Hitler: Die Regierung der nationalen Erhebung will arbeiten und wird arbeiten.
Hugenberg: Wir fordern Sparsamkeit – und eine umgestaltete, auch auf die großen Wirtschaftsgruppen übergreifende Selbstverwaltungspolitik.
Göring: Meine Herren Unternehmer, Sie sprechen immer von der freien Initiative der Wirtschaft. Jetzt haben Sie die freie Initiative, strengen Sie sich an!"
Das neu erwachte Interesse an der Geschichte des Nationalsozialismus
Éric Vuillards "Die Tagesordnung" und Olivier Guez' "Das Verschwinden des Josef Mengele" - im letzten Jahr gingen die wichtigsten Literaturpreise Frankreichs an zwei Romane über die NS-Zeit. Das Thema hat in der französischen Literatur derzeit Konjunktur. Warum?
Berlin. Am Ufer der Spree, zwischen Wilhelmstraße und Kanzleramt. Über den Fluss hinweg die modernen Gebäude der Bundestagsverwaltung. Geradeaus, in der Ferne, ist die Seitenfront des Brandenburger Tors wahrzunehmen. Rechts der Reichstag. Und hier, an der Ecke: das wuchtige Gebäude im Stil der Gründerzeit mit der langgestreckten Freitreppe.
"Ich kenne Berlin eigentlich nicht besonders gut. Aber ich bin hergekommen, um für das Buch zu recherchieren", sagt Éric Vuillard, der für seinen Roman "L'ordre du jour" ("Die Tagesordnung") 2017 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde. "Damals bin ich sehr viel spazieren gegangen, vor allem hier um das Gebäude des Reichstagspräsidenten herum."
Wo sich Hitler und die deutschen Industriekapitäne trafen
Wir befinden uns im Herzen des deutschen Parlamentarismus. Hier residierten während der Weimarer Republik die Präsidenten des Reichstags. Das Palais wurde bekannt, als hier im Herbst 2017 Bundeskanzlerin Angela Merkel über eine Dreier-Koalition verhandelte. Die Partei-Spitzen tagten in den Räumen, in denen heute die Parlamentarische Gesellschaft ihren Sitz hat - und zeigten sich allabendlich auf dem Balkon, um sich von den Kamerateams filmen zu lassen.
"Die Inneneinrichtung wurde nach dem Krieg nur annäherungsweise rekonstruiert", sagt Vuillard. "Dieser Balkon, der auf die Spree hinausgeht, gehört zu dem Saal, in dem sich höchstwahrscheinlich Hitler, Göring und die 24 Chefs der größten deutschen Industrieunternehmen trafen."
Das neoklassizistische Haus mit den dicken Säulen wurde vom Reichstags-Architekten Paul Wallot entworfen und 1904 eingeweiht. Éric Vuillard berichtet von seinen Recherchen:
"Die Bundestagsverwaltung war sehr nett und hat mir die Türen geöffnet. Ich konnte auch einige Archive besuchen, in denen alte Fotos aufbewahrt werden. Damit man sich vorstellen konnte, wie das Haus am Abend des 20. Februar 1933 aussah.
"Vierundzwanzig schwarze, braune oder cognacfarbene Überzieher, vierundzwanzig mit Wolle gepolsterte Schulterpaare, vierundzwanzig Dreiteiler. (…) Die Schatten stießen in das große Vestibül des Reichstagspräsidentenpalais vor." So heißt es in der kunstvoll choreographierten Eingangsszene des Romans "Ordre du jour" - auf Deutsch: "Die Tagesordnung".
Darin lässt Éric Vuillard die führenden Industriellen Deutschlands zum geheimen Antrittsbesuch beim frisch gekürten Reichskanzler Adolf Hitler aufmarschieren, der im Palais des Reichstagspräsidenten Hermann Göring Hof hält:
"Die vierundzwanzig Silhouetten nehmen gemessenen Schrittes den ersten Treppenlauf, arbeiten sich dann über die einzelnen Abschnitte der Stufenfolge weiter empor, wobei sie gelegentlich stehenbleiben, um ihr altes Herz nicht zu überanstrengen. (…) Endlich stoßen sie in den kleinen Salon vor. Wolf-Dietrich, der Privatsekretär Carl von Siemens, vertrödelt einen Moment neben der Terrassentür. (…) Einen Steinwurf entfernt schiebt Wilhelm von Opel, die zierlichen Gipsfiguren an der Decke bewundernd, seine dicke runde Brille rauf und runter." (Aus: "Tagesordnung")
Momente, die den Lauf der Geschichte beeinflussten
Éric Vuillard wurde 1968 in Lyon geboren und lebt heute in Rennes in der Bretagne. Er ist nach Berlin gekommen, um die deutsche Übersetzung seines Romans vorzustellen, der nicht nur in Frankreich, sondern auch hierzulande seit seinem Erscheinen auf den Bestsellerlisten steht. "Die Tagesordnung", kaum 120 Seiten lang, ist eine minutiöse und prägnante Betrachtung nationalsozialistischer Funktionsweisen – fokussiert auf die Verquickung von Hitler und der deutschen Industrie:
"Sie heißen BASF, Bayer, Agfa, Opel, I.G. Farben, Siemens, Allianz, Telefunken. (…) Sie sind hier, unter uns und zwischen uns. Sie sind unsere Autos, unsere Waschmaschinen, unsere Reinigungsmittel, unsere Radiowecker, unsere Hausversicherung und die Batterie in unserer Uhr."
Éric Vuillard geht es in seinem Roman weniger um den Nationalsozialismus an sich. Sondern um bestimmte Momente, aus denen heraus etwas entsteht, was den Verlauf der Geschichte beeinflusst. So wie das Geheimtreffen der Industriemagnaten. Oder auch die legendäre Begegnung auf dem Obersalzberg, bei der der "Anschluss" Österreichs verhandelt wird:
"Nach einigem höflichen Hin und Her schließen sich gegen elf Uhr morgens die Türen von Adolf Hitlers Arbeitszimmer hinter dem österreichischen Bundeskanzler: Vorhang auf für eine der grandiosesten und groteskesten Szenen aller Zeiten. (…) Weil er nicht genau weiß, was er sagen soll, wendet Kurt von Schuschnigg den Kopf und bewundert die Aussicht. (…) Sofort fährt Hitler ihm über den Mund: "Wir sind ja nicht zusammengekommen, um von der schönen Aussicht und vom Wetter zu reden!" Schuschnigg ist wie gelähmt."
Und so unterschreibt der österreichische Kanzler schließlich die Erklärung, die zur Unterwerfung seines Landes unter Hitlers Willen führt.
Das Leben Josef Mengeles nach 1945
Die Überraschung war groß, als im Herbst 2017 sowohl der Prix Goncourt als auch der Prix Renaudot - die beiden wichtigsten literarischen Auszeichnungen in Frankreich - an Bücher gingen, in denen Deutschlands Nazi-Vergangenheit im Mittelpunkt steht.
Neben Vuillards "Ordre du jour" wurde Olivier Guez’ Roman "La Disparition de Josef Mengele" ausgezeichnet. "Das Verschwinden des Josef Mengele" - eine Spurensuche nach dem KZ-Arzt, der in Auschwitz medizinische Versuche an Menschen durchgeführt hatte.
"Mir war es wichtig, sein Leben 'danach' zu zeigen", sagt Olivier Guez. "Mengele nach Mengele. Wie ist dieser Mann nach Südamerika gegangen, wer hat ihn dort unterstützt? Was hat der BND gemacht, was hat der Mossad gemacht? Das ist wie ein Krimi."
Der Journalist und Buchautor Olivier Guez ist 1974 geboren. Er stammt aus Straßburg. Seine Frau ist Deutsche. Für den Spielfilm "Der Staat gegen Fritz Bauer" hat er am Drehbuch mitgeschrieben.
In dem 2016 mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichneten Doku-Drama geht es um die Jagd nach dem SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann und anderen geflohenen Nazi-Funktionären in den 50er- und 60er-Jahren - die von den Alt-Nazis in der bundesrepublikanischen Justiz nach Kräften behindert wurde.
"Um das Drehbuch vorzubereiten, hatte ich viel über Argentinien in den 50er-Jahren gelesen. Und natürlich sehr oft Mengele gefunden. Ich würde sagen, das Buch ist ein bisschen eine Folge des Films."
"Das Verschwinden des Josef Mengele" ist ein an historischen Fakten orientierter Roman, der darüber hinaus versucht, in das "Monster" Mengele hineinzuschauen, der an der Rampe in Auschwitz die Juden "selektierte" und damit willkürlich über Tod und Leben entschied:
"Stets elegant gekleidet und zum Scherzen aufgelegt, genießt Gregor [wie sich Josef Mengele bei seiner Ankunft in Argentinien zur Tarnung nannte] einen guten Ruf in der deutschen Gemeinschaft von Buenos Aires. Weil er als Geistesgröße gilt, spickt er seine Sätze mit Zitaten von Fichte und Goethe. (Aus:"Das Verschwinden des Josef Mengele")
Schöngeist und Massenmörder – wie passt das zusammen?
"Mengele ist ein gutes Beispiel, wie ein Mann ohne Eigenschaften so viel Böses machen kann. Mengele ist ein Sohn des europäischen Bürgertums. Er hat zwei Doktortitel, Medizin und Anthropologie. Er hat eine schöne Frau, die Kunstgeschichte in Florenz studiert hat. Seine Familie hat viel Geld. Er mag klassische Musik, klassische Literatur. Aber ein paar Jahre später kann er 400.000 Leute in die Gaskammer bringen.
Ich glaube, das ist eine europäische Geschichte. Wir leiden immer noch an der Nachfolge dieser Katastrophe, dieses Rätsels. Diese Banalität des Bösen, das Mengele repräsentiert, interessiert viele Leute."
In einer Aufnahme, die wahrscheinlich in Brasilien entstand, singt Josef Mengele zum Klavier. Ein beklemmendes Ton-Dokument des "Todesengels von Auschwitz".
Nach der Verhaftung Adolf Eichmanns 1960, nach den Auschwitz-Prozessen 1963, spätestens aber in Folge der 68er-Bewegung hatte sich in der Bundesrepublik ein Bewusstseinswandel vollzogen. Die nach Südamerika geflüchteten Nazi-Größen konnten sich dort nun nicht mehr so unbehelligt tummeln und lukrativen Geschäften nachgehen - so wie Josef Mengele im Auftrag seiner Familie, deren Firma im bayerischen Günzburg landwirtschaftliche Maschinen herstellte und nach Argentinien exportierte.
Olivier Guez: "Die Geschichte der Nazis nach dem Krieg ist nicht gut bekannt. Die Figur Mengele aber ist ziemlich bekannt. In den 60er- und 70er-Jahren war Mengele wie eine Popfigur."
Doch warum fasziniert eine solch monströse Person wie Mengele bis heute? Olivier Guez’ Roman war schon vor der Auszeichnung mit dem Prix Renaudot ein Bestseller. Er wurde in viele Sprachen übersetzt. Seit dem Frühjahr reist Guez durch ganz Europa, von Buchmesse zu Buchmesse, von Lesung zu Lesung. Das Interesse an dem Roman über den KZ-Arzt ist auch heute noch, mehr als 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, enorm:
"Nazismus bleibt immer noch ein Thema, nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa. Ich habe es in Italien erlebt, in Griechenland, in Holland, auch in Spanien. Es bleibt am Ende ein riesiges Rätsel, im Herz der europäischen Geschichte. Wie ist es passiert? Und Mengele natürlich ist ein Symbol der Industrie des Todes."
Littells "Die Wohlgesinnten" sorgten weltweit für Furore
"Also, dass es ausgerechnet diese beiden im selben Jahr zwei solche Bücher waren, ist sicher eher Zufall", sagt Joseph Hanimann, Frankreich-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung. Er war ebenfalls überrascht von der Renaudot- und Goncourt-Entscheidung. "Wobei natürlich im Hintergrund seit langem schon da ist für die deutsche Geschichte, also die literarische Faszination für die deutsche Geschichte und speziell die deutsche des Zweiten Weltkriegs."
Und Olivier Guez verweist auf eine ganze Reihe von Romanen, die im vergangenen Jahrzehnt jenseits des Rheins rund um das Thema erscheinen sind: "Es ist das vierte Buch, das sehr erfolgreich ist, nach Littell, Binet, Vuillard und ich in weniger als 10 Jahren. Warum, weiß ich nicht, es sind sehr verschiedene Bücher."
Und Olivier Guez verweist auf eine ganze Reihe von Romanen, die im vergangenen Jahrzehnt jenseits des Rheins rund um das Thema erscheinen sind: "Es ist das vierte Buch, das sehr erfolgreich ist, nach Littell, Binet, Vuillard und ich in weniger als 10 Jahren. Warum, weiß ich nicht, es sind sehr verschiedene Bücher."
"Die Wohlgesinnten", Jonathan Littells epochales 1000-Seiten-Werk über den Holocaust hatte 2006 weltweit für Furore gesorgt. "Himmlers Hirn heißt Heydrich" von Laurent Binet erhielt 2010 den Prix Goncourt in der Kategorie Debüt-Roman. Und jetzt die beiden höchsten belletristischen Auszeichnungen Frankreichs für Éric Vuillard und Olivier Guez, die sich zwei Aspekten der deutschen Jahrhundertkatastrophe widmen. Steckt dahinter mehr als die Vorliebe der einflussreichen Literatur-Jurys für große Geschichts-Panoramen?
Joseph Hanimann: "Diese beiden Bücher, die jetzt gekrönt wurden, sind nicht die einzigen. Es gibt einen Roman, der auch letztes Jahr erschienen ist, ein Erstlingsroman, von Sebastian Spitzer, über Marga Goebbels und ihren Tod, parallel gelesen zu einem Fall im KZ."
"Ich dachte, kein Mensch will mehr etwas von Deportationen hören"
Und da sind "Transport" von Yves Flank. Und "La Suivante" von Sarah Emmerich. Anders als Vuillard und Guez, deren Bücher überwiegend aus historischer Recherche entstanden sind, sind diese beiden kürzlich erschienenen Romane stark von autobiografischen Elementen geprägt. Aus der Erfahrung von Verfolgung und Ermordung von Familienangehörigen - durch NS-Verbrecher wie Eichmann oder Mengele: vernichtet durch Gas aus den Fabriken der deutschen Industrie, verkrüppelt durch Menschenversuche.
"Ich dachte, kein Mensch will mehr etwas hören von den Deportationen", sagt Sarah Emmerich. Doch als sie ihr Manuskript an zehn Verlage schickte, wollten vier davon den Roman sofort herausbringen. "Vielleicht habe ich mich getäuscht, denn selbst die Goncourt-Jury hat sich im vergangenen Jahr ja für diese Auschwitz-Thematik interessiert. Und eine Menge Leser haben mir gesagt: Das, worüber Du schreibst, so genau wusste ich das nicht."
Lesen und hören Sie zum Thema auch Dirk Fuhrigs Rezension von Sarah Emmerichs "La suivante": "Massenvernichtung ist nur eine Frage des Zeitpunkts und des Ortes" vom 13.7.2018: Audio Player
Sarah Emmerichs Vater wurde in Budapest verhaftet und nach Auschwitz deportiert. Nach dem Krieg baute er sich eine Existenz in Frankreich auf.
"Vielleicht habe ich mir gesagt: Du, Leser, wenn Du meine Geschichte kennenlernen willst, musst Du die Lebensgeschichte meines Vaters ganz bis zum Ende anhören."
Die "Nachfolgerin" ist auch die "Verfolgerin"
Dass Sarah die "Nachfolgerin" eines Holocaust-Überlebenden ist – darauf verweist der Romantitel "La suivante", die Nachfolgerin.
"Eine Frau verfolgt mich. Diesmal bin ich sicher. Hör auf zu zittern wie ein Blatt im Wind, sonst merkt sie das! Ich muss weitergehen, koste es, was es wolle, ich muss! Los, Agnès, los, geh weiter!" (Aus "La suivante")
"La suivante" - das Wort kann im Französischen "die Verfolgerin" bedeuten, aber auch "die Nächste" - die nachfolgende Generation also. Mit dieser Mehrdeutigkeit spielt Sarah Emmerich.
Das Buch stellt reale Erinnerungen neben eine fiktionale Krimi-Handlung. Die Protagonistin hat das Gefühl, dass die Vergangenheit sie einholt. Sarah Emmerich hatte, ähnlich wie ihre Heldin, stets das Gefühl, etwas hinter sich herzuziehen. Etwas, das sie nie los wird.
"Ich kenne die Geschichte, die mein Vater immer wieder erzählt hat. Ich kenne sie auswendig, ich kenne sie seit eh und je. Ich habe sie so oft gehört, dass sie mich jetzt langweilt. Und ich schäme mich eher dafür, dass ich nichts mehr von Auschwitz hören will." (aus "La suivante", S. 14)
Auch das Erstarken der politischen Rechten heute hat mit der Sache zu tun
Sarah Emmerich ist Anfang 50. Raue Stimme, markantes Gesicht, Kurzhaarschnitt. Sie hat viele Jahre als Redenschreiberin für Politiker gearbeitet, unter anderem für den sozialistischen Bürgermeister von Paris, Bernard Delanoë. "La suivante" ist ihr erster Roman. Für sie, die zur "nachfolgenden Generation" gehört, ist es klar, dass die Vergangenheit enorm viel mit der Gegenwart - und eben auch mit der Gesellschaft und der Politik von heute - zu tun hat:
"Meine Protagonistin beschäftigt sich mit der politischen Rechten, weil sie herausbekommen will, was die Leute denken und reden. Am Anfang steht das Wort. Wenn sie von 'denen da' reden, von 'ihnen', wenn sie Wörter gebrauchen wie 'Überflutung' und 'Invasion', wenn sie anfangen, von 'Re-Migration' zu sprechen - was ja nur eine andere Bezeichnung für 'Ausweisung' ist. Sie hat ein feines Gespür für Sprache und Grammatik. Wörter kontaminieren die Köpfe - und schließlich mündet das in die Barbarei. Dieses Bewusstsein dafür, dass sich Worte in Taten verwandeln können, ist das Erbe ihrer Vergangenheit."
Hat das gegenwärtige Interesse vieler französischer Literaten an der Nazizeit also auch mit der Furcht vor dem starken "Front National" zu tun, der rechten Partei, die in Frankreich seit Jahren das gesellschaftliche Klima vergiftet?
"Ich habe mich während meines gesamten Studiums der Politikwissenschaft mit den Rechtsextremen in Frankreich beschäftigt. Ohne dass ich einen direkten Zusammenhang gesehen hätte zur Biografie meines Vaters", so Sarah Emmerich. "Meine Kommilitonen haben mich manchmal gefragt: Warum interessierst Du Dich nicht für Außenpolitik oder etwas anderes? Ich wusste auch nicht warum, aber das Phänomen Rechtsextremismus hat mich immer gefangen genommen."
Viele Opfer der Shoah haben ihr Leben lang geschwiegen
Besuch bei Gilles Rozier und Anne-Sophie Dreyfus. Die beiden leiten den Verlag L’Antilope im 11. Arrondissement von Paris. 4. Etage Altbau, knarrende Holzdielen, zwei große Räume, die auf den Boulevard Voltaire hinausgehen. Vor drei Jahren haben sie diesen Kleinverlag gegründet, in dem ausschließlich Bücher zur jüdischen Geschichte und Gegenwart erscheinen.
"Wir bekommen enorm viele Manuskripte, in denen es um den Zweiten Weltkrieg geht, um die Deportationen und um den Genozid. Vieles dreht sich um die eigene Familie. Jeder möchte seine eigene Geschichte erzählen", sagt Gilles Rozier, der selbst Schriftsteller ist. Sein 2003 erschienener Roman "Eine Liebe ohne Widerstand" spielt in der Nazizeit, die bislang nicht übersetzte Erzählung "Fugue à Leipzig" im Deutschland nach der Wiedervereinigung.
Der Verlag l’Antilope bringt ausschließlich belletristische Texte heraus. Ich sitze mit Rozier und seiner Kollegin Anne-Sophie Dreyfus auf dem Sofa in dem eleganten, lichtdurchfluteten Salon. Sie kennt die französische Verlagsszene seit Langem: "Der Horror hinterlässt Spuren. Auch nach drei, vier Generationen. Ich weiß nicht, ob vor 10, 20 Jahren noch mehr solcher Texte geschrieben wurden. Jedenfalls bekommen wir heute sehr, sehr viele davon."
"Oft geht es um das Schweigen", sagt Rozier. "Viele Opfer der Shoah haben ihr Leben lang geschwiegen. Jetzt versucht die dritte Generation, das, was die Großeltern erzählt haben, zu rekonstruieren."
Das Bedürfnis, die Gewalt des Nationalsozialismus noch einmal ins Bewusstsein zu bringen, ist, so scheint es, gerade heute in Frankreich wieder besonders groß.
Im Verlag l’Antilope ist im vergangenen Jahr auch der Roman "Transport" erschienen. Ein erschütterndes Buch, in dem Yves Flank in schonungsloser Brutalität die Grausamkeiten schildert, die Juden im französischen Sammellager Drancy, wenige Kilometer nördlich der Stadtgrenze von Paris, angetan wurden. Das Eingangskapitel spielt in einem jener Transport-Waggons, mit denen die Juden von dort nach Auschwitz deportiert wurden
Yves Flank - groß, hager, verwuschelte Haare, entschiedene Stimme - ist Schauspieler. Hier rezitiert er sein Buch auf einer Bühne in Marseille.
"Diese Ereignisse sind so extrem und brutal. Lange dachte ich, ich dürfte darüber nicht schreiben. Ich hätte es als obszön empfunden", sagt er. "Schauen Sie: Ich war gerade in Paris auf der Beerdigung meiner Tante Sosha. Sie ist mit 96 Jahren gestorben. Sie hat Auschwitz überlebt. Ebenso wie ihre Schwester. Ich konnte meinen beiden Tanten mein Buch aber nie zeigen. Nicht nur, weil sie wütend geworden wären. Sondern aus Respekt vor den Tausenden Frauen, die umgekommen sind. Vor dieser Selbstzensur hatte ich Angst."
Es fällt schwer, vor allem die ersten Seiten des Buchs zu lesen, in denen der Autor kein Detail der demütigenden Situation in einem "Transport"-Waggon auslässt. Aber Yves Flank belässt es nicht bei der Schilderung des Grauens:
"Der zweite Teil meines Buches, den ich den 'Gesang der rothaarigen Frau' genannt habe, ist ein erotisches Gedicht, das einen Gegenentwurf zur Barbarei darstellt. Es gibt nicht viele Mittel gegen Mittelmäßigkeit und die Grausamkeit. Aber die Liebe und die Sexualität sind ein solches Mittel gegen die Gewalt."
"Der zweite Teil meines Buches, den ich den 'Gesang der rothaarigen Frau' genannt habe, ist ein erotisches Gedicht, das einen Gegenentwurf zur Barbarei darstellt. Es gibt nicht viele Mittel gegen Mittelmäßigkeit und die Grausamkeit. Aber die Liebe und die Sexualität sind ein solches Mittel gegen die Gewalt."
Sich der eigenen Geschichte offen stellen
Und das Schreiben über die Shoah ist eine Möglichkeit, die Familiengeschichte aufzuarbeiten. Für Sarah Emmerich als Tochter der "Generation Holocaust" ebenso wie für die dritte Generation, der Yves Flank angehört:
"Warum konnte es in Frankreich soweit kommen? Warum gab es diese Gleichgültigkeit, warum gab es die Massenverhaftungen, warum waren die Franzosen dabei teilweise sogar eifriger als die Deutschen?"
Sarah Emmerich und Yves Flank geht es auch um Frankreichs aktuelles Verhältnis zur Vergangenheit. Eine Gesellschaft, die heute zu einem nicht unerheblichen Teil zwar rechts und national wählt - deren anderer Teil sich aber offener als noch vor einigen Jahren zeigt, sich den finsteren Seiten der Geschichte zu stellen. Dazu zählt neben der Kollaboration mit den Nationalsozialisten gerade bei der Judenverfolgung auch die Auseinandersetzung mit dem Erbe des Kolonialismus. Ein Bewusstsein, das sich gerade auch in der belletristischen Literatur ausdrückt.
Auch der Verleger Gilles Rozier zieht eine Linie bis zu den gesellschaftlichen Konflikten der Gegenwart: "Frankreich befindet sich derzeit in einer Identitätskrise. Man stellt sich Fragen wie: Was heißt es französisch zu sein? Wie gehen wir mit den arabisch-muslimischen Bürgern um - die einige immer noch nicht als Teil der Gesellschaft akzeptieren wollen?"
Geschichte als Schule der Gegenwart - vielleicht ist das neu erwachte Interesse an Romanen über Hitler und seine willigen Helfer, über Wirtschaftsbosse und KZ-Ärzte im literaturverrückten Frankreich tatsächlich auch Ausdruck der Unsicherheit über die Zukunft.
Zurück in Berlin. Die Spree ist voller Ausflugsschiffe. Ein heiterer Frühlingstag. Auf den Türmen des Reichstagsgebäudes wehen heute die Fahnen der Bundesrepublik und der Europäischen Union.
Mit Éric Vuillards Buch in der Hand kann man sich zwischen den rekonstruierten Regierungsgebäuden das historische Szenario jedoch gut vorstellen - damals, am 20. Februar 1933, als Deutschlands Unternehmer die Treppe an der mit Hakenkreuzfahnen geschmückten Front des Palais des Reichstagspräsidenten emporstiegen, um den Nationalsozialisten ihre Aufwartung zu machen:
"In diesem Augenblick erhebt sich Hjalmar Schacht" – Hitlers treu ergebener Bankier – "lächelt in die Versammlung und ruft: 'Und nun, meine Herren, zur Kasse!' Seine zugegebenermaßen etwas zackige Aufforderung ist für diese Männer nichts sonderlich Neues; sie sind mit Bestechungs- und Schmiergeldern bestens vertraut. (…) Die Mehrheit der Gäste zahlt umgehend mehrere hunderttausend Reichsmark. Gustav Krupp spendet eine Million. (…) Dieses Treffen, in dem man einen einmaligen Moment der Arbeitgebergeschichte sehen könnte, ein unerhörtes Zugeständnis an die Nazis, ist für die Krupps, die Opels und die Siemens nicht mehr als eine alltägliche Episode des Geschäftslebens, ein banales Fundraising."
Den Blick für die Spuren der Vergangenheit geschärft
Geld und Macht - für Éric Vuillard sind das Konstanten, die die Zeitläufte prägen. Und das nicht erst heute:
"Ob es Balzac ist oder Zola, um einmal die großen Namen des 19. Jahrhunderts zu nehmen. Bei denen spielte die Ökonomie stets eine große Rolle. 'Das Geld!' – so heißt sogar ein Roman von Zola. Die wirtschaftlichen Interessen sind in der Geschichte der Literatur von zentraler Bedeutung", sagt der Schriftsteller.
"Der Blick zurück in die Vergangenheit – also etwa, was in diesem Geheimtreffen geschah - erlaubt es uns, die Gegenwart zu verstehen."
Das gilt besonders für Frankreich, das im Moment auch literarisch so vielgestaltig auf den großen Epochen-Umbruch zurückblickt, für den die Nationalsozialisten verantwortlich sind. Die großen Verbrecher wie Adolf Hitler, die willigen Helfer wie die Industriellen - und die Helfershelfer wie ein Mengele in all ihrer Banalität des Bösen.
"Die Literatur muss doch die Bedingungen ihrer Zeit aufgreifen und reflektieren. Eine Literatur, die sich nicht kritisch mit diesen Bedingungen auseinandersetzt, wäre belanglos, folkloristisch, überflüssig - aus der Zeit gefallen."
Noch einmal ein Blick auf das Palais des Reichstags-Präsidenten, in dem 1933 der fatale Pakt besiegelt wurde.
Am Ufer zieht ein Spreedampfer vorbei. Ein paar Touristen beobachten neugierig, wie mehrere schwarze Limousinen am Reichstag vorfahren und am Hintereingang halten. Heute wirkt die Szene wie eine Idylle. Nach der Lektüre des Romans "Die Tagesordnung" sieht man sie mit ganz anderen Augen. Éric Vuillard hat uns den Blick für die Spuren der Vergangenheit geschärft.