Sollte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bei der Stichwahl gegen die rechtsextreme Herausforderin Marine Le Pen verlieren, beginne für Europa eine schwere Zeit, sagt die Politologin Cornelia Woll . Es drohe ein Ende des Aachener Vertrags mit Deutschland.
Frankreichs Spaltung
Marine Le Pen und Emmanuel Macron stehen in der Stichwahl für den Elysée-Palast. Viele junge Leute sind unentschlossen oder wollen sich der Stimme enthalten. © picture alliance / dpa / Le Parisien / Delphine Goldsztejn
Macron, Le Pen und die Linken
25:10 Minuten
Bei der Präsidentschaftswahl in Frankreich vor 20 Jahren holte der Rechtsextreme Jean-Marie Le Pen 18 Prozent. Jetzt sehen Umfragen seine Tochter Marine bei 46 Prozent. Das liegt auch an Reform-Präsident Emmanuel Macron, der auf die Linken hofft.
Wer verstehen will, warum Marine Le Pen bei der Stichwahl am Sonntag in Frankreich auf mehr als 40 Prozent der Stimmen hoffen kann, muss in ländliche Regionen fahren. Ich wohne circa eine Stunde östlich von Paris.
Nicht weit von meinem Dörfchen Richtung Norden liegt eine Kleinstadt, in der vor Jahren eine große Fabrik für Sanitärbedarf dichtmachte: Hier holte Marine Le Pen bei der ersten Wahlrunde 36 Prozent der Stimmen, 15 Punkte mehr als Emmanuel Macron. Fast ebenso gut schnitt sie in der seit dem Niedergang der Zuckerindustrie verarmten Kleinstadt Richtung Süden ab. Von den Dörfern rundum ganz zu schweigen.
Rechtsextreme punkten heute bei Arbeitern
„In Frankreich haben die rechtsextremen Populisten mit ihren anfangs liberalen Positionen ursprünglich Freiberufler und kleine Unternehmer im urbanen Raum angesprochen. Heute punkten sie bei Arbeitern in industriell verödeten Gegenden, bei Angestellten, deren Jobs durch neue Technologien bedroht sind", fasst der renommierte Geograf Hervé Le Bras diese Entwicklung in seinem jüngsten Buch zusammen.
Besser denn je schneiden Rechtsextreme nun auch im bäuerlichen Hinterland meines Départements bei denen ab, die sich als Verlierer der Globalisierung sehen. Die spricht aber auch der Linkspopulist Jean-Luc Melenchon an.
Spritpreis ist ein Topthema auf dem Land
In Provins, 20 Kilometer von mir entfernt, landete Melenchon knapp vor Le Pen. Die Kreisstadt, 12.000 Einwohner, eine schmuck restaurierte Altstadt aus dem Mittelalter, lebt vor allem vom Tourismus. Auf dem Wochenmarkt erzählen die Menschen, was sie sich von der Präsidentschaftswahl erhoffen.
Eine Frau meint, sie wähle Marine Le Pen, weil die verspricht, "die Sprit-Steuer auf 5,5 Prozent zu senken – das ist für französische Familien natürlich super". Insbesondere hier auf dem Land, wo viele für Behördengänge, Arztbesuche und den Weg zur Arbeit teils weite Wege mit dem Auto haben, ist der Spritpreis ein Topthema.
Die Sicherheit spricht dieser Mann auf dem Markt an: „Ich komme beruflich oft in große Städte. Da nimmt die Gewalt zu. Es gibt immer weniger Respekt vor den Ordnungshütern. Len Pen verspricht, Polizei-Einsätze öfter als Notwehraktion zu deklarieren. Nun, vielleicht sind das nur leere Worte.“
Le Pen hat auch regelmäßig verkündet, die Sozialhilfe für Ausländer kürzen zu wollen. Auch das findet bei dieser Frau Zustimmung: „Man sollte mal auf die Kosten für die Sozialhilfe schauen", sagt sie. "Da sahnen Taugenichtse voll ab. Unsere Kinder finden keinen Job und kriegen nichts vom Staat, weil wir etwas zu viel verdienen. Da müssen wir für sie aufkommen. Das ist sehr ungerecht.“
"Präsident der Reichen"
Gerade schwärmt ein Grüppchen von sieben Leuten aus, die meisten im Rentenalter, aus sichtlich bescheidenen Verhältnissen, alle mit einem Stapel Flugblätter von Marine Le Pen unterm Arm.
Ein junger Mann drückt mir ein Exemplar in die Hand, mit der Aufforderung, ich solle Le Pen wählen. Warum, frage ich. Weil Marine das genaue Gegenteil von Macron und ihr Programm exzellent sei: „Macron ist doch für das Massaker im Land verantwortlich! Er ist der Präsident der Reichen. Das französische Volk zählt für ihn nicht. Man behandelt uns wie Dreck.“
Eine Endfünfzigerin, ganz in Schwarz blickt entzückt auf das Foto auf dem Flugblatt: „Marine ist die einzige, die das Land retten kann, die einzige, die das Land nicht an die Amis verscherbelt. Das hat sie selbst gesagt. Wann das war, habe ich vergessen. Ihr geht es, genau wie ihrem Vater Jean-Marie, darum, das Volk, Frankreich zu retten." Außerdem habe Marine Erfahrung, sie sei alt genug, sei berufstätig gewesen. "Macron ist zu jung, ein Anfänger, er sympathisiert mit den Vereinigten Staaten, und die mag ich nicht.“
Ein paar Schritte weiter spricht mich ein hünenhaft gebauter Mittfünfziger an: „Sie müssen bei der Stichwahl Marine wählen, wegen der Kaufkraft", sagt er. "Sie will die Mindestrente von 900 auf 1000 Euro aufstocken und bei Grundbedarfslebensmitteln die Mehrwertsteuer abschaffen." Macron bezeichne sie als rechtsextrem. Doch das sei falsch. "Sie ist volksnah, sie ist aus dem Volk. Sie hat drei Kinder alleine großgezogen. Sie musste wegen ihrem Familiennamen viel durchmachen.“
Wandern Melenchon-Wähler zu Le Pen?
Um die Lippen des Aktivisten spielt ein siegessicheres Lächeln. Er hofft auf die Anhänger des Linkspopulisten Melenchon, der mit 22 Prozent nur knapp hinter Le Pen im ersten Wahlgang lag: „Viele Melenchon-Wähler werden nun zu uns stoßen", prognostiziert er. Obgleich Melenchon sie angehalten habe, Le Pen keine Stimme zu geben.
"Aber auf Twitter sehe ich ja, was los ist. Die Leute haben null Bock auf weitere fünf Jahre mit Macron. Deshalb legen wir uns für Marine ins Zeug. Die Medien zeichnen ein negatives Bild von ihr, zu Unrecht. Sie ist wirklich eine Mutti. Ich hoffe sehr, sie wird die Mutti Frankreichs, die allererste Frau an der Staatsspitze.“
Pariser Vorstädte haben Melenchon gewählt
Ortswechsel, knapp 70 Kilometer gen Westen, in der Pariser Vorstadt Clichy-sous-Bois. Ein trist wirkendes Viertel mit uniformen Plattenbauten, 20 Stock hoch. Direkt davor ein frisch renoviertes Häuschen. Hier zieht gerade der Verein ACLEFeu ein.
Gegründet wurde er 2005, nachdem Jugendliche über Wochen einen gewalttätigen Aufstand gegen die Polizei durchführten. Bald brannte es auch in anderen Sozialbauvierteln.
Seither bietet der Verein den Bewohnern der Plattenbausiedlung Hilfe zur Selbsthilfe und versucht, deren Stimmen zu Gehör zu bringen. Regelmäßig animiert das Team die hiesige Bevölkerung, wählen zu gehen. Mit Erfolg, erklärt ACLEFeu-Chef Mohamed Mechmache. „Bei uns waren die Wahllokale vorletzten Sonntag voll, die Warteschlangen ellenlang", erzählt er.
Die Leute hätten massiv für Jean-Luc Melenchon gestimmt. "Er hat hier 61 Prozent gemacht, genau wie in vielen anderen Vorstädten. Das war offensichtlich eine Protestwahl, gegen die Rechtsextremen, Marine Le Pen und Eric Zemmour, aber auch gegen die konservative Partei, die war ja nach rechts außen ausgeschert. Gleichzeitig hatte das was von einer Strafwahl, einer Warnung an Emmanuel Macron. Bei seinem Amtsantritt 2017 erhofften viele hier eine bessere Sozialpolitik, bessere Lebensbedingungen. Da hinkt Macrons Bilanz weit hinterher. Beim ersten Wahlgang manifestierten die Leute ihre Wut.“
Und jetzt bei der Stichwahl? Macron ist auch auf die Stimmen aus den Vorstädten angewiesen. Den Menschen, die hier wohnen, hatte er vor seiner ersten Wahl 2017 einen Aktionsplan versprochen, umgesetzt aber wurde sehr wenig. So hat sich die Lage in Frankreichs Banlieues nicht spürbar verbessert.
Stigmatisierung von Einwanderer-Kindern
Das berichtet auch Hawa Diallo. Sie wohnt in einem Sozialbau-Ghetto im Südwesten Frankreichs – in der Stadt Poitiers. Ihre Eltern, erzählte Hawa Diallo, seien aus Mali eingewandert, sie selbst sei mehrfache Mutter und mache sich Sorgen. „Wenn unsere Kinder in der Schule oder andernorts Blödsinn gemacht haben, bleibt das ewig an ihnen kleben", sagt sie.
Wer einmal im Knast war, kriegt keinen Ausbildungsvertrag mehr, keinen Job. "Der sitzt hier fest. Schauen Sie mal rüber zum Einkaufszentrum, da hängen die Jungen von früh bis spät ab, die Älteren ziehen die kleinen Brüder mit in den Abgrund. Wir Mütter sind alle fix und fertig – wir sind mit unseren Kindern hier gefangen, eingesperrt wie Vögel im Käfig.“
Bei einer Erhebung, die ein Bündnis von Vorstadt-Vereinen im vergangenen Winter durchführte, berichteten landesweit Bewohner der Plattenbauten von teils unwürdigen Wohnverhältnissen, vom Mangel an Jobs, an gesundheitlicher Versorgung, von der Diskriminierung, die für Vorstadtbewohner Alltag ist. Viele formulierten auch konkrete Ideen, um die Lage zu verbessern. Eine Synthese all dessen wurde in Form eines Manifests gebracht, gerichtet an die Kandidaten bei der Präsidentschaftswahl.
Darauf reagiert haben einzig die linken Parteien. Obgleich in den Vorstädten insgesamt fünf Millionen Menschen leben, Französinnen und Franzosen mit Migrationsgeschichte sowie Migranten von überall her. Ihre Sorgen und Nöte sprach nur der Linkspopulist Jean-Luc Melenchon wirklich an und bekam so aus den Vorstädten viele Stimmen.
Bleiben diese Menschen jetzt zu Hause, spielt das der Rechtsextremen Le Pen in die Hände – was hier in der Pariser Vorstadt Clichy-sous-Bois eigentlich auch niemand wollen kann, sagt Aktivist Mohamed Mechmache stirnrunzelnd: „Ganz ehrlich, ich habe keine Ahnung, ob bei der Stichwahl erneut so viele Leute zur Urne gehen, ob sie sich von Macron oder Le Pen angesprochen fühlen.“