Aus Angst nach Israel
Rund 500.000 Menschen jüdischen Glaubens leben in Frankreich und unter ihnen wächst die Angst vor dem Antisemitismus. Tausende sind in den vergangenen Jahren bereits nach Israel ausgewandert. Experten glauben: Viele werden nach den Anschlägen in Paris folgen.
Es ist Sonntagnachmittag, in der Innenstadt von Tel Aviv. Während in Paris eineinhalb Millionen Menschen der Toten der Anschläge gedenken, versammeln sich auch die Franzosen von Tel Aviv. Ihr Motto: "Je suis Charlie – cacher aussi" – "Ich bin Charlie und kosher". Am Rand der Kundgebung steht Semantha. Sie ist vor acht Jahren aus Paris nach Israel gezogen.
"Ich bin nach dem Mord an Ilan Halimi hergekommen. Das war für mich der ausschlaggebende Punkt. Plötzlich habe ich mich mehr jüdisch als französisch gefühlt. Ich war 25, als ich ausgewandert bin. In einem Land, in dem Juden weniger wert sind als andere Menschen, wollte ich keine Kinder bekommen."
Der Antisemitismus in Frankreich wächst
Ilan Halimi war ein französischer Jude. Im Januar 2006 wurde er von einer Gruppe muslimischer Einwanderer zu Tode gefoltert. Im März 2012 erschoss ein Moslem vier Menschen vor einer jüdischen Schule in Toulouse. Der Antisemitismus in Frankreich wächst. Allein im Laufe des vergangenen Jahres hat sich die Zahl anti-jüdischer Beschimpfungen, Drohungen und Angriffe verdoppelt.
Eine Stunde nördlich von Tel Aviv liegt Netanja. Hier ist in den vergangenen Jahren eine französische Enklave entstanden. Nachmittags zieht es viele Franzosen in die Cafés am Kikar Ha’atsmaut. An der Strandpromenade läuft ein französischer Schlager, die „agence immobilière“ bieten Wohnungen speziell für Franzosen. Selbst der Falafel-Stand nennt sich „Chez Claude“. Eine Atmosphäre wie in Nizza.
Vor einem Restaurant sitzen drei Französinnen mit ihren Kindern. Sie kennen sich aus Paris, ihre Kinder waren dort auf der selben jüdischen Schule. Jeanne Criève ist vor vier Monaten mit ihrem Mann und ihrer Tochter eingewandert.
"An jüdischen Schulen gibt es keine Sicherheit mehr. Dort sagt man den Kinder nach Schulschluss, sie sollten auf der Straße besser ihre Kippa abnehmen. Wenn ich in Paris jemandem in die Augen gucke, spüre ich die Aggressivität. Dann heißt es: Jude, geh zurück in dein Land. Das ist doch nicht normal."
In Netanja fühlt sich Jeanne sicher - und zuhause. Das ist kein Wunder, denn Franzosen sind seit zwei Jahren die größte Einwanderergruppe nach Israel. 2014 haben 6.600 französische Juden "Aliyah" gemacht, sind also ganz offiziell in Israel eingewandert. Das sind fast doppelt so viele wie im Jahr davor. Aber nicht alle fliehen vor Antisemitismus, sagt Esther Schely-Newman. Sie ist Professorin an der Uni in Jerusalem und hat die französische Einwanderung erforscht.
"Viele nordafrikanische Familien haben sich vor Jahrzehnten getrennt – einige sind nach Frankreich, andere nach Israel. In Israel kommen sie wieder zusammen. Andere Gründe sind die Wirtschaftskrise in Frankreich und natürlich Zionismus. Für viele Juden war Frankreich nur eine Zwischenstation."
Auswanderungswelle könnte ein Problem werden
Für die jüdische Gemeinde in Frankreich könnte die Auswanderungswelle ein Problem werden. Mit rund 500.000 Mitgliedern ist sie die größte in Europa. Benjamin Netanjahu hat die französischen Juden aufgefordert, "heim" zu kehren, nach Israel. Frankreich ohne Juden ist nicht mehr Frankreich, hat der französische Premier Manuel Valls darauf geantwortet. Damit die jüdische Gemeinde in Frankreich trotz Auswanderung lebendig bleibt, engagiert sich die Jewish Agency dort besonders. Das ist paradox, denn die Jewish Agency ist die offizielle Einwanderungsorganisation des Staates Israel. Avi Mayer ist ihr Sprecher.
"Wir haben einen Fonds aufgelegt, um die französischen Gemeinden zu schützen. Wir investieren viel Geld, und das schon seit einigen Jahren. Es ist uns wichtig, dass die Franzosen, die sich entscheiden nach Israel zu kommen, das tun, weil sie wollen und nicht weil sie Angst in Frankreich haben."
Die Jewish Agency unterstützt alle Juden die einwandern, bezahlt das Flugticket, hilft bei der Job- und Wohnungssuche und finanziert im ersten Jahr Versicherungen und Unterhalt. Trotzdem unterschätzen viele Franzosen den Schritt nach Israel, glaubt Sophie Taïeb. Sie ist Pariserin, 36 Jahre alt und arbeitet seit eineinhalb Jahren in israelischen Hotels.
"Man kommt in ein Land, in dem das Leben teuer ist, und dessen Sprache man nicht spricht. Man macht also einen Sprachkurs, fünf Stunden am Tag. Man braucht einen Job. Aber arbeiten, wenn man kein Hebräisch spricht, bedeutet, man kriegt erstmal die Jobs ohne Verantwortung. Deswegen sollte man es sich gut überlegen, ob man auswandert."
Experten rechnen damit, dass in diesem Jahr 10.000 Franzosen nach Israel einwandern. Die Geiselnahme in dem koscheren Supermarkt in Paris dürfte dazu beitragen. Gerade hat die Regierung Netanjahu ein Gesetz verabschiedet, um französische Abschlüsse leichter anzuerkennen. Das soll es den Franzosen noch einfacher machen, in Israel anzukommen.