Andreas Kilcher (Hg.): "Franz Kafka. Die Zeichnungen"
Mit Essays von Judith Butler und Andreas Kilcher.
Verlag C.H. Beck, München 2021
368 Seiten mit 229 farbigen Abbildungen, 45 Euro
"Franz Kafka. Die Zeichnungen"
Kafkas wiederentdecktes Werk
Franz Kafka war nicht nur Schriftsteller, er zeichnete auch: oft groteske und fantastische Figuren. Ein neues Buch versammelt das zeichnerische Werk. Der junge Kafka hätte durchaus bildender Künstler werden können, sagt Herausgeber Andreas Kilcher.
Bei Franz Kafka könnte man denken, dass nun wirklich alle seine Werke veröffentlicht sind, die er jemals produziert hat – insofern sie erhalten sind. Beim Geschriebenen stimmt das wohl auch. Doch jetzt erscheint ein Buch mit bisher der Öffentlichkeit unbekanntem Material von Franz Kafka. Es handelt sind jedoch nicht um Texte, sondern um Zeichnungen.
Das Buch "Franz Kafka. Die Zeichnungen" wird herausgegeben vom Züricher Professor für Literatur- und Kulturwissenschaft Andreas Kilcher. Es erscheint in Deutschland und sechs weiteren Ländern.
Der Band umfasst das gesamte zeichnerische Werk Kafkas. Viele dieser Zeichnungen seien "die letzte große Unbekannte von Kafkas Schaffen" gewesen, schreibt Kilcher darin. Es handle sich um etwa 150 unbekannte Zeichnungen. Die genaue Zahl sei jedoch nicht so leicht zu bestimmen, denn darunter befinde sich ein ganzes Heft, das von vorne bis hinten mit Zeichnungen versehen ist. "Wir kannten bisher nur die Spitze des Eisbergs."
Surreale Figuren
Kennzeichnend für Kafkas Zeichnen seien oft groteske, fantastische Figuren, die eher surreal oder traumhaft seien als real. Oft seien es "kleine Figürchen, Menschen, halb ins Tierische übergehende Gestalten, in vielfach bewegender Pose".
Als ein Beispiel beschreibt Kilcher das Bild mit dem Titel "Übermut des Reichtums": "Dort sehen wir zwei offensichtlich übermäßig wohlhabend gekleidete Damen, die von Dienern bewirtet werden, auf einem überdimensional großen Tablett ein riesiger Vogel, pfauenartig, und auf einer Empore ein Orchester, spielend."
Dass diese Zeichnungen erst jetzt an die Öffentlichkeit kommen, liegt an einer komplizierten Vererbungsgeschichte und einem langen Rechtsstreit. Kurz könnte man es so zusammenfassen: Die Zeichnungen waren zunächst im Besitz von Kafkas Freund Max Brod. Er hat sie seiner Sekretärin Ilse Ester Hoffe geschenkt. Nach deren Tod gab es eine jahrelange juristische Auseinandersetzung zwischen ihren Erben und der israelischen Nationalbibliothek. Heute befinden sich die Zeichnungen in dieser Nationalbibliothek.
Andere Sicht auf Kafkas Schreiben
Kafka habe in seiner Jugend und Studienzeit vor allem gezeichnet, erklärt Andreas Kilcher. Damals sei offen gewesen, ob seine Entwicklung in Richtung der bildenden Kunst oder der Literatur gehen würde. "Als Max Brod ihn im Studium kennengelernt hat, war Max Brod – wie er das beschreibt – klar, dass Kafka zeichnet, aber überhaupt nicht bewusst, dass er auch schreibt."
Seit er die Zeichnungen kenne, schaue er anders auf Kafkas literarische Werke, sagt Andreas Kilcher. Dass das Visuelle bei Kafka eine große Rolle spielt, sei schon bekannt gewesen. "Aber wir haben nicht gewusst, wie stark entwickelt das war." Nicht klar gewesen sei auch, wie er sich selbst etwas beigebracht hat, etwa, wie Körper gestaltet sind. "Das kann man, glaube ich, jetzt auch in seinem schriftstellerischen Werk anders sehen: dass er durch eine visuelle Schule hindurchgegangen ist."