Frankreichs Trauma von 1870

Die Angst vor der deutschen Überlegenheit

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Die französische Zeichnung "Belagerung und Bombardierung von Paris 1870" zeigt König Wilhelm I. (Mitte links) und Preußens Ministerpräsidenten Otto von Bismarck (Mitte rechts) neben dem General von Moltke.
Preußische Pickelhauben und Kanonen: Die französische Zeichnung "Belagerung und Bombardierung von Paris 1870" zeigt König Wilhelm I. (Mitte links) und Ministerpräsident Otto von Bismarck (Mitte rechts) neben General von Moltke. © picture alliance / Leemage / Luisa Ricciarini
Überlegungen von Jörg Himmelreich · 17.07.2020
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Vor 150 Jahren begann der deutsch-französische Krieg. Frankreich verlor und es bildete sich der deutsche Nationalstaat - ein Trauma für viele Franzosen. Warum der damalige Machtverlust für Frankreich heute noch aktuell ist, erklärt der Historiker Jörg Himmelreich.
Auch 150 Jahre später haben die Franzosen ihr Trauma dieses Krieges nicht vergessen. Damals hatte das Zweite französische Kaiserreich, das sich als überlegene europäische Großmacht wähnte, gegenüber Preußen eine schmähliche Niederlage erlitten. In Frankreich brach das Kaiserreich zusammen und machte der Dritten Republik Platz. Politischer Wandel auch in Deutschland: Mit dem Sieg Preußens im Friedensvertrag von 1871 zwang die Machtpolitik Bismarcks die deutschen Teilstaaten gegen alle innerdeutschen Widerstände zum Deutschen Kaiserreich zusammen. (*)

1871 wird Deutschland zum mächtigen Nationalstaat

Ein geeinter deutscher Nationalstaat unter Führung Preußens in der Mitte Europas – das war eine Provokation des bis dahin geltenden europäischen Machtgleichgewichts. Dessen Balance hatte über Jahrhunderte hinweg darauf beruht, dass sich in der Mitte Europas lediglich viele deutsche Splitterstaaten den politischen Herrschaftsraum teilten. Gerade in ihrer ungeeinten Vielzahl waren sie machtlos.


Bis heute ist seit jener Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871 daher die sogenannte "Deutsche Frage" eine Problem europäischer Politik: Ein geeinter deutscher Nationalstaat in der Mitte Europas, der wirtschaftlich und politisch mächtiger ist als jeder andere europäische Staat, aber gleichzeitig zu schwach ist, die Geschicke Europas alleine zu bestimmen.

Deutschlands Macht ist für Frankreich ein Trauma

Das ist die eine bis heute fortwirkende historische Konsequenz jenes deutsch-französischen Krieges. Die andere sind die beiden Traumata, die bis heute die Politik und das politische Denken Frankreichs bestimmen: Frankreichs Angst vor der wirtschaftlichen und politischen Überlegenheit seines Nachbarn im Osten und seine Großmachtsmalaise, die einstige Vormacht im europäischen Mächtekonzert seitdem verloren zu haben. Diese Traumata Frankreichs prägten den Versailler Friedensvertrag von 1919: Der sollte ein Wiedererstarken des Deutschen Reiches unbedingt verhindern.
Auch der von Frankreich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs angestoßene europäische Einigungsprozess, entsprang neben anderen strategischen Absichten darüber hinaus eben auch dem Bedürfnis, von Beginn an den Wiederaufstieg westdeutscher Wirtschaftsmacht europäisch einzubinden. Selbst die von Mitterand seinerzeit so forcierte Einführung des Euro diente auch dazu, die Währungsmacht der starken D-Mark europäisch einzuhegen, – jene D-Mark, von der sein Berater Attali einst sagte, sie sei die Atombombe der Bundesrepublik, die es zu entschärfen gelte.

"Wir sind nicht mehr in einer Liga mit Deutschland"

Und so spricht aus Macrons Verweis auf die damalige Kriegsniederlage Frankreichs heute erneut eine Renaissance dieses Komplexes. Die Historikerin Mona Ozouf erinnerte im März an die "profunde intellektuelle Verletzung" Frankreichs, die jener Krieg hinterlassen habe und "Fragen aufwirft, die sich noch heute stellen". Während der französische Philosoph Marcel Gauchet darüber klagt: "Wir sind nicht mehr in einer Liga mit Deutschland. Wir spielen nicht mehr am Hofe der Großen mit."
Aber gerade wegen dieses Deutschland-Komplexes gebietet kluge deutsche Europapolitik es, ihm politisch, dort wo es möglich ist, Rechnung zu tragen. Helmut Kohl stimmte Mitterands Euro-Initiative damals zu, weil er wusste, welche Traumata die deutsche Wiedervereinigung in Frankreich wachrufen musste.
Und deswegen ist es von der Kanzlerin politisch klug, das von Macron angestoßene 750 Milliarden Euro umfassende EU-Wiederaufbauprogramm für die von der Coronapandemie belasteten Volkswirtschaften zu unterstützen. Die so genannte "deutsche Frage" in Europa lässt keiner Bundesregierung eine andere Wahl. Nur dann hält Europa in seiner Mitte die politische und wirtschaftliche Macht der Bundesrepublik aus und zerbricht nicht an ihr.

Jörg Himmelreich ist Jurist und Historiker. Als Professeur Affilié lehrt er an der der École Supérieure de Commerce à Paris (ESCP), Campus Berlin und publiziert regelmäßig zu kulturgeschichtlichen und außenpolitischen Themen. Zuvor war er Mitglied des Planungsstabes des Auswärtigen Amtes, Berlin, und Fellow des German Marshall Funds der USA in Washington und Berlin.

© Peter Ptassek
(*) Redaktioneller Hinweis: Wir haben eine inhaltliche Korrektur vorgenommen.
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