. Wir wollten damals, dass sich etwas ändert. Und wir fühlten, dass sich etwas ändern musste.

Für einen Umsturz fehlt ein wesentliches Element

Fast sieht es so aus, als würden sich die Zeiten wiederholen. Vor allem in Frankreich gehen gegenwärtig wieder viele junge Menschen auf die Straße. Das Land mit seiner großen revolutionären Tradition wird seit Monaten immer wieder von gewaltigen und gewalttätigen Demonstrationen erschüttert. Ausgelöst wurden sie zuletzt durch tödliche Polizeischüsse auf einen 17-Jährigen; die Stimmung ist aufgeheizt und aggressiv. Steht unser Nachbarland womöglich am Vorabend einer neuen Revolution?
Das denn wohl doch nicht. Für einen Umsturz fehlt schließlich ein wesentliches Element: eine Vision davon, wie es mit der Gesellschaft weitergehen könnte und sollte. Die Kids, die in Frankreichs Vor- und Großstädten mit der Brechstange losziehen, setzen dieses Werkzeug nämlich anscheinend vorrangig dafür ein, Geschäfte am Straßenrand und nicht die Gesellschaft als solche aufzubrechen.
Wenn sie Ketten zersprengen, dann die an den Türen von Shops und Supermärkten und nicht die, mit denen sie ein übermächtiges System fesselt. Von dem haben sie sowieso kein Bild, und das wird auch das neue Smartphone nicht ändern, das sie sich auf ihren Beutezügen abgreifen.

Eine stockdunkle Welt ohne Silberstreif am Horizont

Wenn die Volksweisheit richtig sein sollte, nach der die Hoffnung zuletzt stirbt, ist sie unter den brandschatzenden Jugendlichen offensichtlich längst tot. Bedroht von beruflicher Chancenlosigkeit und umgeben von alltäglichem Rassismus sehen sie keinen Silberstreif mehr an irgendeinem Horizont: Ihre Welt ist dunkel, stockdunkel.
Und spätestens hier kommt er dann wieder um die Ecke, der alte weiße Mann, um zu verkünden, dass, wenn früher schon nicht alles besser war, dann doch zumindest reflektierter. Die Protestierer von '68 folgende sahen sich damals von der Sonne der Revolution erleuchtet und damit per se auf der richtigen Seite der Geschichte.
Hybris, Hochmut und Vermessenheit, würde ich das heute nennen, die Arroganz der Amateure. Viele unserer Helden sind inzwischen längst gestolpert, und immer nur aufwärts geht es mit der Weltgeschichte nur zu sichtbar ebenfalls nicht.
Wir hatten damals also nicht immer recht, doch wir hatten Ziele und Visionen von einer anderen, einer besseren Welt. Sie mögen unklar oder sogar falsch gewesen sein, sie haben aber Entwicklungen in Gang gesetzt, von denen mehr Demokratie zu wagen, sicher nicht die unwichtigste war.

Gesellschaft nicht den Hasspredigern überlassen

Hier muss eine Politik ansetzen, die verhindern will, dass eine Gesellschaft nicht nur ihre materiellen Werte verliert. Sie darf ihre Problemzonen nicht den Hasspredigern der Hoffnungslosigkeit überlassen, sondern muss gerade denen einen Deal anbieten, die bisher von ihr vergessen wurden und die deshalb jetzt ihre Hand an der Lunte haben. Sie brauchen einen Deal, der ihnen endlich eine Zukunft gibt.
Und übrigens: Abgehängte nicht zurückzulassen, sondern ihnen eine Perspektive im Morgen und nicht im Gestern zu vermitteln, das könnte auch an den Wahlurnen in Deutschland immer wichtiger werden.

Uwe Bork, geboren 1951 im niedersächsischen Verden (Aller), studierte an der Universität Göttingen Soziologie, Wirtschafts- und Sozialpolitik, Verfassungsgeschichte, Pädagogik und Publizistik. Bis Ende 2016 leitete er die Fernsehredaktion „Religion, Kirche und Gesellschaft“ des SWR. Für seine Arbeiten wurde er mit dem Caritas-Journalistenpreis sowie zweimal mit dem Deutschen Journalistenpreis Entwicklungspolitik ausgezeichnet. Uwe Bork arbeitet als Autor, Referent und freier Journalist.

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