Franzobel: „Hundert Wörter für Schnee“

Tiefkühlware mit Abenteueraroma

Cover des Buches "Hundert Wörter für Schnee" von Franzobel.
© Hanser Literaturverlage

Franzobel

Hundert Wörter für SchneePaul Zsolnay Verlag, Wien 2025

528 Seiten

28,80 Euro

Von Oliver Jungen |
Während zwei Amerikaner den Nordpol erobern möchten, landen einige Inuit 1897 in New York. Der Abenteuerroman auf historischer Grundlage erzählt vom Kampf mit den Elementen, von Kolonialismus und der Begegnung von Kulturen, die einander fremd sind.
Der Nordpol: Magnetisch angezogen wurden die beiden Abenteurer und Rivalen Robert Peary und Frederick Cook von jenem magischen Ort, von dem aus es in alle Richtungen nach Süden geht. Ihre Behauptung aber, den Nordpol 1908 beziehungsweise 1909 erreicht zu haben, ist in beiden Fällen umstritten. Auch bei Franzobel scheitern sie beide: heroisch an der arktischen Natur und kläglich am eigenen Ehrgeiz.
„Hundert Wörter für Schnee“ erzählt in penibel recherchierten Details vom langen Kampf mit den Elementen. Über Jahre nämlich unternahmen Peary und Cook, anfangs sogar gemeinsam, Hundeschlitten-Expeditionen in den Norden Grönlands. Begleitet wurden ihre Trupps von indigenen Inughuit, den nördlichsten Inuit, die im Eis zu überleben wissen. Auf dieses Zusammentreffen der Kulturen hebt der Autor ab: Die Polareskimos und die Amerikaner halten sich im Buch gegenseitig für primitive Wilde, kommen aber zunächst ganz gut miteinander aus.

Culture Clash mit Frauentausch

Zur Culture-Clash-Komödie wird der Roman, wenn Eskimomänner etwa auf rituellem Frauentausch bestehen. Pearys Ehefrau Josephine, die oft in Grönland mitüberwinterte, wäre gar nicht unbedingt abgeneigt. Ganz in seinem Element ist der Autor bei der Beschreibung der arktischen Küche:

„Jetzt brachten die Eskimos unter vielen Entschuldigungen, welch schlechte Gastgeber sie doch seien, eine gefrorene Robbe, hackten ein Loch hinein und holten faustgroße Klumpen hervor, von denen niemand der Qatlunaken wusste, was sie waren. Embryos? Erst als der weißliche Tran weggewischt worden war, erkannte Peary verrottete Federkiele. Fermentierte Krabbentaucher! Die Inughuit verschlangen sie gierig mit Putz und Stängel.“

Ein Iglu und zwei Inuit am Nordpol im Jahr 1908
Das Buch erzählt von dem Wettlauf der amerikanischen Entdecker Robert Peary und Frederick Cook zum Nordpol – und von der Begegnung zweier völliger verschiedener Kulturen.© picture-alliance / (c) Illustrated London News Ltd
Peary, deutlich unsympathischer gezeichnet als Cook, erweist sich allerdings als egozentrischer Rüpel mit Eroberer-Phantasma: ein Proto-Kolonisator mit wenig Respekt gegenüber der indigenen Kultur. Als er zwei geraubte heilige Steine, Meteoriten, ins American Museum of Natural History bringen lässt, macht der Leiter von dessen anthropologischer Abteilung – ein bekannter Name – einen Vorschlag:

„Vielleicht bringen Sie nächstes Mal ein lebendes Exemplar mit.
– Einen Menschen? Der Entdecker taxierte diesen Franz Boas. (…)
– Diese Rasse untersuchen …, vermessen und studieren. Es geht um wertvolle Erkenntnisse. Bei der Weltausstellung wurden Labradoreskimos gezeigt, aber die hatten bereits engen Kontakt mit der Zivilisation. In Hamburg werden fremde Völker in einem Zirkus ausgestellt, in Wien treten sie in Revuen auf. Aber so einen Polareskimo hatte noch keiner! Bringen Sie mir einen!“

Kolonialistische Entwurzelungen

Gesagt, getan. Gemeinsam mit einem weiteren, noch größeren Meteoriten – all das ist belegt – brachte Peary 1897 sechs Grönländer nach New York. Damit ist die zweite große Erzähllinie des Buchs eröffnet: eine Gegenexpedition sozusagen, die sich jedoch tragisch entwickeln sollte. Vier der neugierig beäugten Indigenen starben bald an Virusinfektionen. Noch bedrückender als dieses Schicksal wirkt die abschätzige Behandlung, die sie erfuhren.
Einer der Grönländer kehrte schließlich zurück in seine Heimat. Der inzwischen zur Vollwaise gewordene junge Minik blieb jedoch und wurde von einem Museumsmitarbeiter adoptiert. Jahre später musste er erfahren, dass seine toten Verwandten gar nicht begraben worden sind, wie man ihm vorgespielt hatte, sondern als Skelette im Museum ausgestellt wurden. Nach diesem ultimativen Verrat kehrte auch Minik nach Grönland zurück, aber er fand sich nicht mehr ein, hatte seine Identität zwischen den Kulturen verloren. Wieder zurück in Amerika starb er 1918 als verarmter Lohnarbeiter an der Spanischen Grippe.
Zu welchen Entwurzelungen das System aus Kolonialismus und Rassismus führte, kommt in Franzobels Doppelbiographie über Peary und Minik noch einmal ungefiltert zum Ausdruck. Für das Buch spricht auch, dass der Autor nicht moralisch überempört erzählt. So kommen auch gute Amerikaner vor, und Minik wird ein forscher Witz zugeschrieben. Dem Eisjungen ist etwa jede Wärmequelle recht, auch die Hölle:

„In der Sonntagsschule lernte er Jesus Christus und eine warme Stube kennen, in der alle Sünder erwartet wurden.
– Ich auch Sünder sein wollen. Was ist das?
– Du bist schon einer, wenn Du solche Reden führst.“

Deplatzierter erzählerischer Anarchismus

Doch schon die Idee, Minik auf diese Weise sprechen zu lassen, erinnert an schlimmste Filmkomödien. Ähnlich unbeholfen wirken Ausrufe wie „Voll der Blitz“, die den Ghettoslang von Pearys Schwarzem Begleiter Henson imitieren sollen. Zudem flicht der moderne Erzähler Begriffe wie „Ikea“ oder „Microsoft“ ein, ohne aber die Linien auch inhaltlich in die Gegenwart auszuziehen.
Stets erfrischend sind Franzobels Vorlieben für das Grobianische und den dröhnenden Kalauer. Es ist, als freue er sich wie ein Kind darüber, Leser aus der Versenkung zu schubsen. Das ist allerdings purer Spaß, es geht nicht um Erkenntnis. Dieser erzählerische Anarchismus, der an den frühen Grotesken des Autors faszinierte, wirkt in einer ethisch fundierten Kolonialismus-Dekonstruktion jedoch nicht subversiv, sondern deplatziert.
Dass Peary mit der Poleroberung seinen strengen Vater überwinden möchte, ist Tiefenpsychologie für Dummies. Nicht anders das Herumspuken einer indigenen Muttergöttin im Unterbewusstsein der Eroberer. Das zentrale narrative Motiv wiederum, das der Spiegelung, wird in seiner Banalität überstrapaziert, wenn Minik auch noch unablässig „Ich bin der Spiegel“ sagen muss.
Das ist schade angesichts des enormen Erzählaufwands. Als Abenteuerprosa auf historischer Grundlage hat der Roman seinen Reiz, aber als Reflexion über die Mechanismen politisch-kultureller Hegemonie wirkt er einfach zu naiv. Es kommt einem vor, als sei Franzobel mit seiner poetischen Expedition ähnlich gescheitert wie seine Helden: Die stilistische Eroberung, die ihm vorschwebte, bleibt Behauptung.
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