Frankreichs Abschied von der Steinkohle

Glückauf Adieu

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Ein Graffiti zu Ehren der Bergmänner in der nordfranzösischen Stadt Lens. © Stefanie Otto
Von Stefanie Otto · 14.08.2018
Im Dezember 2018 geht in Deutschland die Ära der Steinkohleförderung zu Ende. In Frankreich wurden die letzten Kohlegruben schon vor über zehn Jahren geschlossen. Mit den "Nachwehen" des Bergbaus kämpfen die Menschen dort noch heute.
Gaston und Joëlle Pirih haben Besuch von ihren Enkelkindern. Es sind die ersten großen Schulferien für die beiden Mädchen. Dass etwas im Haus der Großeltern nicht stimmt, merken sie, als Gaston im Flur drei Glasmurmeln auf die Fliesen legt.

Wohnen in der Schieflage

Was die Kinder verzückt, ist eine Katastrophe im Alltag der Pirihs. Noch immer kann der 65-jährige Gaston nur den Kopf schütteln, wenn er sieht wie die Murmeln immer schneller durch den Flur rollen und in der Küche verschwinden. Ihr Einfamilienhaus am Dorfrand von Rosbruck neigt sich um fast drei Prozent nach Westen. Allein im Wohnzimmer beträgt der Höhenunterschied rund sechs Zentimeter.
"Mit den Erschütterungen fing es an - drei bis vier kleine Beben pro Tag. Nach einer Weile zeigten sich Risse in den Häusern. Und als die Kirche begann sich zu neigen und gesperrt werden musste, da fingen die Leute an sich Sorgen zu machen. Es gab keine Panik, aber man begann Fragen zu stellen."
Ausgebesserte Risse am Haus der Familie Pirih in Rosbruck in Lothringen.
Ausgebesserte Risse am Haus der Familie Pirih in Rosbruck in Lothringen.© Stefanie Otto
Ursache der Bewegungen im Untergrund sind die Spätfolgen des Kohlebergbaus, den es hier seit 16 Jahren nicht mehr gibt. Als die Pirihs Anfang der Achtziger Jahre hierherzogen, hatte der Abbau unter der Gemeinde noch nicht begonnen. Zwar lag das 700 Einwohner zählende Rosbruck mitten im lothringischen Kohlebecken. Doch damals gab es keine Anzeichen dafür, dass es gerade diesen Ort besonders hart treffen würde. Erst die Umstellung der Abbaumethode zum Bruchbauverfahren führte ab 1985 zu den ungleichmäßigen Absenkungen.

Die Hölle im Haus

Im Haus der Pirihs macht sich die Schieflage überall bemerkbar. Die Fenster sind verzogen. Türen gehen von allein auf oder zu. Und selbst das Ehebett ist nur mit Keilen am Kopfende benutzbar.
Die Küche und das Badezimmer haben sie bereits zweimal renovieren müssen. Risse in Wänden und Decken bessern sie alle paar Monate aus. Seit Jahren kämpfen die Pirihs zusammen mit 40 anderen Rosbrucker Familien vor Gericht für eine angemessene Entschädigung. Insgesamt 90.000 Euro hat das Ehepaar bereits von der französischen Bergbaugesellschaft "Charbonnage de France" erhalten. Ein Tropfen auf den heißen Stein, winkt Joëlle Pirih ab, denn die Schäden kommen immer wieder. Ganz zu Schweigen von der gesundheitlichen Beeinträchtigung. Die zierliche Frau mit kurzen, graumelierten Haaren fühlt sich buchstäblich wie auf einem sinkenden Schiff.
"Die Psychiater haben bestätigt, dass es unmöglich ist, in so einem Haus zu wohnen. Man wird ständig mit neuen Problemen konfrontiert. Oft stolpert man und stößt sich. Vor allem morgens habe ich Schwierigkeiten mit der Schieflage. Manchmal muss ich mich an jeder Ecke festhalten, um nicht dagegen zu laufen. Es ist einfach die Hölle!"

Der schiefe Turm von Rosbruck

Und noch etwas beunruhigt die Bewohner von Rosbruck: Als die Pirihs ihr Haus gebaut haben, stand es 15 Meter über dem Niveau des nahegelegenen Flusses. Jetzt ist das Haus dermaßen abgesunken, dass es darunter liegt. Gleichzeitig steigt seit der Stilllegung der Bergwerke auch wieder der Grundwasserspiegel. Ihr Wohngebiet gilt nun als "rote Zone" – Überschwemmungsgebiet. Ein Damm und Pumpstationen gegen Oberflächenvernässung sollen in Zukunft verhindern, dass in Rosbruck ein See entsteht.
"Mein ganzes Leben lang habe ich Geld und Energie in dieses Haus gesteckt. Heute bin ich darin gefangen. Ich kann es nicht mehr verkaufen. Denn es ist nichts mehr wert. Es steht schief und liegt in einer Hochwasserzone. Und dann kommt der Staat und baut uns ein Bergbaumuseum. Für die Betroffenen ist das beschämend."
Bis vor kurzem hatte Rosbruck einen schiefen Turm wie Pisa. Der Glockenturm der Kirche musste aus Sicherheitsgründen im vergangenen Jahr abgerissen werden. Für solche Schäden an Gebäuden, Straßen und an der Kanalisation hat die Gemeinde nach Jahrzehnte langen Prozessen im vergangenen Jahr rund sechs Millionen Euro vor Gericht zugesprochen bekommen.
Doch die französische Bergbaugesellschaft "Charbonnages de France" hat Berufung eingelegt. Das juristische Ringen um Entschädigungen geht weiter. Der Verlust der Grundstückswerte und der Attraktivität des Ortes werden mit Geld jedoch nicht wieder gutzumachen sein.

Nach dem Ende der Kohleförderung verfiel die Stadt

Die ehemalige Bergarbeitersiedlung Sabatier bei Valenciennes blieb von solchen Schäden weitgehend verschont. Sie liegt fast vierhundert Kilometer nordwestlich von Rosbruck an der Grenze zu Belgien und gehörte zum sogenannten "Bassin minier". Hier lag ein weiterer Schwerpunkt der französischen Steinkohlegewinnung. In der flachen Landschaft des Nordens stechen die riesigen Fördertürme und kegelförmigen Abraumhalden noch heute ins Auge. Viele der Industrieanlagen stehen mittlerweile unter Denkmalschutz. Im Jahr 2012 wurden 300 Bauten in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen.
Typische Wohnhäuser in der ehemaligen Bergarbeitersiedlung Sabatier in Raismes (Nordfrankreich).
Typische Wohnhäuser in der ehemaligen Bergarbeitersiedlung Sabatier in Raismes (Nordfrankreich).© Stefanie Otto
In Sabatier wohnten die Bergarbeiter früher direkt neben ihrer Arbeitsstätte. Als die Kohleförderung 1980 eingestellt wurde, blieben die Menschen ohne Arbeit und Sabatier verkam zu einer abgelegenen Siedlung mitten im Wald. Heute stehen viele der kleinen Backsteinhäuser leer und verfallen. Gerade mal ein Lebensmittelgeschäft ist geblieben. Im Minimarkt von Malik Berkane stehen die Bewohner am Vormittag Schlange, um Baguette zu kaufen.
"In der Siedlung gibt es nichts mehr. Allein bis zum nächsten Kiosk müssen die Leute zwei, drei Kilometer fahren. Einen Supermarkt gibt es erst im nächsten Ort."

Geblieben sind vor allem Ältere

Vor allem ältere Bewohner sind hier geblieben. Nur ein paar Schritte vom Minimarkt entfernt wohnen Denis Muller und seine Frau Madeleine seit über fünfzig Jahren im selben Haus. Der drahtige Rentner hat selbst nicht im Bergbau gearbeitet, dafür die gesamte Familie seiner Frau. Im Wohnzimmer hängen vergilbte Fotos und Utensilien des Bergbaus wie Devotionalien an der Wand. Die Doppelhaushälfte hat ihre besten Tage hinter sich. Im Winter dringe Feuchtigkeit durch die schlecht isolierten Wände, berichtet das Ehepaar. Die Sanierung der 192 Häuser von Sabatier sei jedoch erst für 2019 geplant. Denis Muller liegt aber etwas anderes am Herzen. Er sorgt sich um den sozialen Abstieg seines Viertels.
"Die ehemaligen Bergarbeiter und die Rentner laden uns noch regelmäßig zum Kaffee ein. Mit den anderen Nachbarn haben wir nichts zu tun. Da ist nicht mehr dieses Gemeinschaftsgefühl. Viele sind weggezogen. Und bei den Anderen mangelt es oft an Disziplin. Wir wünschen uns, dass die Häuser und Gärten besser gepflegt werden. Damit alles sauber bleibt und die Menschen wieder gern hierher kommen."

Unterstützung aus Paris für das "sensible Viertel"

Denis Muller schwelgt gern in Erinnerungen. Doch er ist auch ein wachsamer Nachbar, der sich von unordentlichen Vorgärten und lauter Musik gestört fühlt. Seit zwei Jahren ist er auch Vorsitzender des neuen Bürgerrates. So wie andernorts die Banlieues wurde Sabatier aufgrund seiner Probleme von der Regierung in Paris als sensibles Viertel eingestuft. Dadurch erhält es zusätzliche staatliche Mittel zur Unterstützung von sozial benachteiligten Menschen und kann einen Bürgerrat aufstellen. Das Gremium mit 31 Mitgliedern soll Ideen und Meinungen der Anwohner an die Verwaltung herantragen und umgekehrt im Viertel besser über die Vorhaben der Gemeinde informieren.
Neben dem Minimarkt treffen sich die Bewohner oft in der "Maison de quartier", dem Nachbarschaftszentrum von Sabatier. Am Nachmittag ist dort viel los. Senioren kommen zum Computer-Kurs. Im Garten spielen Mütter mit ihren Kleinkindern. Jeder vierte Bewohner in Sabatier ist arbeitslos. Die "Maison de quartier" ist für manche der einzige Anlaufpunkt, erklärt Bruno François, der das Zentrum leitet.

Die Jugend tut sich schwer

"Im Bergarbeiterviertel kümmerte sich damals der Arbeitgeber um alles – Ausbildung, Arbeit, Wohnen und sogar Freizeitangebote. Als die Kohlemine geschlossen wurde, fiel der wirtschaftliche Rahmen weg und die sozialen Probleme multiplizierten sich. Was die Jugendlichen angeht, haben wir hier zum Beispiel große Schwierigkeiten mit der Berufsausbildung. Nur sehr wenige Jugendliche machen hier das Abitur. Sie brechen die Schule sehr früh ab und haben dann natürlich Probleme einen Job zu finden."
Ein offenes Ohr für die Sorgen der Jugendlichen hat auch Carine Florent. Die Sozialarbeiterin lässt sich jeden Tag etwas einfallen, um die Teenager zu motivieren. Heute haben sie zusammen Kuchen gebacken. Doch bevor er gegessen werden darf, tüfteln sie noch an einer passenden Tischdekoration. Carine ist selbst in der Bergarbeitersiedlung aufgewachsen, kennt also die Probleme ihrer Kids, und hat sich jahrelang ehrenamtlich engagiert. Bis sie vor ein paar Monaten ihre Traum-Stelle im Nachbarschaftszentrum bekam:
"Um keinen Preis in der Welt würde ich dieses Viertel verlassen. Ich liebe mein Viertel und seine Bewohner. Das Quartierszentrum mit seinen vielfältigen Aktivitäten ist das Herz von Sabatier. Es ist ein Ort der Begegnung und des Austauschs. Das hat die Situation hier um Einiges verbessert."
Förderturm und Industriehallen auf dem Gelände des ehemaligen Kohlebergwerks in Loos-en Gohelle.
Förderturm und Industriehallen auf dem Gelände des ehemaligen Kohlebergwerks in Loos-en Gohelle.© Stefanie Otto
70 Kilometer weiter westlich nahe der Stadt Lens liegt Loos-en-Gohelle. Dort war 1990 Schicht im Schacht. Kurz darauf übernahm der Grünen-Politiker Jean-François Caron den Bürgermeisterposten. Von da an ging die 7000-Einwohner-Stadt einen ganz anderen Weg als die Nachbargemeinden. Zuerst veranstaltete Caron Workshops für verschiedene Bevölkerungsgruppen, um gemeinsam mit den Bürgern die Situation zu analysieren. Am drängendsten schienen ihnen die Verbesserung der Lebensqualität und der Schutz natürlicher Ressourcen. Zum Beispiel überstieg der Nitrat-Wert im Grundwasser die zulässigen Grenzen um das Doppelte. Doch bei den ehemaligen Bergarbeitern stieß er damit auf taube Ohren.
"Wenn man schon akzeptiert hat, mit 50 Jahren an Staublunge zu sterben und dann kommt jemand und erzählt etwas von Wasserverschmutzung - der wird ausgelacht. Denn was unten in der Zeche geschah, war weitaus schlimmer. Umweltverschmutzung und Gesundheitsrisiken waren gesellschaftlich akzeptiert. Die Spielregel hieß: um deine Kinder zu ernähren, opferst du dein Leben."

Ein grüner Bürgermeister in Aktion

Der Grünen-Politiker ließ sich jedoch nicht beirren und startete ein Programm zur Rehabilitierung der lokalen Wasserreserven. Dank neuer Regenwassertanks muss die Gemeinde heute kein Trinkwasser mehr von weither kommen lassen. Die Wasserproblematik war aber nur eine von vielen Herausforderungen, um die schwerwiegenden Folgen des Bergbaus zu reduzieren.
"Mein Grundsatz lautet: Lasst uns die Lehren aus der Vergangenheit ziehen! Wir waren eine kurzlebige, nicht nachhaltige Stadt. Lasst uns zu einer nachhaltigen Stadt werden! Und so waren wir die ersten in Frankreich, mit einer Solarkirche, jetzt bekommen auch alle Turnhallen Solarpanele. Und wir bemerken in der Bevölkerung, dass ihnen die Idee der Solaranlagen gefällt. Denn mittlerweile haben sie den Ehrgeiz, DIE nachhaltige Stadt Frankreichs zu werden."
Bei der Entwicklung seiner Vision für Loos-en-Gohelle setzt Bürgermeister Caron immer auf die Beteiligung der Bürger. Nur so würden neue Projekte auch angenommen. Ein erfolgreiches Beispiel ist die Kooperative für biologische Landwirtschaft. Eine Gruppe festangestellter Gärtner und ehrenamtliche Helfer bewirtschaften den Garten einer leerstehenden Ingenieursvilla. Auf Flächen, die sonst nicht genutzt würden, bauen sie Zucchini, Salat und Artischocken an. Gärtner Bruno kennt das noch von seinem Großvater.
"Jeder Bergarbeiter hatte früher seinen eigenen kleinen Garten. Sie brauchten fast nichts kaufen. Später ging das verloren. Die nachfolgende Generation kümmerte sich nicht mehr um die Gärten. Deshalb sind wir stolz darauf, hier wieder etwas zu ernten. Mit unserer eigenen Hände Arbeit produzieren wir Nahrung für unsere Gemeinde. Das macht mich sehr zufrieden."

Bio-Anbau im Kohlerevier

Betreut wird die Bio-Kooperative von Audrey Chaillan. Die umtriebige Mittdreißigerin mit Henna-roten Haaren ist nicht zögerlich, wenn es darum geht neue Herausforderungen anzugehen. Neben der Initiative für mehr Bio-Gemüse aus urbanen Gärten ist sie gerade dabei eine lokale Währung für Nachbarschaftsdienste einzuführen. An der Machbarkeit des Bio-Anbaus im ehemaligen Kohlerevier hat sie nie gezweifelt.
"Wir leben in einem ehemaligen Industriegebiet. Vielleicht sind dadurch fast alle Böden mit Schadstoffen belastet. Und was sollen wir da tun? Machen wir es wie in Tschernobyl? Eine Glocke drüber und alles aufgeben? Oder sollen wir nicht lieber versuchen, Lösungen zu finden, um es dennoch zu machen? Auch wenn es vielleicht eine Weile dauert, weil man zuerst entgiftende Pflanzen anbauen muss oder sogar einen Teil des Bodens abtragen und ersetzen muss. In jedem Fall werden wir nicht aufgeben. Wir wollen das ehemalige Kohlebecken zurückerobern, indem wir hier biologisches Obst und Gemüse anbauen."

Gegen das Schmuddel-Image der Kohle-Ära

Die Erfolge in Loos-en-Gohelle zeigen bereits Wirkung. Die Kleinstadt gilt als Vorzeigegemeinde für nachhaltige Entwicklung. Bürgermeister Jean-François Caron spürt das zum Beispiel an den zahlreichen Anfragen aus dem ganzen Land, die er gerade mit seiner Sekretärin bespricht. Zahlreiche Delegationen waren schon da, um sich das kleine Wunder anzuschauen. Etwa genauso oft wird Caron gebeten andere Gemeinden bei der Krisenbewältigung zu beraten. Er hat bewiesen, dass das Schmuddel-Image der Kohle-Ära überwindbar ist. Und das stärkt wiederum das Selbstbewusstsein seiner Mitbürger.
"In unserer Stadt hat sich die Zahl der Vereine verdoppelt. Es gibt viel mehr Initiativen in den Wohnvierteln. Unternehmen werden gegründet. Diese Dynamik kann ich in den Nachbargemeinden nicht feststellen. Doch so ein kultureller Wandel braucht mindestens zwanzig Jahre."
In solchen Situationen spricht Caron gern vom Silicon Valley Frankreichs. Für den Bürgermeister und Ausdauersportler ist es eine spannende Zeit des Umbruchs. Doch Muße zum Plaudern hat er nicht. Der nächste Termin wartet schon vor der Tür.
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