Reiner Stach: "Kafka. Die frühen Jahre"
S. Fischer, Frankfurt a.M. 2014
608 Seiten, 14,99 Euro
"Ich bin Ende oder Anfang"
Sein Name ist zum Synonym für alles Groteske geworden, sein Leben selbst trug mitunter groteske Züge: Franz Kafka. Obwohl seine wichtigsten Romane unvollendet geblieben sind, gilt er als einer der bedeutendsten modernen Autoren überhaupt.
"Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt." Wenige erste Sätze der Weltliteratur sind wohl so berühmt wie dieser. Er stammt aus Franz Kafkas Erzählung "Die Verwandlung", die er 29-jährig im Jahr 1912 zu Papier bringt. Mit einem Umfang von rund 70 Druckseiten handelt es sich um die längste der von Kafka für abgeschlossen gehaltenen und zu seinen Lebzeiten veröffentlichten Erzählungen.
Radikal modern
Viele andere Werke, für die Kafka heute bekannt ist – etwa die Romane "Der Prozess" oder "Das Schloss" –, hat er nie fertiggestellt und sie wurden erst nach seinem Tod veröffentlicht. Und doch gilt er heute als einer der ganz großen Schriftsteller der Moderne. Die Schriftstellerin Sybille Lewitscharoff, die sich gern als größte lebende Kafka-Bewunderin bezeichnet, hält ihn gar für "den Modernsten überhaupt".
Kafka selbst war sich seiner historischen Einordnung weniger sicher, weiß der Literaturwissenschaftler Reiner Stach, der sich seit über zwei Jahrzehnten mit Franz Kafka beschäftigt und im S. Fischer Verlag eine dreibändige Kafka-Biografie veröffentlicht hat: "Ich bin Ende oder Anfang", zitiert Stach einen berühmten Ausspruch Kafkas:
"Er wollte damit sagen: ich repräsentiere entweder das Ende einer langen Tradition klassischer Literatur – ich komme von Goethe, ich komme von Kleist, vielleicht auch noch Flaubert, obwohl der auch schon modern ist, und ich bin hier sozusagen ein Endpunkt. Oder ist es vielleicht andersrum: Ist das kein Zerfall bei mir, sondern ich baue jetzt aus den Bruchstücken, die ich von der Tradition übernehme, etwas vollkommen Neues."
Die erste Stunde der Langen Nacht über Franz Kafka führt in seine eindrucksvollen Wortwelten, die nicht umsonst den Begriff "kafkaesk" geprägt haben. Prag in der Belle Epoque und in das Milieu, in dem Kafka aufgewachsen ist, ist Thema der zweiten Stunde. Und die dritte Stunde dieser Langen Nacht widmet sich dem literarischen Œuvre des Prager Schriftstellers, eng verbunden mit seiner Arbeit bei der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt.
Im Schatten eines autoritären Vaters
Geboren wird Kafka am 3. Juli 1883 in Prag, als Sohn des Kaufmanns Hermann und seiner Frau Julie Kafka, geborene Löwy. Nicht nur im Geschäft, auch zu Hause regiert der Vater, ein großgewachsener, grobschlächtiger Mann, als Autokrat mit harter Hand, wie sich Kafka später in einem Brief an ihn erinnert: "Düstere Stille war bei Tisch, unterbrochen von Ermahnungen: 'Zuerst iss, dann sprich' oder 'schneller, schneller, schneller' oder 'Siehst du, ich habe schon längst aufgegessen'. Knochen durfte man nicht zerbeißen, du ja. Essig durfte man nicht schlürfen, du ja."
Da der Vater alles – vor allem Berge an Fleisch – schnell, heiß und in großen Bissen hinunterschlingt, muss sich auch das Kind mit dem Essen beeilen. Kein Wunder, dass sich Kafka in späteren Jahren zu einem überzeugten Vegetarier entwickelt.
Auch haben die Eltern, die die meiste Zeit im (florierenden) Geschäft verbringen, wenig Zeit für ihre Kinder, stattdessen kümmert sich häufig wechselndes Personal um sie, erzählt Reiner Stach: "Ich glaube, das hat ihm sehr geschadet, die Abwesenheit der Eltern. Das hat bei Kafka wohl schon zu Beziehungsstörungen geführt, also vor allem: kein Vertrauen in die Beständigkeit von menschlichen Bindungen."
Eleganter Jurist mit Selbstzweifeln
Franz gelingt es, trotz erheblicher Selbstzweifel, die Gymnasialzeit und auch die Prüfungen zum Abitur erfolgreich hinter sich zu bringen. 1901 beginnt Franz Kafka sein Universitätsstudium. Er inskribiert zunächst im Fach Chemie, wechselt aber bereits nach kurzer Zeit – mit einem Abstecher in Germanistik und Kunstgeschichte – in die juridische Richtung.
Der Schriftsteller Max Brod über seinen Freund Kafka (1968):
Der stets elegant gekleidete Student Kafka ist überdurchschnittlich groß. Er misst exakt 1,82 Meter und wiegt 61 Kilogramm. Als ihm ein Arzt eine gute gesundheitliche Konstitution attestiert, ist Kafka dennoch höchst beunruhigt: "Sicher ist, dass ein Haupthindernis meines Fortschritts mein körperlicher Zustand ist. Mit einem solchen Körper lässt sich nichts erreichen."
Am 18. Juni 1906 promoviert Franz Kafka zum Doktor der Rechte und beginnt danach sein Praxisjahr am Prager Land- und Strafgericht. Gleichzeitig sucht er nach einem geeigneten Posten mit einfacher Frequenz - also einem Bürodienst, der um 8 oder 9 Uhr morgens beginnt, und spätestens um drei Uhr am Nachmittag endet - um genug Zeit zu haben, an seinen Texten zu arbeiten.
Ein literarischer Junkie
Er hat Glück. Der Vater eines ehemaligen Schulfreundes verhilft Kafka zu einer Stelle als Hilfsbeamter in der Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt. Dort sind die Arbeitsbedingungen angenehm und mit einem frühen Dienstschluss verbunden.
Da allerdings sein Zimmer in der elterlichen Wohnung (in der er auch als Berufstätiger noch während seiner ganzen Zwanziger wohnt) ein Durchgangszimmer ist, findet er nur des Nachts die nötige Ruhe für sein Schreiben. In der Nacht vom 22. auf den 23. September 1912 gelingt es ihm schließlich, seine erste große Erzählung in einem Zug niederzuschreiben: "Das Urteil" – an deren Ende der Protagonist Georg Bendemann von seinem Vater ins Wasser getrieben wird.
"Er hat es als ungeheure Befreiung erlebt und als eine Art Rausch auch", weiß Reiner Stach. "Er war sozusagen ein literarischer Junkie, könnte man fast sagen. Er wollte dieses Erlebnis immer wieder haben."
Kafka selbst erschien das Schreiben als "süßer wunderbarer Lohn" für einen "Teufelsdienst": "Dieses Hinabgehen zu den dunklen Mächten, diese Entfesselung von Natur aus gebundener Geister, fragwürdige Umarmungen und was alles noch unten vor sich gehen mag, von dem man oben nichts mehr weiß, wenn man im Sonnenlicht Geschichten schreibt."
Exzellenter Beamter, katastrophaler Verlobter
Auch sein beruflicher Werdegang kann sich sehen lassen. Nach erfolgter Probezeit in der Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt wird er bald befördert und ins Beamtenverhältnis übernommen, drei Jahre später zum Vizesekretär ernannt.
"Er war ein sogenannter Konzeptsbeamter", erzählt Reiner Stach, "das heißt, seine Hauptaufgabe war, Briefe zu diktieren, und die Vorgesetzten haben sehr schnell gemerkt, dass er ein exzellenter Konzeptsbeamter ist" – später verhindern sie sogar erfolgreich seine Einberufung in den Ersten Weltkrieg – "während Kafka gegenüber den Freunden geschimpft hat, wie er da seine Energien verschwenden muss. Das ist aber eben nur ein Teil der Wahrheit. In Wirklichkeit war er keineswegs so desinteressiert am Inhalt seines Jobs, denn sonst hätte er nicht so viele Elemente mit in sein Werk übernommen."
1912 begegnet Franz Kafka zum ersten Mal der um vier Jahre jüngeren Felice Bauer – einer Frau, die von ihrem Wesen her kaum gegensätzlicher zu ihm sein könnte. Kafka will alles wissen von Felices Alltag, während er selbst nur wenig von sich preisgibt. Darüber hinaus ist Kafka von Selbstzweifeln geplagt: Im gleichen Brief, in dem er Felice um ihre Hand bittet, rät er ihr zugleich von einer Heirat mit ihm ab.
Zwar kommt es dennoch zu einer Verlobung, jedoch wird sie kurz darauf von Felice – wegen kompromittierender Briefe Kafkas – wieder aufgelöst (ein Muster, das sich später wiederholen wird). Zur gleichen Zeit beginnt der Erste Weltkrieg. "Und in dieser unfassbaren Situation, wo er erstens diese private Katastrophe erlebt und dann noch diese öffentliche Katastrophe dazu kommt, schafft der Mann es, den Prozessroman nicht nur zu beginnen, sondern gleichzeitig an mehreren Werken zu arbeiten. Und das ging so bis zum Frühjahr, also bis März, April 1915", erzählt Reiner Stach.
Ein Meister der Groteske
"Der Prozess" ist einer von mehreren unvollendeten Texten, die erst nach Kafkas Tod von seinem Schriftstellerfreund Max Brod veröffentlicht werden. Für Joseph K., den Protagonisten des Romans, hat es zunächst den Anschein, als beginne sein Tag mit einem bösen Scherz. An seinem dreißigsten Geburtstag wird er morgens im Bett von den beiden Wächtern Franz und Willem überrascht, die ihn kurzerhand verhaften. Sie nennen ihm weder den Grund für seine Verhaftung noch in wessen Namen sie handeln. Und sie verweigern jegliche Auskunft. Joseph K. ist ratlos.
Trailer zu Orson Welles’ Verfilmung des "Prozess" (1962):
Sybille Lewitscharoff, deren Liebe für Kafka mit der Lektüre dieses Romans begann, ist immer noch begeistert davon: "Man weiß nicht, wohin es gehen könnte, und zugleich ist die Bedrohung rasant, absolut unheimlich. Und ich glaube, mich hat einfach diese Form der radikalen Drohung, von der ein Mensch umzingelt wird, ohne genau zu wissen warum, fasziniert."
Trotz dieser unheimlichen Bedrohung, die in vielen Texten Kafkas präsent ist, hält Lewitscharoff ihn auch für einen "großen Komiker". Denn Komik auf hohem Niveau, besonders in ihrer grotesken Spielart, bewegt sich immer an der Grenze zum Tragischen. Vielfach bedarf es nur einer geringfügigen Verschiebung der Perspektive, damit das Komische in echte Verzweiflung umschlägt. So siedelt Kafka im "Prozess" das Gericht kurioserweise auf den Dachböden armseliger Mietskasernen an. Slapstick ist etwa die Episode von den Advokaten, die sich von einem gereizten Beamten solange die Treppe hinunterwerfen lassen, bis dieser müde ist.
Moderne Herrschaft allmächtiger Behörden
Als literarisches Pendant zum Prozess kann "Das Schloss" betrachtet werden, 1922 begonnen, dessen Protagonist K. in ein winterliches Dorf kommt, sich als Landvermesser ausgibt und versucht, zu einer Behörde vorzudringen. Die Behörden der beiden Romanfragmente haben einige Ähnlichkeit miteinander: Sie stehen weit über den ihnen ausgelieferten Menschen, sind mit ungeheurer Machtfülle ausgestattet und entscheiden über existentielle Fragen. Doch es ist unmöglich, mit ihnen zu kommunizieren, denn sie sind hermetisch abgeriegelt gegen die Außenwelt.
Kafka inspiriert sogar Computerspiele – Trailer zum "Franz Kafka Videogame" (2017):
"Er ist sicher einer der ersten Autoren der Moderne, die erkannt haben, dass sich an der Zunahme des bürokratischen Zugriffs etwas ganz dramatisch verändert", meint Reiner Stach, "und wenn das so weitergeht, haben wir eine ganz neue Form von Herrschaft, die keine politische Herrschaft im klassischen Sinne ist, mit Verhaftung und Durchgriff und Zuchthaus usw., sondern viel feingliedriger – heute würde man sagen: Eher so, wie es [der französische Philosoph Michel, Anm.d.Red.] Foucault beschreibt."
Ein sanfter Autor grausamer Bücher
Im August 1917 wird bei Kafka, nachdem er eines Morgens voller Blut im Mund erwacht ist, erstmals eine Lungentuberkulose diagnostiziert. Ein Jahr später erkrankt er an der Spanischen Grippe und beidseitiger Lungenentzündung. 1923 verschlechtert sich seine Gesundheit so rapide, dass seine Familie ihn in einem Lungen-Sanatorium in der Nähe von Wien einquartiert. Selbst in dieser letzten Lebensphase arbeitet Franz Kafka unermüdlich an neuen Texten – unterstützt von seiner späten Liebe Dora Diamant und seinem Schriftstellerfreund Robert Klopstock.
Das vollständige Manuskript dieser Langen Nacht finden Sie hier.
Am Nachmittag des 3. Juni 1924 stirbt Kafka im Sanatorium. "Herzlähmung" ist als Todesursache im Protokoll zu lesen. In ihrem Nachruf schreibt seine literarische Wegbegleiterin Milena Jesenská:
"Er war scheu, ängstlich, sanft und gut, doch die Bücher, die er schrieb, sind grausam und schmerzhaft. (…) Alle seine Werke schildern das Grauen geheimnisvoller Missverständnisse und unverschuldeter Schuld bei den Menschen. Er war ein Mensch und Künstler von so skrupulösem Gewissen, dass er auch dort noch wachsam blieb, wo die anderen, die Tauben, sich bereits sicher fühlten."
Produktion dieser Langen Nacht:
Autor: Nikolaus Scholz; Regie: der Autor; SprecherInnen: Michael Dangl, Irina Wanka, Sven Dolinski, Ursula Scheidle, Pavla Rasnerova; Redaktion: Dr. Monika Künzel; Webdarstellung: Constantin Hühn.
Über den Autor:
Nikolaus Scholz ist gebürtiger Wiener, Vater von fünf Kindern, und arbeitet seit über 30 Jahren als Hörfunkjournalist für den ORF sowie für das Deutschlandradio. Beim österreichischen Kultursender Ö1 gestaltet er eine wöchentliche Lyrik-Sendung, ist als Regisseur tätig sowie als Autor für Hörfunk-Features und längere Sendungsformate. Für die Lange Nacht setzt er sich vor allem mit literarischen Themen auseinander.