Härte statt Menschlichkeit
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Frankreich ist das EU-Land mit der höchsten Zahl von Asylbewerbern. Bilder von Migranten-Zeltlagern sorgen hier seit einiger Zeit für Schlagzeilen. Doch der politische Wille, die Versorgung der Flüchtlinge zu verbessern, fehlt.
Ein später Vormittag Anfang Oktober: Muhammed Ali, ein junger Mann, mittelgroß, schmal, Jacke mit dem FC Arsenal-Wappen, steht an einer schattigen Böschung unter der sechsspurigen Ringautobahn Périphérique. Hier im Norden von Paris – gerahmt von halbverfallenen Lagerhallen und einer Abfahrtsspur der Autobahn – ist eine Art No-Mans-Land entstanden: Eingeklemmt zwischen der "Stadt der Lichter" und dem als sozialen Brennpunkt verschrienen Vorort Saint-Denis. Muhammed Ali kennt die Gegend wie seine Westentasche.
"Wir sind an der Porte de la Chapelle. Auf der Böschung stand vor einem Jahr noch ein Zeltlager, für 700 Migranten. Ein halbes Jahr habe ich dort gelebt. Schlafen konnte man nur tagsüber, trotz des Verkehrslärms. Nachts gab es oft Randale, wir waren einfach zu viele, es waren Drogen im Umlauf, wir fanden keine Ruhe."
Muhammed Ali stammt aus dem Tschad. Die Familie zählte im Bürgerkrieg 2006 zu den Rebellen, sein Vater kam um, der ältere Bruder landete im Knast. Der Rest der Familie flüchtete nach Libyen: Die Mutter, die zwei älteren Schwestern, Muhammeds Schwager und er selbst – da war er elf Jahre alt. Das neue Leben war so prekär, dass er mit 19 erneut aufbrach, alleine, über Italien nach Frankreich. Er landete in Dijon, vor nunmehr fünf Jahren.
"Dort habe ich meinen ersten Asylantrag gestellt, nach zwei Jahren erhielt ich Antwort - die war negativ. So bin ich nach Deutschland, um dort um Asyl zu bitten. Ich war in Brandenburg, in Buben und danach in Forst, bis mich die Polizei aufgriff und nach Frankreich zurückschickte. Mein dritter Versuch, in Paris dann, war endlich erfolgreich: Vor gut einem Jahr wurde ich als politischer Flüchtling anerkannt, jetzt habe ich Aufenthaltspapiere für zehn Jahre."
Immer mehr "Dublin-Fälle" in Frankreich
Das Lager an der Porte de la Chapelle hat die Polizei im November 2019 geräumt. Einige Hundert Meter weiter, direkt an der Ringautobahn, ist ein neues, größeres entstanden, heillos überfüllt. Ohne Toilette oder fließend Wasser. Hilfsvereine verteilen Essen, Kleidung, Decken.
138.420 Flüchtlinge stellten 2019 in Frankreich einen Asyl-Erstantrag. In Deutschland waren es knapp 900 Personen mehr. Doch während in der Bundesrepublik die Zahlen sinken, steigen sie auf der anderer Rheinseite: Um 9,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
Auch weil in Frankreich immer mehr Migranten landen, deren Asylanträge in anderen EU-Ländern abgeschmettert wurden. "Dublin-Fälle" werden sie genannt, nach dem 1990 von den wichtigsten EU-Staaten unterzeichneten gleichnamigen Abkommen.
Laut dem muss ein Flüchtling zwar seinen Asylantrag in dem Land stellen, wo er erstmals den Boden der Europäischen Union betreten hat. Aber wenn er sich mindestens sechs Monate in einem anderen EU-Staat aufgehalten hat, kann er auch dort um Asyl nachsuchen. Auf diese "Dublin-Fälle" ging in Frankreich 2019 jeder vierte Erstantrag zurück.
Dabei oder vielleicht auch deshalb tut Paris wenig dafür, Asylbewerbern den Alltag zu erleichtern, sagt Gérard Sadik. Sadik ist bei der Cimade, einer großen Flüchtlingshilfe-Organisation, für das Thema Asyl zuständig.
"Es gibt einen strukturellen Unterschied zwischen dem französischen und dem deutschen Asylsystem: Hierzulande nehmen sich die Behörden Flüchtlingen erst dann an, wenn sie einen Asylantrag gestellt haben. Allerdings ist die Zahl der Unterkünfte chronisch unterdimensioniert. In Deutschland hingegen werden die Leute zuerst untergebracht und dann wird das Asylverfahren aufgenommen."
Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt Frankreich
Regelmäßig klagen Vereine wie die Cimade gegen staatliche Erlasse, die die Rechte der Flüchtlinge und Asylbewerber immer mehr beschneiden. Mehrfach äußerten unter anderem das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge und das Menschenrechts-Komitee der Vereinten Nationen "Besorgnis" betreffs Frankreichs Asylpolitik, verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Regierung in Paris.
Seit einem knappen Jahr hat Muhammed Ali einen Job, direkt gegenüber der Autobahnbrücke, unter der er früher campte. Er arbeitet in einer ehemaligen Fabrik, jetzt Anlaufstelle der Heilsarmee. Durch den Hintereingang geht es in einen verwinkelten Raum, Betonwände, einige Bänke, in einer Ecke sind Plastik-Gartenliegen gestapelt.
"Hier können sich die Leute tagsüber ein bisschen ausruhen. Nebenan sind Toiletten und dahinter gibt es Duschen", sagt er.
Ali verwaltet das Depot, gibt Duschgel, Damenbinden, Trinkbecher aus. 26 Stunden pro Woche, für knapp 900 Euro netto monatlich. Seit kurzem finanziert ihm die Heilsarmee eine Ausbildung zum Gabelstaplerfahrer. Sie hat den 24-Jährigen im Wohnheim einquartiert.
Französisch hat sich Muhammed Ali selbst beigebracht, im Alltag auf der Straße. Lediglich 55 Stunden Sprachkurs hatte der französische Staat während des Asylverfahren für ihn im Angebot.
Der schmale junge Mann zieht sein Handy aus der Tasche und zeigt ein Foto von sich, bei seiner Ankunft in Paris: Da war sein Gesicht dicklich, aufgedunsen, der Blick müde, resigniert.
"Ich hatte damals viele Probleme, ich hab zu viel schlimme Dinge gesehen und erlebt", erzählt Muhammed Ali. "Damals habe ich mal eine Woche schwarz gearbeitet und wurde prompt von der Polizei erwischt. Die Polizisten haben mich eingesperrt, obwohl ich ihnen erzählte, dass ich auf der Straße lebe und Geld für Essen und Klamotten brauche. Das war ihnen einfach egal. Nach zwei Wochen haben sie mich dann wieder laufen lassen."
Mehr "Entschlossenheit", weniger "Menschlichkeit"
Bei der Asylpolitik setzt Paris auf den Slogan "Humanité et fermeté" - "Humanität und Entschlossenheit". Im Juli 2017, kurz nach Amtsantritt von Staatspräsident Emmanuel Macron, erklärte der damalige Premierminister Édouard Philippe:
"Wir müssen entschlossen auftreten, um Wirtschaftsflüchtlingen klarzumachen, dass wir nicht in der Lage sind, alle aufzunehmen, selbst wenn ich ihr Motiv verstehen kann. Das entspricht nicht unserer Politik. Dafür aber wollen wir jene würdevoll und bestmöglich empfangen, die wegen ihrer Ansichten, ihrer Religion, ihrer ethnischen Abstammung oder anderen relevanten Gründen die Flucht nach Frankreich antreten."
Seither hat der Staatspräsident allerdings vor allem an Entschlossenheit zugelegt, vertraute ein Kader der Regierungspartei im September 2019 der Tageszeitung "Le Monde" an.
"Der Staatspräsident hat sich seit 2015 und seinem Zuspruch zu Angelas Merkels Empfangspolitik sehr gewandelt. Damals vertrat er einen sehr humanistischen Kurs. Schon während des Präsidentschaftswahlkampfs war er auf eine ausgewogenere Linie umgeschwenkt. Seit 2018 hat er innerlich zugemacht, er denkt, dass die Gesellschaft beim Thema Asylpolitik viel härter ist als die Politik."
Vor genau einem Jahr hat die Regierungspartei in der Nationalversammlung eine Debatte zum Thema Einwanderung und Integration anberaumt. Da trat auch Marine Le Pen, Chefin des rechtsextremen "Rassemblement National", ans Rednerpult.
Rechtsextreme stacheln auf gegen Migranten
"Wir sind heute hier versammelt, um über das Thema Einwanderung zu sprechen – einmal mehr, möchte ich anfügen", sagte Marine Le Pen. "Jene, die täglich ungewollt mit Flüchtlingen konfrontiert sind, die sich bedrängt fühlen – und meine Partei ist Sprachrohr ihres Leids – alle jene sind sich bewusst, dass die anarchische Einwanderung eine Bedrohung darstellt. Eine Gefahr für ihr Alltagsleben, ihre Lebensart und teils gar für ihr Leben per se."
Solche Töne schlägt der Le Pen-Clan seit einem knappen halben Jahrhundert an – seit Marines Vater Jean-Marie 1972 die Partei unter dem Namen "Front National" aus der Taufe hob. Ein Jahr später setzte die erste weltweite Ölkrise den "Trentes Glorieuses", Frankreichs Wirtschaftsaufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg, ein abruptes Ende.
1974 verkündete Paris einen Einwanderungsstopp und schloss die Grenzen. Im Land machte sich Massenarbeitslosigkeit breit, besonders betroffen waren Berufseinsteiger. Bei den Gemeindewahlen 1983 erzielte der "Front National" mit Hetzparolen gegen Einwanderer erste Siege. Obwohl schon damals knapp jeder und jede Vierte im Land von ausländischen, zugereisten Ahnen abstammte.
Die Vorfahren von Catherine Wihtol de Wenden etwa kamen aus Russland. Und deren Ahnen aus Deutschland. Sie selbst arbeitet seit Jahrzehnten als Politologin zur französischen Migrationspolitik. Wihtol de Wenden lehrt unter anderem an der Elite-Politikhochschule Sciences Po in Paris.
"Frankreich ist ein Einwanderungsland mit langer Tradition, bereits ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat es massiv Zuwanderer aufgenommen, vor Allem weil es an Arbeitskräften fehlte", sagt Wihtol de Wenden. "Die Migrationsgeschichte der meisten anderen Staaten in Europa, darunter Deutschland, beginnt erst nach dem Zweiten Weltkrieg, also einhundert Jahre später. In den 1930er-Jahren war in Frankreich die relative Zahl der Einwanderer genauso hoch wie in den Vereinigten Staaten."
Härterer Kurs in der Asylpolitik
Lange Zeit war es in Frankreich auch ziemlich einfach, Aufenthaltspapiere zu erhalten, selbst für Asylbewerber. Bis Paris 1974 die Grenzen dicht machte, erinnert Catherine Wihtol de Wenden.
"Im Gegensatz zu Deutschland, wo zu Beginn der Jahrtausendwende die Grenze für Arbeitssuchende wieder durchlässiger wurde, bleibt Frankreich bei seinem harten Kurs - um bloß niemanden anzulocken. Anders als Deutschland hat Frankreich außerdem Flüchtlingen verboten, während der Dauer des Asylverfahrens arbeiten zu gehen. Dabei können längst nicht alle Migranten vom Staat untergebracht werden."
Die Folge sei, so die Migrationsexpertin, dass vielerorts Zeltlager entstehen, sei es in Calais oder unter Pariser Autobahnbrücken. Die werden regelmäßig von der Polizei geräumt.
Wihtol de Wenden: "Aber es beflügelt ja nur die Rechtsextremen, wenn man auf der Straße Migranten in der Misere erblickt. Eine Misere, die konstruiert wird."
Die Rechtsextremen werden auch beflügelt von Randale-Akten und Revolten in den armen Vorstädten. Bei solchen Vorfällen kommt im In- und Ausland regelmäßig die Frage auf, ob die Integrationspolitik bezüglich der – zumeist muslimischen - Einwanderer aus Afrika gescheitert sei.
Denn in manchem Brennpunktviertel haben sich islamistische Hassprediger, Separatisten, Raum erobert. Raum, den die Republik zu lange habe brachliegen lassen, stellte Staatspräsident Emmanuel Macron klar, als er Anfang Oktober Leitlinien des Gesetzesprojekts gegen Separatismus präsentierte.
Historisches Eingeständnis Macrons
"Wir haben unseren eigenen Separatismus selbst geschaffen", so Emmanuel Macron.
Macrons historisch zu nennendes Eingeständnis bestätigt die Erkenntnisse von Politologin Catherine Wihtol de Wenden.
"Erhebungen des nationalen Instituts für demografische Studien INED zum Werdegang junger Franzosen mit Migrationshintergrund zeigen: Die Idee von einer gescheiterten Integration ist eine Mär. In der Schule haben Sprösslinge von Einwandererfamilien keineswegs schlechtere Noten als Gleichaltrige aus demselben sozialen Milieu", sagt Wihtol de Wenden.
"Allerdings werden sie zum Beispiel bei der Jobsuche weiterhin sehr diskriminiert. Doch immer mehr unter ihnen gelingt der soziale Aufstieg, aus dem Arbeitermilieu heraus. Viele arbeiten heute im öffentlichen Dienst, bei der Bahn, in der Metro, als Lehrkräfte. Das haben viele alteingesessene Franzosen noch gar nicht mitbekommen, sie scheinen wie mit Blindheit geschlagen."
Was den Blick der französischen Gesellschaft auf die Asylbewerber trübt, sind die islamistischen Attentate, die in den vergangenen fünf Jahren das Land erschütterten. Dieser Tage läuft in Paris der Prozess gegen Handlager der Terroristen, die im Januar 2015 in Paris vor allem in der Redaktion des Satireblatts "Charlie Hebdo" und in einem jüdischen Supermarkt ein Blutbad angerichtet haben. Ein Trauma, das bis heute anhält, bedauert Caroline Maillary vom Migrationsverein Gisti.
"Es ist erschreckend, wie die französischen Medien über Muslime, über Flüchtlinge, neu Ankommende, berichten: Die seien unkontrollierbar. Da müssen wir wieder viel pädagogische Arbeit leisten, um der Öffentlichkeit zu erklären: Nein, das stimmt nicht."
Neid auf Deutschland
Mit blankem Neid, so gibt Maillary unverhohlen zu, schaue sie auf Deutschland, wo ein Teil der Zivilgesellschaft öffentlich fordert, Flüchtlinge aus dem abgebrannten Lager Moria auf Lesbos aufzunehmen. Von einem solchen Elan kann sie hierzulande nur träumen. Ende September erklärte Paris sich bereit, 500 unbegleitete Minderjährige aus Moria einreisen zu lassen. Generell aber heißt es in der Regierung: "Wir haben keinen Platz mehr."
Im September 2019 veröffentlichte die Tageszeitung "Le Monde" eine repräsentative Erhebung zu den "gesellschaftlichen Brüchen".
64 Prozent der Befragten gaben an, sich in Frankreich weniger "zuhause" zu fühlen als früher. 66 Prozent meinten, die Einwanderer bemühten sich nicht um Anpassung.
Da hatte gerade die Regierung eine Debatte in der Nationalversammlung rund um das Thema "Immigration und Integration" veranstaltet und im Anschluss einen 20-Punkte-Plan vorgelegt. Es soll eine härtere Gangart eingelegt werden. Und die spiegelt sich in den Maßnahmen:
- Zugang zur medizinischen Grundversorgung erhalten Flüchtlinge erst drei Monate nach Beginn des Asylverfahrens – statt, wie zuvor, sofort.
- Drei neue Abschiebehaft-Einrichtungen sollen errichtet werden.
- Asylanträge sollen innerhalb von sechs Monaten bearbeitet werden, aktuell dauert das bis zu zwei Jahre.
Ganz offen schielen der Staatspräsident und die Seinen dabei auf 2022 - die nächste Präsidentschaftswahl. Da dürfte Macron erneut Le Pen als Gegnerin haben.
Für ihn sei 2022 noch weit weg, sagt Muhammed Ali in einem Café an der Porte de la Chapelle. Derzeit konzentriert sich der junge Flüchtling auf seine Berufsausbildung.
"Mein Traum wäre ein guter Arbeitsvertrag. Und ich möchte all jenen helfen, die in Not sind."