Frankreichs Pendant zu Sophie Scholl
Mit 17 Jahren wurde der Franzose Guy Moquet von den Nazis erschossen, den Bericht über die Exekution verfasste der Schriftsteller und Offizier Ernst Jünger. Jetzt wurde die Geschichte verfilmt. Ein Interview mit Regisseur Volker Schlöndorff und Schauspieler Ulrich Matthes.
Joachim Scholl: In Frankreich gilt er als Pendant zu Sophie Scholl: Guy Moquet. 17 Jahre alt war der junge Franzose, als er 1941 vor ein deutsches Erschießungskommando gestellt wurde, zuvor war ein deutscher Offizier von Widerstandskämpfern erschossen worden. Hitler ließ 150 französische Geiseln hinrichten. Auch Guy Moquet musste sterben. Jetzt hat Volker Schlöndorff diese Geschichte in einem Spielfilm inszeniert. "Das Meer am Morgen" feiert auf der Berlinale heute Premiere, und Volker Schlöndorff ist jetzt im Studio, zusammen mit Ulrich Matthes, der eine Hauptrolle spielt in dem Film, nämlich den deutschen Schriftsteller und Offizier Ernst Jünger. Willkommen im Deutschlandradio Kultur, die Herren!
Volker Schlöndorff: Hallo!
Ulrich Matthes: Ja, hallo, Tach!
Scholl: Guy Moquet, Herr Schlöndorff, kennt in Frankreich buchstäblich jedes Kind, denn seit 2007 wird auf Geheiß von Präsident Sarkozy an jedem 22. Oktober, dem Todestag von Guy Moquet, sein Abschiedsbrief in den Schulen vorgelesen. Bei uns in Deutschland ist der Name wenig bekannt. Wann sind Sie denn auf diese, auf seine Geschichte gestoßen?
Schlöndorff: Bei mir – es ist ja eine wahre Geschichte und gehört zur großen Geschichte – hat das noch einen kleinen autobiografischen Bezug: Ich war 17, als ich 1956 nach Frankreich in die Bretagne kam, in ein Internat, um Französisch zu lernen als Austauschschüler, und da wurde eben mit viel Neugier auf mich geschaut – ein junger Deutscher nach dem Krieg, es war ja bald zehn Jahre später –, und es wurde auch gemunkelt, dass hier eben irgendwas Schreckliches passiert sei in der Nachbarschaft. Aber keiner meiner Schüler wollte mir wirklich sagen, was es war.
Und 50 Jahre später, als ich meine Biografie in Frankreich veröffentlicht habe, da hat mir dann ein Journalist das Buch in die Hand gelegt, und da hab ich gedacht: Ach, das war das. Und das war eben der Guy Moquet, der dort mit anderen, hauptsächlich jungen französischen Kommunisten erschossen worden ist.
Scholl: Wie meistens bei Ihren Filmen, Herr Schlöndorff, gibt es eine literarische Spur in diesem Film, und diese Spur führt diesmal zu Ernst Jünger, der damals im besetzten Frankreich im deutschen Generalstab in Paris diente, im Offiziersrang. Welche Rolle spielt denn der Schriftsteller in diesem Drama?
Schlöndorff: Ja, das ist eine tolle Entdeckung gewesen. Als ich Militärberichte und was es sonst noch an Aussagen gab über dieses Ereignis, weist mich ein deutscher Historiker, Dr. Möller in München, darauf hin, dass Ernst Jünger 40 Seiten darüber geschrieben hat, die gerade in einer Historikerzeitschrift veröffentlicht worden sind. Und tatsächlich hat er auf Geheiß des Generals oder des Oberst im Generalstab Speidel Stunde für Stunde aufgeschrieben, was an diesen Tagen passiert ist, denn dafür war er als Propagandaoffizier zuständig. Und dieser Bericht ist überhaupt kein literarisches Dokument, es ist im reinsten Kanzleideutsch geschrieben, wie ein Polizeikommissar das gemacht hätte, zeigt aber doch, dass er nicht ganz neutral war, also das ist ihm schon sehr nahe gegangen. Jünger hatte selbst ein paar Monate vorher einer Erschießung in Paris beiwohnen müssen in seiner Funktion, und die Sache hat ihn so bewegt, dass er die Abschiedsbriefe der Geiseln, auch von diesem Jungen, damals schon ins Deutsche übersetzt hatte.
Scholl: Dieser Text zur Geiselfrage, der ist jetzt erst erschienen in einer Ausgabe kürzlich im Herbst, zusammen mit den Briefen, also eine perfekte Textgrundlage für Ihren Film und vielleicht auch für Sie, Ulrich Matthes, als Sie sich auf die Rolle vorbereitet haben. Ich meine, Sie sind mit diesem historischen deutschen Thema ja bestens vertraut, in "Untergang" haben Sie den Joseph Goebbels verkörpert, in Volker Schlöndorffs grandiosem Film "Der neunte Tag" spielen Sie einen luxemburgischen Priester, der Hafturlaub aus dem KZ Dachau bekommt und in einem furchtbaren Dilemma steckt. Jetzt Ernst Jünger. Und zwar muss man vielleicht doch zu Ernst Jünger sagen, in Deutschland immer noch der umstrittenste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, von Hitler gefeiert als Autor der "Stahlgewitter", dann aber auch heimlicher Widerständler. Wie haben Sie diese Rolle empfunden?
Matthes: Na, grundsätzlich hab ich mich erst mal darauf vorbereitet, wie ich mich auf solche historischen Figuren immer vorbereitet habe oder auch wahrscheinlich vorbereiten werde, sollten sie mir noch mal unterkommen, indem ich mich mit dessen Werken in dem Fall auseinandergesetzt habe. Ich habe also relativ viel Ernst Jünger gelesen. Ich muss gestehen, so im allgemeineren Sinne sozialdemokratisch, wie man so sozialisiert ist, in meiner Generation mehr oder weniger, als ich bin's zumindest, war Ernst Jünger immer eher eine Art von reaktionärer Pfui-Deibel-Gestalt. Man hat sich gewundert, dass Kohl ihn zum 100. Geburtstag die Aufwartung gemacht hat, Mitterand übrigens auch. Und als ich ihn dann aber gelesen habe, in der Vorbereitung auf die Rolle, dachte ich, das ist zumindest sprachlich hochinteressant und auf wirklich allerhöchstem Niveau. Und ich muss sagen, ich habe das dann, diese Wochen der Vorbereitung, nicht ungern gemacht. Ich fand den schon sehr interessant, inhaltlich zum Teil natürlich total zu kritisieren, "Stahlgewitter" ist einem absolut fremd und ein im Grunde fürchterliches Buch. Trotzdem fand ich aber die Figur literarisch hochinteressant.
Scholl: Was Ernst Jünger fasziniert im Film und ich glaube auch im Leben, wenn man seine Kriegsbücher auch anschaut, sind die Ruhe, der Stolz, die Tapferkeit, mit der die Geiseln, diese französischen Geiseln, diese noch jungen Männer auch in den Tod gehen, die Haltung, das imponiert ihm, und das ist, glaube ich, auch so: In diesem Film, glaube ich, war Haltung gefragt, oder, von Ernst Jünger, also gerade auch in dieser Rolle dieses sehr asketisch strenge Deutsche.
Matthes: Ja, selbstverständlich, natürlich. Also da gibt es ein vollkommen anderes Ideal. Ich bin so zivil, wie es nur irgend geht, aufgewachsen. In der Pubertät lernt man es, irgendwie cool und lässig zu sein, und diese Art von preußischer Strenge sozusagen und Haltung, körperlich wie geistig, das ist für mich heutzutage wie für die Jüngeren zumal eher etwas absolut Exotisches. Als Schauspieler macht es aber Spaß, sich mit einer solchen Haltung, mit einer Distanz zum Leben zu anderen Menschen, zu extremen Situationen auseinanderzusetzen, unter anderem deswegen ist der Schauspielerberuf so interessant.
Scholl: Ulrich Matthes im Gespräch im Deutschlandradio Kultur zusammen mit Volker Schlöndorff über ihren neuen Film "Das Meer am Morgen", der auf der Berlinale heute Premiere feiert. Es sind, Herr Schlöndorff, drei Handlungskreise, eigentlich drei Geschichten, die Sie erzählen in diesem Film. Sie haben auch das Drehbuch geschrieben, diese ganze Geschichte inszeniert – die Geschichte der Geiseln ist es zum einen, Ernst Jünger in Paris, und dann kommt noch ein junger deutscher Gefreiter hinzu, der zum Erschießungskommando gehört und dabei zusammenbricht. Nun könnte man über alle Komplexe vielleicht eine Überschrift schreiben: der Mensch im Dilemma, der Mensch im Ausnahmezustand ...
Schlöndorff: Ja, aber auch der Mensch im Gehorsam.
Scholl: Ist das Ihr Thema, also wollten Sie das zeigen, oder ist das jetzt zu banal?
Schlöndorff: Nein, das kann man schon so sagen, natürlich warum überhaupt heute noch mal auf eine Geschichte aus dem Zweiten Weltkrieg und noch dazu in Frankreich zurückkommen, das ist ja nicht da, dass die schlimmsten Dinge passiert sind. Aber für mich ist eben die Ausnahmesituation schon interessant, dass eben in Kriegszeiten Menschen einer Wahl oft ausgesetzt sind und einem Konflikt, den es so Gott sei Dank im zivilen Leben nicht gibt. Das rechtfertigt keine Kriege, aber da hat schon Shakespeare seine Stücke drüber geschrieben eben. Das sind diese Momente, und deshalb wird es immer noch wieder weitere Filme geben über die Zeit.
Und gerade, was Sie angesprochen hatten, die Haltung von Jünger, dieses Asketische und preußische Tugenden, und auf der anderen Seite haben Sie hier französische Kommunisten, da muss man sagen, also das ist so der Adel des französischen Arbeitertums, des Proletariats, 30er-Jahre, Volksfront war gerade und Spanienkrieg, also überhaupt noch keine Apparatschicks und noch nicht von Parteien Vereinnahmte. Und wie die auf die Meldung reagieren, in einer Stunde werdet ihr erschossen, und wie sich jeder hinsetzt und seinen Abschiedsbrief schreibt und eben so ganz anders schreibt als Jünger, nämlich ohne jedes Pathos, ganz einfach aufteilt: Da ist die Mühle, der ältere Bruder soll dies, der soll das, hier sind noch zwei Päckchen Tabak und soundso viel Franc, die lege ich euch zurück. Das ist einfach eine menschlich so viel ansprechendere Lage. Und dann habe ich mich gefragt, ja, und die deutschen Soldaten gegenüber, die waren ja auch erst 21, wie haben die denn reagiert? Und in dem Sommer habe ich die Briefe von Heinrich Böll an seine Frau gelesen, der war nämlich im selben Jahr, 1941, 21 Jahre lang am Atlantikwall ...
Scholl: 21 Jahre alt meinen Sie?
Schlöndorff: 21 Jahre alt, ja. Und dadurch bin ich auf eine Novelle von ihm gekommen, und das ist dieser junge Soldat, der, weil er seinen Tornister nicht getragen, sondern auf dem Fahrrad transportiert hat, abgeurteilt wird zum Schießen mit scharfer Munition, wie das umschrieben ist. Und das ist natürlich noch mal ein deutscher Schriftsteller im gleichen Jahr, im gleichen Land wie Ernst Jünger und der eine ganz andere Haltung hat, und es kommt natürlich dann, glaube ich, im Film schon deutlich raus, auf wessen Weltbild wir uns leichter beziehen.
Scholl: "Das Meer am Morgen", der neue Film von Volker Schlöndorff. Mit Ulrich Matthes in einer der Hauptrollen, er spielt den Schriftsteller und Offizier Ernst Jünger. Heute hat der Film Premiere auf der Berlinale, alles Gute dafür Ihnen beiden und herzlichen Dank für den Besuch!
Matthes: Vielen Dank!
Schlöndorff: Danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Gesamtübersicht: Unser Programm zur 62. Berlinale -
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Volker Schlöndorff: Hallo!
Ulrich Matthes: Ja, hallo, Tach!
Scholl: Guy Moquet, Herr Schlöndorff, kennt in Frankreich buchstäblich jedes Kind, denn seit 2007 wird auf Geheiß von Präsident Sarkozy an jedem 22. Oktober, dem Todestag von Guy Moquet, sein Abschiedsbrief in den Schulen vorgelesen. Bei uns in Deutschland ist der Name wenig bekannt. Wann sind Sie denn auf diese, auf seine Geschichte gestoßen?
Schlöndorff: Bei mir – es ist ja eine wahre Geschichte und gehört zur großen Geschichte – hat das noch einen kleinen autobiografischen Bezug: Ich war 17, als ich 1956 nach Frankreich in die Bretagne kam, in ein Internat, um Französisch zu lernen als Austauschschüler, und da wurde eben mit viel Neugier auf mich geschaut – ein junger Deutscher nach dem Krieg, es war ja bald zehn Jahre später –, und es wurde auch gemunkelt, dass hier eben irgendwas Schreckliches passiert sei in der Nachbarschaft. Aber keiner meiner Schüler wollte mir wirklich sagen, was es war.
Und 50 Jahre später, als ich meine Biografie in Frankreich veröffentlicht habe, da hat mir dann ein Journalist das Buch in die Hand gelegt, und da hab ich gedacht: Ach, das war das. Und das war eben der Guy Moquet, der dort mit anderen, hauptsächlich jungen französischen Kommunisten erschossen worden ist.
Scholl: Wie meistens bei Ihren Filmen, Herr Schlöndorff, gibt es eine literarische Spur in diesem Film, und diese Spur führt diesmal zu Ernst Jünger, der damals im besetzten Frankreich im deutschen Generalstab in Paris diente, im Offiziersrang. Welche Rolle spielt denn der Schriftsteller in diesem Drama?
Schlöndorff: Ja, das ist eine tolle Entdeckung gewesen. Als ich Militärberichte und was es sonst noch an Aussagen gab über dieses Ereignis, weist mich ein deutscher Historiker, Dr. Möller in München, darauf hin, dass Ernst Jünger 40 Seiten darüber geschrieben hat, die gerade in einer Historikerzeitschrift veröffentlicht worden sind. Und tatsächlich hat er auf Geheiß des Generals oder des Oberst im Generalstab Speidel Stunde für Stunde aufgeschrieben, was an diesen Tagen passiert ist, denn dafür war er als Propagandaoffizier zuständig. Und dieser Bericht ist überhaupt kein literarisches Dokument, es ist im reinsten Kanzleideutsch geschrieben, wie ein Polizeikommissar das gemacht hätte, zeigt aber doch, dass er nicht ganz neutral war, also das ist ihm schon sehr nahe gegangen. Jünger hatte selbst ein paar Monate vorher einer Erschießung in Paris beiwohnen müssen in seiner Funktion, und die Sache hat ihn so bewegt, dass er die Abschiedsbriefe der Geiseln, auch von diesem Jungen, damals schon ins Deutsche übersetzt hatte.
Scholl: Dieser Text zur Geiselfrage, der ist jetzt erst erschienen in einer Ausgabe kürzlich im Herbst, zusammen mit den Briefen, also eine perfekte Textgrundlage für Ihren Film und vielleicht auch für Sie, Ulrich Matthes, als Sie sich auf die Rolle vorbereitet haben. Ich meine, Sie sind mit diesem historischen deutschen Thema ja bestens vertraut, in "Untergang" haben Sie den Joseph Goebbels verkörpert, in Volker Schlöndorffs grandiosem Film "Der neunte Tag" spielen Sie einen luxemburgischen Priester, der Hafturlaub aus dem KZ Dachau bekommt und in einem furchtbaren Dilemma steckt. Jetzt Ernst Jünger. Und zwar muss man vielleicht doch zu Ernst Jünger sagen, in Deutschland immer noch der umstrittenste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, von Hitler gefeiert als Autor der "Stahlgewitter", dann aber auch heimlicher Widerständler. Wie haben Sie diese Rolle empfunden?
Matthes: Na, grundsätzlich hab ich mich erst mal darauf vorbereitet, wie ich mich auf solche historischen Figuren immer vorbereitet habe oder auch wahrscheinlich vorbereiten werde, sollten sie mir noch mal unterkommen, indem ich mich mit dessen Werken in dem Fall auseinandergesetzt habe. Ich habe also relativ viel Ernst Jünger gelesen. Ich muss gestehen, so im allgemeineren Sinne sozialdemokratisch, wie man so sozialisiert ist, in meiner Generation mehr oder weniger, als ich bin's zumindest, war Ernst Jünger immer eher eine Art von reaktionärer Pfui-Deibel-Gestalt. Man hat sich gewundert, dass Kohl ihn zum 100. Geburtstag die Aufwartung gemacht hat, Mitterand übrigens auch. Und als ich ihn dann aber gelesen habe, in der Vorbereitung auf die Rolle, dachte ich, das ist zumindest sprachlich hochinteressant und auf wirklich allerhöchstem Niveau. Und ich muss sagen, ich habe das dann, diese Wochen der Vorbereitung, nicht ungern gemacht. Ich fand den schon sehr interessant, inhaltlich zum Teil natürlich total zu kritisieren, "Stahlgewitter" ist einem absolut fremd und ein im Grunde fürchterliches Buch. Trotzdem fand ich aber die Figur literarisch hochinteressant.
Scholl: Was Ernst Jünger fasziniert im Film und ich glaube auch im Leben, wenn man seine Kriegsbücher auch anschaut, sind die Ruhe, der Stolz, die Tapferkeit, mit der die Geiseln, diese französischen Geiseln, diese noch jungen Männer auch in den Tod gehen, die Haltung, das imponiert ihm, und das ist, glaube ich, auch so: In diesem Film, glaube ich, war Haltung gefragt, oder, von Ernst Jünger, also gerade auch in dieser Rolle dieses sehr asketisch strenge Deutsche.
Matthes: Ja, selbstverständlich, natürlich. Also da gibt es ein vollkommen anderes Ideal. Ich bin so zivil, wie es nur irgend geht, aufgewachsen. In der Pubertät lernt man es, irgendwie cool und lässig zu sein, und diese Art von preußischer Strenge sozusagen und Haltung, körperlich wie geistig, das ist für mich heutzutage wie für die Jüngeren zumal eher etwas absolut Exotisches. Als Schauspieler macht es aber Spaß, sich mit einer solchen Haltung, mit einer Distanz zum Leben zu anderen Menschen, zu extremen Situationen auseinanderzusetzen, unter anderem deswegen ist der Schauspielerberuf so interessant.
Scholl: Ulrich Matthes im Gespräch im Deutschlandradio Kultur zusammen mit Volker Schlöndorff über ihren neuen Film "Das Meer am Morgen", der auf der Berlinale heute Premiere feiert. Es sind, Herr Schlöndorff, drei Handlungskreise, eigentlich drei Geschichten, die Sie erzählen in diesem Film. Sie haben auch das Drehbuch geschrieben, diese ganze Geschichte inszeniert – die Geschichte der Geiseln ist es zum einen, Ernst Jünger in Paris, und dann kommt noch ein junger deutscher Gefreiter hinzu, der zum Erschießungskommando gehört und dabei zusammenbricht. Nun könnte man über alle Komplexe vielleicht eine Überschrift schreiben: der Mensch im Dilemma, der Mensch im Ausnahmezustand ...
Schlöndorff: Ja, aber auch der Mensch im Gehorsam.
Scholl: Ist das Ihr Thema, also wollten Sie das zeigen, oder ist das jetzt zu banal?
Schlöndorff: Nein, das kann man schon so sagen, natürlich warum überhaupt heute noch mal auf eine Geschichte aus dem Zweiten Weltkrieg und noch dazu in Frankreich zurückkommen, das ist ja nicht da, dass die schlimmsten Dinge passiert sind. Aber für mich ist eben die Ausnahmesituation schon interessant, dass eben in Kriegszeiten Menschen einer Wahl oft ausgesetzt sind und einem Konflikt, den es so Gott sei Dank im zivilen Leben nicht gibt. Das rechtfertigt keine Kriege, aber da hat schon Shakespeare seine Stücke drüber geschrieben eben. Das sind diese Momente, und deshalb wird es immer noch wieder weitere Filme geben über die Zeit.
Und gerade, was Sie angesprochen hatten, die Haltung von Jünger, dieses Asketische und preußische Tugenden, und auf der anderen Seite haben Sie hier französische Kommunisten, da muss man sagen, also das ist so der Adel des französischen Arbeitertums, des Proletariats, 30er-Jahre, Volksfront war gerade und Spanienkrieg, also überhaupt noch keine Apparatschicks und noch nicht von Parteien Vereinnahmte. Und wie die auf die Meldung reagieren, in einer Stunde werdet ihr erschossen, und wie sich jeder hinsetzt und seinen Abschiedsbrief schreibt und eben so ganz anders schreibt als Jünger, nämlich ohne jedes Pathos, ganz einfach aufteilt: Da ist die Mühle, der ältere Bruder soll dies, der soll das, hier sind noch zwei Päckchen Tabak und soundso viel Franc, die lege ich euch zurück. Das ist einfach eine menschlich so viel ansprechendere Lage. Und dann habe ich mich gefragt, ja, und die deutschen Soldaten gegenüber, die waren ja auch erst 21, wie haben die denn reagiert? Und in dem Sommer habe ich die Briefe von Heinrich Böll an seine Frau gelesen, der war nämlich im selben Jahr, 1941, 21 Jahre lang am Atlantikwall ...
Scholl: 21 Jahre alt meinen Sie?
Schlöndorff: 21 Jahre alt, ja. Und dadurch bin ich auf eine Novelle von ihm gekommen, und das ist dieser junge Soldat, der, weil er seinen Tornister nicht getragen, sondern auf dem Fahrrad transportiert hat, abgeurteilt wird zum Schießen mit scharfer Munition, wie das umschrieben ist. Und das ist natürlich noch mal ein deutscher Schriftsteller im gleichen Jahr, im gleichen Land wie Ernst Jünger und der eine ganz andere Haltung hat, und es kommt natürlich dann, glaube ich, im Film schon deutlich raus, auf wessen Weltbild wir uns leichter beziehen.
Scholl: "Das Meer am Morgen", der neue Film von Volker Schlöndorff. Mit Ulrich Matthes in einer der Hauptrollen, er spielt den Schriftsteller und Offizier Ernst Jünger. Heute hat der Film Premiere auf der Berlinale, alles Gute dafür Ihnen beiden und herzlichen Dank für den Besuch!
Matthes: Vielen Dank!
Schlöndorff: Danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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