Franzobel (Hg.): "Das Geheimnisgeschichtenlexikon"

Extrem verdichtete Gedankengänge

Das Buchcover von "Das Geheimnisgeschichtenlexikon des David Sylvester Marek". im Hintergrund ein Alpenpanorama.
David Sylvester Mareks Notizen lesen sich wie Gedichte. © Klever-Verlag / imago stock&people
Von André Hatting |
Sie erinnern entfernt an Franz Kafka und Thomas Bernhard: Die Notizen von David Sylvester Marek sind rätselhaft. Der Leser taucht damit ein in ein fremdes Universum mit eigenen Koordinaten, Fixpunkten und Verflechtungen - eine einzigartige Leseerfahrung.
Das Geheimnisgeschichtenlexikon ist die abenteuerliche Reise in die Welt eines Menschen, für den unsere Ordnung Verwirrung bedeutet. Während andere Autoren beim Schreiben ihre Erfahrung wie durch ein Brennglas bündeln, gleichen die Geschichten von David Sylvester Marek dem Licht, das eine Discokugel in alle Richtungen reflektiert.
Der 46-jährige Wiener war Stipendiat eines Wettbewerbs für Menschen mit Lernschwierigkeiten. Gemeinsam mit seinem berühmten Landsmann und Schriftstellerkollegen Franzobel hat er ein Jahr lang daran gearbeitet, uns einen Ausschnitt seines literarischen Lebenswerks zu präsentieren. Seine alphabetisch sortierten Skizzen erinnern entfernt an Franz Kafka und Thomas Bernhard. Meistens sind es Beschreibungen von Landschaften und Städten, aber wie mit einem rätselhaften Code versehen:
"Ein Bergretter steht am steilen Aufstieg in der Waldschlucht. Es ist ein schmaler Pfad an steiler Felswand rechts. Links geht es steil hinunter zum Bach. Viel sumpfiger Morast und viel Gestrüpp von Bergkatastrophen liegen hier rum."

Krative Wortschöpfungen

Die Gestalt des Bergretters ist ein Leitmotiv und bildet neben der des rätselhaften Suchers laut Herausgeber und Mentor Franzobel so etwas wie Mareks Alter Ego:
"Zwischen Baustellen ist der Sucher unterwegs. 'Was gebe es jetzt zu tun', überlegt der Sucher und fühlt sich gleichzeitig überfordert. Denn so oft hat es schon Misserfolge gegeben, dass er sich dauernd orientierungslos verwirrt fühlt."
Manchmal bricht das Leiden des Suchers noch stärker durch: "Ich glaube, es fühlen sich alle gestört", "Kannst du die Leute nicht in Ruhe lassen, weil das nervt?" Wen oder was er aber genau sucht, bleibt unklar. Baustellen, Barrikaden, Gebirge - Mareks Topografien wirken wie die Illustration seiner Gedankengänge. Extreme Komposita - "Juwelierpassagenentwicklungsgarten", "Vorstadtbelagerungkampfschlachtengräben", "Klomuschelbeweihräucherungsrosarotbrillenschlangengraben" - erscheinen wiederum als eine Art Abkürzung innerhalb dieser Gänge.

Notizen wie Gedichte

Zu Recht betont Franzobel in seinem klugen Geleitwort, dass man die Einträge des Geheimnisgeschichtenlexikons wie Gedichte lesen sollte. Sie sind syntaktisch oft überkomplex und semantisch so extrem verdichtet, dass wir sie als Prosatext nicht verstehen können. "In meinen Texten versuche ich sämtliches zu vergleichen", erklärt Marek selbst dazu in seinem Vorwort. Sein Arbeitsmaterial belegt das: Atlanten, Satellitenbilder, etymologische Wörterbücher, ein Buch über Jörg Haider, eines mit Ostfriesenwitzen – und der Ratgeber "Wie man Freunde gewinnt". Das verzweifelte Bemühen, die anderen zu verstehen, macht einsam. Die Suche nach Freunden, nach einer Freundin besonders, ist deshalb das zweite große Thema des Geheimnisgeschichtenlexikons:
"Und die Liebe ist zwar kreativ ganz glückselig am Bauen, doch sie ist auch auf der Suche, denn so vieles ist hier flüchtig und findet sich nur schwer zurecht."

Gute Literatur erweitert unseren Horizont. Das Geheimnisgeschichtenlexikon verschiebt ihn zu einer einzigartigen Leseerfahrung.

Franzobel (Hg.): Das Geheimnisgeschichtenlexikon des David Sylvester Marek
Klever-Verlag, Wien 2018
200 Seiten, 22 Euro

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