Auf der „Winterlese“, einer Messe von unabhängigen Verlagen im entlegenen Bad Mergentheim, war es vor kurzem wieder einmal so weit. Jeder Verlag sollte vor Publikum eine Neuerscheinung vorstellen und einer wählte eine Anthologie über das Lesen aus. Kaum als die Rezitatorin angefangen hatte, erstarb jedes Wort. Die Frage „Was ist das denn?“ war gebannt auf allen Gesichtern des Publikums zu lesen. Es war eindeutig der Höhepunkt des Abends.
"Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? Damit es uns glücklich macht, wie Du schreibst? Mein Gott, glücklich wären wir eben auch, wenn wir keine Bücher hätten, und solche Bücher, die uns glücklich machen, könnten wir zur Not selber schreiben. Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder vorstoßen würden, von allen Menschen weg."
„Was für ein toller Autor“, stieß die überrumpelte Moderatorin des Abends spontan hervor. Es war natürlich Franz Kafka. Allgemein bekannt ist nur der ständig zitierte und aus dem Zusammenhang gerissenen Satz, der gleich danach folgt: "Ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns."
Bei Kafka geht es um alles. Es wäre ein grobes Missverständnis, diesen letzten berühmten Satz einfach psychotherapeutisch zu verstehen, in der Art, dass man seine Gefühle zulassen solle.
Konkurrierende Kafka-Witwen
Die Anzahl der Bücher über Kafka übersteigt mittlerweile jedes vorstellbare Maß, und sie widersprechen sich auch oft. Am 3. Juni dieses Jahres jährt sich Kafkas Todestag zum hundertsten Mal, und das bietet natürlich die Gelegenheit, diesen Jahrhundertautor noch einmal gebührend in den Blick zu nehmen. Dabei treten die verschiedenen Kafka-Schulen zwangsläufig alle auf den Plan, es gibt erstaunlich viele miteinander konkurrierende Kafka-Witwen.
Die älteste und erste Kafka-Witwe war Klaus Wagenbach, er hat sich gern selbst so genannt. Wagenbach war der Erste, der dem von Kafkas Freund und Nachlassbearbeiter Max Brod verbreiteten Bild von Kafka als dem großen jüdischen Mystiker heftig widersprach. Der Berliner Verleger verortete Kafka ganz selbstverständlich im Angestelltendasein des expandierenden Frühkapitalismus, in der Erfahrung der Entfremdung. Es gibt ein Hörbuch, in dem Wagenbach einige Erzählungen Kafkas liest, und manchmal wirkt das auch wie ein Kommentar zu all den verstiegenen Kafka-Exegesen der Literaturwissenschaftler um ihn herum:
"Einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt – es ist niemals gutzumachen."
"Kafkas Familie" und "Auf Kafkas Spuren"
Pünktlich zum Jubiläum erscheint im Wagenbach-Verlag ein von Hans-Gerd Koch herausgegebener Bildband, der „Kafkas Familie“ heißt und den entsprechenden Untertitel hat: „Ein Fotoalbum“. Ein großer Teil der hier versammelten gut hundert Fotos war bisher nicht öffentlich bekannt und ist Eigentum der Nachkommen von Kafkas Schwestern. Hans-Gerd Kochs Fotoalbum bietet eine schöne Ergänzung zu Klaus Wagenbachs Band „Franz Kafka. Bilder aus seinem Leben“, einem der Kafka-Longseller.
Hartmut Binder: „Auf Kafkas Spuren“© Wallstein Verlag
Eine andere Kafka-Witwe ist Hartmut Binder. „Auf Kafkas Spuren“, sein soeben erschienenes Buch, ist die voluminöseste und dickleibigste aller Kafka-Veröffentlichungen überhaupt. Aber es ist beileibe kein Haupt- und Schlüsselwerk, das Kafka in einem groß angelegten Gesamtbild zu fassen versucht, sondern eine Sammlung von mehr als fünfzig zwischen 1967 und 2020 verstreut publizierten Einzelstudien. Sie widmen sich auch scheinbar nebensächlichsten Themen, und es gibt mitunter verblüffende Entdeckungen. Einer der Texte beschäftigt sich mit der jüdischen Wochenschrift „Selbstwehr“, die Kafka regelmäßig las. Nur dadurch ist der Satz aus einem Brief Kafkas an seine Schwester Ottla und deren Mann Josef David zu verstehen:
"Pepo, bitte, ärger Dich nicht wegen der großen Arbeit, dafür hat doch wieder Hakoah gegen Slavia verloren."
Geduldig erklärt Hartmut Binder die Bezüge:
"Am 25. November 1923 spielte Hakoah Wien, der größte jüdische Fußballklub der Welt, gegen die Fußballmannschaft von Slavia Prag und verlor unglücklich mit 4:2. Das Spiel wurde in der 'Selbstwehr' ausführlich angekündigt und besprochen, und aus dieser Quelle wird Kafka auch davon erfahren haben. Das hat es ihm ermöglicht, überhaupt auf die Interessen seines Briefpartners einzugehen, der als Nichtjude natürlich Slavia-Anhänger war, und ihn so über die zu erwartende große Arbeit zu trösten. In einem anderen Brief aus Berlin weist er den Schwager darauf hin, dass in der 'Selbstwehr' schon wieder gegen die Ausübung des Fußballsports geschrieben worden sei."
Aus „Auf Kafkas Spuren“ von Hartmut Binder
"Vielleicht hört der Fußball jetzt überhaupt auf!"
Solche Sätze sind typisch für Hartmut Binder: Er stößt auf spannende und überraschende Konstellationen, aus denen andere Autoren überbordende und lustige Glossen gemacht hätten. Aber er will nicht selber glänzen. Er benennt die Dinge eher nachrichtlich und in einem etwas vertrackten hypotaktischen Stil. Binder referiert sogar einen der wirkungsvollsten Sätze Kafkas nur in indirekter Rede und verschenkt ihn dadurch fast. Über Jahre hinweg schrieben die Sportjournalisten diesen Kafka-Satz voneinander ab, und keiner wusste, wo genau in seinem Werk er eigentlich steht. Es ist ein Kommentar zur Haltung der „Selbstwehr“ gegen den Fußball, und Kafka stichelte Josef David gegenüber ironisch: "Vielleicht hört der Fußball jetzt überhaupt auf!"
Hartmut Binder ist zu danken, dass er auch nahezu verwischten Spuren nachgeht. Seine Detailstudien, denen viele erhellende Fotos beiseitegesellt sind, heißen zum Beispiel:
- „Ich bin der Menschen wegen auch hergekommen ...“. Kafka in Stapelburg.
- Im Haus „Zum goldenen Hecht“. Kafkas kleiner Dank für „viele Freundlichkeit“.
- Fiffi, Königin der Luft. Franz Kafkas wiederentdeckter Papierflieger für seine Schwester Ottla.
Aus „Auf Kafkas Spuren“ von Hartmut Binder
Hartmut Binder ist äußerst skrupulös, ein penibler Positivist und dabei einer der intimsten Kenner Kafkas. Natürlich ist er in der Lage, auch größere Linien zu ziehen, so in einem sehr instruktiven Aufsatz zur geheimnisvollen Erzählung „Der Jäger Gracchus“ oder einer ausgiebigen Analyse von Kafkas Aussagen über das Schreiben. Herausgegeben wurde dieses verdienstvolle Kompendium zu Ehren des lebenslänglichen Kafkalogen Hartmut Binder von Roland Reuß und Peter Staengle. Die beiden sind ihrerseits bekannte Namen in der Kafka-Forschung. Seit etlichen Jahren setzten sie - in der Nachfolge der legendären Hölderlin-Edition von D. E. Sattler im Verlag Roter Stern - dessen wissenschaftliche Prinzipien in einer Edition der Werke Kafkas um. Dabei dokumentieren sie ganz konsequent die auffindbaren Original-Handschriften Kafkas. Reuß und Staengle bieten insgesamt eine Alternative zur großen „Kritischen Ausgabe“, die 2013 bei S. Fischer abgeschlossen wurde und die die heute gültige Endfassungen der Kafka-Texte erarbeitet hat.
Rigide Vereinnahmung durch die Surrealisten
Aber damit nicht genug. Wir kommen nun zur letzten und im Moment präsentesten Kafka-Witwe, nämlich Reiner Stach.
Franz Kafka: "Der Process". Kommentierte Ausgabe von Reiner Stach© Wallstein Verlag
Er hat durch seine dreibändige, auffällig erzählerische Biografie große Aufmerksamkeit erregt, und im Jahr des hundertsten Todestags von Kafka setzt er noch einmal neu an. Stach gibt jetzt eine eigene „Kommentierte Ausgabe“ der Texte Kafkas heraus, sie möchte auf ein größeres Publikum ausgerichtet sein. Der erste Band seiner Edition widmet sich dem Roman „Der Process“. Dieser Auftakt ist natürlich bewusst gewählt. Stach erklärt die Kafka-Manie nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem mit diesem Schlüsselwerk.
"Es ist das Zusammenwirken zweier fast gleich starker kultureller Einflüsse, die diesem Boom den Boden bereiteten: zum einen die rigide Vereinnahmung Kafkas durch die Surrealisten, insbesondere durch André Breton, zum anderen die starken Interferenzen mit der Modeströmung des jungen Existenzialismus. Frankreich ist auch das erste Land, in dem sich der Begriff 'kafkaesk' durchsetzte, häufig synonym verwendet mit dem im Existenzialismus so wichtigen 'Absurden'. Doch bereits Albert Camus, der seinem 'Mythos von Sisyphos' nachträglich ein Kafka-Kapitel einfügte, äußerte Zweifel daran, dass man damit Kafka gerecht werde. Freimütig räumte er ein, dass man diesen Autor auch gesellschaftskritisch lesen könne, ja, dass es sogar möglich und berechtigt sei, Kafkas Werk unter rein ästhetischen Gesichtspunkten zu betrachten, ohne es irgendwelchen philosophischen oder religiösen Ideologien zuzuordnen."
Reiner Stach in: "Franz Kafka: Der Process. Kommentierte Ausgabe"
Diesen Ansatz verfolgt auch Stach selbst. Er fasst in seinen editorischen Überlegungen den Stand der Forschung bündig zusammen und geht in erster Linie pragmatisch vor.
Die Überlieferungssituation des unvollendeten Romans mit isolierten Kapiteln und Fragmenten bringt es mit sich, dass jede Lesefassung auch ein willkürlicher Akt ist. Seit den ersten Zusammenstellungen und Eingriffen Max Brods sind die verfügbaren Textbausteine des Romans „Der Process“ in den verschiedenen Buchausgaben in unterschiedlicher Reihenfolge gedruckt worden. Für die offizielle kritische Gesamtausgabe bei S. Fischer hat Malcolm Pasley aus dem vorhandenen Material zum ersten Mal eine schlüssige inhaltliche Anordnung vorgelegt und einige Fragmente in einen separaten Anhang dazugestellt. Stach durchbricht jetzt die Fassung von Pasley zweimal: Er nimmt das Kapitel „B.s Freundin“ aus dem Anhang und fügt es hinter dem Kapitel „Gespräch mit Frau Grubach“ in den fortlaufenden Text ein. Eine ähnliche Begradigung unternimmt er am Ende des Kapitels „Der Onkel“. Der Schwerpunkt von Stachs neuer „Kommentierter Ausgabe“ liegt indes auf dem ausführlichen Stellenkommentar.
Die Wirkungsmacht seiner Bilder
Der Herausgeber verweist also in erster Linie auf andere Passagen des Romans, um innere Zusammenhänge aufzuzeigen. Aber er geht oft auch darüber hinaus und nimmt den Leser quasi an die Hand. Nur ein Beispiel:
"Die Rachephantasie des Gerichtsdieners ist ein Echo auf die ebenso folgenlosen Rachephantasien K.s, die lediglich der momentanen psychischen Entlastung dienen."
Reiner Stach in: "Franz Kafka: Der Process. Kommentierte Ausgabe"
Manchmal taucht in solchen Formulierungen die Gefahr auf, die Erfahrungen des Lesers von vornherein in eine bestimmte Richtung zu lenken. Grundsätzlich bietet Stach aber eine solide didaktische Unterstützung. Maßgebend ist für ihn ein „Glossar“, das die wesentlichen Stichworte liefert und auf das sich die Stellenkommentare immer wieder beziehen. Es besteht nur aus wenigen Begriffen. Sie lauten: „einsinniges Erzählen“, eine Wortfindung, die er vom alten Hölderlinforscher Friedrich Beißner übernimmt, sowie „Erzählersignal“, „Spiegelfunktion des Gerichts“ und „Traummotiv“. Das heißt: Stach bleibt nah am Text und vermeidet theoretische Höhenflüge. Er distanziert sich damit von ausschließlich psychoanalytischen, gesellschaftspolitischen und religiös-mythischen Auslegungen und bleibt immer bei seiner Ausgangsthese:
"Es sind offenkundig nicht die mehr oder minder verwirklichten Ideen, auch nicht die subtilen erzählerischen Kunstgriffe dieses Autors, es ist die Wirkungsmacht seiner Bilder, die immer neue Generationen von Lesern in ihren Bann ziehen."
Reiner Stach in: "Franz Kafka: Der Process. Kommentierte Ausgabe"
Eine konzentrierte biografische Skizze
Bestimmt keine ausgesprochene Kafka-Witwe ist Rüdiger Safranski. Aber angesichts des anstehenden Jubiläums wollte dieser Autor offenkundig nicht hintanstehen. Safranski hat sich einen Namen als Biograf deutscher Geistesgrößen gemacht, die den klassischen Bildungskanon prägen, angefangen bei Goethe und Schiller. Zum jüngsten Hölderlinjahr 2020 hat er dann auch eine Hölderlinbiografie beigesteuert. Kafka indes scheint sich seines üblichen biografischen Zugriffs ein bisschen entzogen zu haben. Längst sind ja sämtliche Details dieses kurzen Lebens beleuchtet, im Grunde ist jeder Tag chronologisch erfasst, und Reiner Stach hat erst in den letzten Jahren mit seinem Monumentalwerk den Scheinwerfer noch einmal neu justiert.
Rüdiger Safranski: "Kafka. Um sein Leben schreiben"© Hanser Verlag
Safranski blieb da nur die Möglichkeit, die Ästhetik Kafkas in ihren fragmentarischen Eigenarten ernst zu nehmen, vieles auszulassen und sich eine konzentrierte biografische Skizze vorzunehmen. Ihr Titel lautet: „Kafka. Um sein Leben schreiben“. Und das ist natürlich der zentrale Punkt. Leben und Schreiben waren für Kafka identisch, alle Zeugnisse von ihm verweisen darauf. Welche Konsequenzen das für ihn hatte: Dieser Frage musste sich jeder stellen, der sich bisher mit Kafka befasste. Und selbst wenn sich Safranski skizzierend auf das Kernmotiv des Schreibens beschränkt, stößt er ständig auf Passagen, die bereits vor ihm ausgiebig interpretiert worden sind. Fast leitmotivisch kehrt bei ihm zum Beispiel eine der klassischen Kafka-Sentenzen wieder:
"Am 14. August 1913 schreibt Franz Kafka an seine Verlobte Felice Bauer: 'Ich habe kein literarisches Interesse, sondern bestehe aus Literatur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein.'"
Rüdiger Safranski in: „Kafka. Um sein Leben schreiben“
Safranski schreibt das in seiner kurzen „Vorbemerkung“, schon auf der zweiten Seite des ersten Kapitels wiederholt er dieses Zitat, und natürlich ist dieselbe Kafkastelle unvermeidlich, wenn er später noch ausführlich auf den Briefwechsel mit Felice zu sprechen kommt. Safranskis Buch ist für seine Verhältnisse mit 250 Seiten ziemlich kurz, und es enthält auch lange Inhaltszusammenfassungen der zentralen Werke. Sie sind gelegentlich durchaus pointiert, hätten manchmal aber auch knapper ausfallen können. Der Biograf stößt zwangsläufig auf große Herausforderungen. Wenn man etwa gewillt ist, den umfangreichen und langwierigen Briefwechsel Kafkas mit Felice im Einzelnen nachzuerzählen, stellt man sich unwillkürlich dem Tatbestand, dass es schon vor Jahrzehnten eine detaillierte Studie des brillanten Stilisten Elias Canetti darüber gab.
Wenig differenziertes Brod-Bild
Safranski gewichtet aber auch. Da er sich auf die Quellen konzentriert, die etwas mit Kafkas Schreiben direkt zu tun haben, ergeben sich manchmal schlüssige Erkenntnislinien. Insgesamt jedoch ist festzustellen: Es ist eine große Kunst, bereits Bekanntes so zu erzählen, dass es ganz neu und überraschend wirkt, und diese biografische Skizze geht selten über routinierte Raffungen hinaus.
So kommt Safranski auf die Geschichte mit dem Ladenmädchen gegenüber, das Kafka kurz vor seiner ersten juristischen Staatsprüfung mit in ein Stundenhotel nahm, gleich mehrfach zu sprechen. Aber Klaus Wagenbach zum Beispiel hat es sogar in seinem knappen Reiseführer „Kafkas Prag“ schon prominent vorkommen lassen. Manchmal wird es bei Safranskis Einordnungen auch problematisch, so bei seiner Einschätzung von Kafkas Freund Max Brod:
"Walter Benjamins Bemerkung, es handle sich hier um eine Freundschaft, 'die nicht zu den kleinsten Rätseln in Kafkas Leben gehören dürfte', ist in Bezug auf Brod, der damit zu einem Unbedarften herabgestuft wird, von nicht geringer Bosheit. Dass Max Brod, der sich später zu einem sehr religiösen Menschen entwickelte, das Werk seines Freundes religiös interpretierte, ist offensichtlich. Er hat aber als Herausgeber nie in diesem Sinne verfälschend ins Werk eingegriffen; ein Werk, das in großen Teilen überhaupt nur durch ihn vor der Vernichtung bewahrt wurde, wobei er allerdings im Widerspruch zur testamentarischen Verfügung des Freundes handelte."
Rüdiger Safranski in: „Kafka. Um sein Leben schreiben“
Das ist sehr summarisch und sehr gut gemeint, aber doch zu wenig differenziert. Brods Kafka-Bild hat jahrzehntelang die Rezeption in ideologisch schwierige Bahnen gelenkt, und genau das hatte auch Walter Benjamin mit seiner Bemerkung im Blick. Zu Safranskis Verdiensten gehört allerdings, dass er manchmal auch weniger Bekanntes hervorhebt. Mit zum Besten seines Buches gehören auf jeden Fall die Briefstellen von Milena Jesenská, einer der Geliebten Kafkas, an Max Brod. Sie belegen, dass sie Kafka wirklich sehr gut kannte, also auch sein verwickeltes, rätselhaftes und weit über seinen Tod hinaus wirkendes Innenleben. Und dieses Innenleben, obwohl die äußeren Daten inzwischen allseits bekannt sind, ist immer noch in der Lage, diverse kritische, historisch-kritische und kommentierte Leseausgaben hervorzubringen, deren stillschweigendes Einverständnis vor allem in einer Erkenntnis besteht: Es gibt ein Geheimnis. Wir sind mit Kafka immer noch nicht fertig.
- Kafkas Familie. Ein Fotoalbum. Zusammengestellt und mit einer Einleitung von Hans-Gerd Koch. Wagenbach-Verlag, Berlin 2024. 208 Seiten mit 100 Fotografien, 38 €
- Hartmut Binder: Auf Kafkas Spuren. Herausgegeben von Roland Reuß und Peter Staengle. Wallstein-Verlag, Göttingen 2023. 1002 Seiten, 89 €
- Franz Kafka: Das Urteil. Faksimilenachdruck der Erstausgabe des Buchdrucks von 1916. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Roland Reuß: Reihe: Historisch-Kritische Franz Kafka-Ausgabe, Supplementa. Wallstein-Verlag, Göttingen 2023. 67 Seiten, 18 €
- Franz Kafka: Der Process. Roman. Kommentierte Ausgabe, herausgegeben von Reiner Stach. Wallstein-Verlag, Göttingen 2024. 384 Seiten, 34 €
- Rüdiger Safranski: Kafka. Um sein Leben schreiben. Hanser-Verlag, München 2024. 256 Seiten, 26 €