Geschichtsvergessenheit am Pranger
Die Schriftstellerinnen Ruth Zylberman, Zahia Rahmani und Leslie Kaplan haben es auf die blinden Flecken der jüngeren französischen Geschichte abgesehen - egal, ob Algerienkrieg oder jüdische Geschichte in Frankreich.
Am 14. Februar 2017 – mitten im Wahlkampf um das höchste Amt der Republik – reist Emmanuel Macron nach Algier. Er ist überzeugt, dass es die Aufgabe seiner Generation ist, aus dem Schatten des Algerienkrieges zu treten und für Aussöhnung zu sorgen. 132 Jahre lang unterstand das zivile Leben in Algerien französischen Gesetzen.
Hunderttausende Tote
Erst am 3. Juli 1962 erlangte Algerien seine Unabhängigkeit. Betrauert wurden 300.000 Tote: Algerier, Franzosen und "Algerienfranzosen" – so nannte man die auf dem europäischen Kontinent geborenen Franzosen, die seit Generationen Land in Algerien besiedelt hatten. Und es gab die so genannten "Harkis": algerische Hilfskräfte, die während des acht Jahre dauernden Unabhängigkeitskrieges in der französischen Armee dienten. In den Tagen vor und nach der Ausrufung der staatlichen Souveränität flohen 1962 etwa 60.000 Harkis nach Frankreich. Zigtausend blieben zurück. Sie wurden als Kollaborateure geächtet, verhaftet, verschleppt oder gelyncht. Serge Carel, ein ehemaliger Harki, erinnert sich an die Racheakte:
"In Baracken folterte man uns mit Werkzeugen, die die französische Armee für solche Zwecke benutzt und zurückgelassen hatte. Auf Befehl der Nationalen Befreiungsfront FLN wurden Harkis sogar lebendig begraben."
Vor Emmanuel Macron sprachen französische Staatspräsidenten allenfalls von "Ehrenschuld" und "Unrecht", das den Algeriern geschehen sei, eine Verantwortung an den Kriegsgräueln wiesen sie zurück. Ebenso wie die Mitschuld an der Ermordung von Harkis. Emmanuel Macron war im vergangenen Jahr deutlicher: Die Kolonisierung Algeriens sei ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit gewesen. Zurück in Frankreich wurde er dafür von der politischen Rechten heftig angegriffen. Er antwortete entschieden:
"Ich werde den politisch Verantwortlichen, die versuchen, unsere Geschichte aus wahltaktischen Gründen oder aufgrund von Klientelismus zu instrumentalisieren, in Nichts nachgeben. Frankreich und Algerien müssen endlich damit aufhören, sich gegenseitig – direkt oder unausgesprochen – ihre Geschichte vorzuhalten."
Seit 2001 wird an jedem 25. September der ermordeten Harkis gedacht. Heute fordern von Nachfahren gegründete Vereine die Schaffung von Gedenkorten, die Überarbeitung von Geschichtsbüchern und auch eine finanzielle Entschädigung.
Schwieriges familiäres Erbe
Zahia Rahmani ist die Tochter eines Harki. Sie war die erste Schriftstellerin, die ein so schwieriges familiäres Erbe literarisch bezeugte. 2006 erschien ihr in mehrere Sprachen übersetztes Buch "France, récit d’une enfance". Ich treffe sie im Nationalen Institut für Kunstgeschichte, unweit der Comédie Française und der Gärten des Palais Royal. Die 56 Jahre alte Kunstwissenschaftlerin ist verantwortlich für das Ressort "Kunst und Architektur". In Marseille hat sie für das Museum der Zivilisationen Europas und des Mittelmeers, MUCEM, die Ausstellung "Made in Algeria" kuratiert.
Auf das Wort Harki, sagt Zahia Rahmani, stoße man nur zufällig. Erst recht, wenn man in einer ländlichen Gegend aufwächst. Geboren wurde sie 1962 in Algerien. Ihren Vater sah Zahia Rahmani im Alter von fünf Jahren zum ersten Mal. Er war nach dem Abzug der französischen Armee aus Algerien zwar mit dem Leben davongekommen, musste nach der Haftentlassung aber versichern, das Land nie wieder zu betreten. Die Familie siedelte 1967 nach Frankreich um, ins Département Oise, nordöstlich von Paris.
Ambivalentes Verhältnis zur Kollaboration
"Ihr ganzes Leben lang sind Sie dazu verdammt, die Tochter eines Kollaborateurs zu sein. Die Franzosen machen sich keine Mühe, diese Behauptung zu hinterfragen, obwohl sie diesen Umstand mit zu verantworten haben. Ich denke, sie tun es nicht, weil sie ein ambivalentes Verhältnis zur Kollaboration haben. An die 400.000 französische Wehrdienstpflichtige und noch mehr Berufssoldaten kehrten aus Algerien zurück, aber in Frankreich erinnerte rein gar nichts an den Krieg.
Dazu kommen eine Million Siedler. Zusammen mit den Soldaten sind das sehr viele Menschen, aber die Geschichte wird auch nach 50 Jahren noch mit Schweigen bedeckt. Wenn Sie in einer Gesellschaft leben, in der man öffentlich nicht über die Gründe für Ihre Umsiedlung spricht, dann wundert einen das Schweigen innerhalb der eigenen Familie auch nicht. Es war schwer für uns zu verstehen, warum wir in Frankreich lebten."
Die Kindheit und insbesondere die Schuljahre waren für Zahia Rahmani eine Zeit der Demütigung. Sie und ihre Familie waren die ersten Fremden überhaupt, die man in diesem Dorf zu sehen bekam. Was sie hier zwischen 1967 und 1971 erlebt hat, beschreibt sie in ihrer literarischen Autobiografie "Frankreich. Geschichte einer Kindheit".
Zitat aus Zahia Rahmanis "France, récit d’une enfance": Zur Schule will ich nicht. Zu viele Steine mitten ins Gesicht. Von Mädchen geworfen. (...) Niemand kommt mich besuchen. Sehr viel später erzählen mir die Eltern meiner einstigen Schulkameraden, Anfangs – also 1973, 1974, 1975 – dachten wir, dass Ihr Löwen esst. Krokodile, ja sogar Giraffen. Es ehrt die Dörfler, dass sie es mir sagen. Man fügt hinzu, Wir hatten Angst, dass Ihr klaut. Also, Angst um unsere Hühner. Angst vor Verbrechen. Von allen verdächtigt. Für alles. Der Algerienkrieg wird mit keinem Wort erwähnt. Ich weiß nichts über ihn, es fällt kein Wort und trotzdem sind wir da und flößen Angst ein. Und die ganze Zeit über kein einziger Verbündeter in Sicht. Nicht einer.
Mitte der 70er-Jahre, mehr als zehn Jahr nach dem Abzug der Franzosen aus Algerien, war der Krieg in der Öffentlichkeit ein namenloses Geschehen. Obwohl Historiker ihn erforschten, wurde erst 1999 ein Parlamentsbeschluss gefasst, der es gestattete, die "militärischen Aktionen zur Aufrechterhaltung der Ordnung" in Algerien "Krieg" zu nennen. In der Zwischenzeit konnte es geschehen, dass Lehrer eine Schülerin wie Zahia Rahmani, die laut Fragen stellte, willkürlich und systematisch vom Unterricht ausschlossen, ohne dafür von der Schulleitung zur Rechenschaft gezogen zu werden. Zur Wehr setzen musste die Heranwachsende sich aber auch gegen den Vater, der die Assimilation an die französische und damit an die westliche Lebensweise unterbinden wollte.
Auf der Suche nach einem besseren Ort
Zitat aus Zahia Rahmanis "France, récit d’une enfance": Mit zwölf verlangt man von mir, dass ich im Haus bleibe. Komm rein, du bist Muslima. Mit zwölf, als ich es zuhause nicht mehr aushalte, sagt man mir, Komm rein. Komm rein. Halte den Ramadan. Ich verlasse das Haus mit nichts als einem Rucksack und 'Black Boy' von Richard Wright in der Tasche. Ich bin wie eine Landstreicherin auf der Suche nach einem besseren Ort. Ich weiß nicht, wie lange ich wegbleibe. Vier Tage? Acht? Ich weiß es nicht mehr. Wo immer ich hinkomme und mich vorstelle, sagt man mir, du hast Eltern. Überall heißt es, du musst zurück. Man verlangt es von allen Seiten. Man verständigt meine Mutter. Ich lasse ausrichten, dass ich beim geringsten Vorwurf wieder abhaue. Ich kehre zurück. Ich gewinne die Partie. Kein Ramadan und das Recht, mich solange in meinem Dachbodenzimmer aufzuhalten, wie es mir gefällt. Verboten bleibt mir allerdings, mit den Reinen am Tisch zu sitzen.
Im erstrittenen eigenen Zimmer liest Zahia Rahmani Dramen von Tennessee Williams, Romane von J.D. Salinger, Ernest Hemingway, John Steinbeck, Herman Melville und William Faulkner. Sie setzt durch, studieren zu dürfen und macht eine Karriere als Kunstwissenschaftlerin. Ihr Vater nimmt sich 1992 das Leben. Der Gesinnungsterror der Heilsfront, die religiös motivierten zigtausendfachen Morde und die Gegengewalt der seit 1962 herrschenden Regierungspartei, sagt sie, ließen ihn verzweifeln. 2004 lädt die algerische Tageszeitung "El Watan" Zahia Rahmani ein, zum 50. Jahrestag des Kriegsbeginns einen Text zu schreiben. Er wird abgelehnt. Der Grund sind Sätze wie diese:
Zitat aus Zahia Rahmanis "France, récit d’une enfance": Einigen gefällt die Vorstellung, dass die Harkis sich in einem Zustand der Abhängigkeit befinden. Emotional an ihr Ursprungsland Algerien gebunden, vorwurfsvoll gegenüber Frankreich, das sie aufnahm. Aber das war einmal. Unsere Väter sind tot. Hat man das Maß der Entwurzelung wirklich begriffen? (...) Ich habe derart viele junge Leute aus Algerien fliehen sehen, dass ich sagen möchte, dieses Land hat es geschafft, mit dem Ausschluss aller Andersgesinnten sein eigenes Grab zu schaufeln.
Auf die Identität der Eltern verpflichtet
In Algerien, ihrem Geburtsland, wird Zahia Rahmani für ihr Denken zensiert. In Frankreich rebelliert sie dagegen, dass man sie aufgrund ihres Geburtsortes per se als muslimische Nordafrikanerin identifiziert.
"Frankreich ist ein säkularisiertes Land, hier bin ich aufgewachsen. An Gott habe ich nie geglaubt. Ich bin auch keine Muslima und habe mich nie für eine gehalten – obwohl meine Eltern gläubig waren. Also zuerst hat man uns zu Arabern erklärt, aber zu denen zähle ich mich genauso wenig. Jetzt geht es nur noch um Muslime. Die hält man für gefährlich und antisemitisch. Wir sind Abertausende, die nicht in dieses Schema passen, und trotzdem können wir nichts gegen diese Kategorisierung ausrichten.
Das ist doch unglaublich, dass man Leute mit Migrationshintergrund immerzu auf die Identität ihrer Eltern verpflichtet. Wir sind alle gleichermaßen durch die französische Schule, durch einen Bücherkanon und eine gemeinsame Sprache geformt worden. Sie ist unser Umfeld."
Ihre Kindheitserzählung, in der sie all das reflektiert, hat Zahia Rahmani auch für ihre Nichten und Neffen geschrieben. Sie wuchsen heran, als 2005 in den Pariser Vorstädten Autos und Barrikaden brannten. Bei Verfolgungsfahrten der Polizei kamen immer wieder muslimische Jugendliche zu Tode. Zahia Rahmani will die Wahrheit erzählen, dazu beitragen, Licht in die verschwiegene Geschichte zu bringen. Heute arbeitet sie in Paris und verbringt, wann immer sie kann, Zeit auf dem Land.
"Ich glaube, dass man verkennt, welche Macht die Umgebung auf die Identität eines Menschen ausübt. Der Raum, in dem ich groß geworden bin, hat mich stärker beeinflusst als sonst etwas. Ich bin in einem ländlichen Gebiet aufgewachsen, am Rand eines Waldes und eines Berges, mit Leuten, die mir beigebracht haben, wie man mit eigenen Händen Gemüse anbaut und Blumen pflanzt. Dies zu tun, war so selbstverständlich wie das Atmen."
Ruth Zylberman ist Pariserin durch und durch. Dokumentarfilmerin und Autorin. Wir sind in einem Eckcafé der Rue du Buisson Saint-Louis im 10ten Arrondissement verabredet. Einen Steinwurf entfernt steht das Haus 209 der Rue Saint-Maur. Ruth Zylberman hat 2017 einen Film über die ehemaligen jüdischen Bewohner dieses Hauses gedreht und deren Spuren bis nach Melbourne, New York und Tel Aviv verfolgt. Der Film endet mit einem Wiedersehen jüdischer und nichtjüdischer Bewohner im Hof des großen Pariser Gebäudes. Wie Zahia Rahmani empfindet auch Ruth Zylberman sich als zutiefst durch die Nachbarschaft geprägt, in der sie aufwuchs.
"Wenn ich Leute treffe, will ich schnell wissen, wo sie wohnen. Ich glaube an die Macht der Geografie. Das klingt etwas verrückt, weil es Leute gibt, die sehr viel reisen und nicht so sesshaft sind wie ich. Ich bin im Montmartre-Viertel geboren und habe nie woanders gelebt als an der 'butte', also am Hügel. Seit 46 Jahren bin ich immer in denselben Straßen unterwegs – mit Ausnahme von ein paar Studiensemestern in New York. Ich bin fest davon überzeugt, dass unsere Vorstellungskraft von unserer topografischen Verankerung abhängt. Und sicherlich hat diese Überzeugung auch damit zu tun, dass ich aus einer Familie komme, die emigrieren musste. Da ist es eine Versuchung, das Verwurzelt-Sein zu denken. Ich bin zufällig in Frankreich geboren und doch versuche ich, diesen Zufall in eine Notwendigkeit umzudeuten."
Französische Kollaboration bei der Judenverfolgung
2017 erschien die deutsche Übersetzung des ersten, autobiografisch inspirierten Buches von Ruth Zylberman. Es heißt "Vermisstenstelle". Einfühlsam und in ihren Beobachtungen nie abschweifend erzählt sie, warum eine junge Frau nicht länger die Aufgabe erfüllen will, als "geretteter Vogel" und "als Eroberer in die weite Welt entsandt" zu werden. Ruth Zylberman ist die Tochter einer Jüdin, die zusammen mit Schwester und Mutter das Konzentrationslager Bergen-Belsen überlebt hat. Nicht ohne Folgen: Unentwegt suchte die Mutter in den Jahren danach in Gassen, Läden und Häusern nach Menschen, die vertrauensvoll wirken. Das hat Ruth Zylbermans Kindheit geprägt und auch die Kindheit ihres Erzähler-Ichs im Buch.
"Ich habe dieses Buch nicht von einer geschichtsanalytischen Warte aus geschrieben. Ich wurde in einer Zeit geboren, als man anfing, sich über die französische Kollaboration Gedanken zu machen. Das gipfelte 1995 in Jacques Chiracs folgenreichem Bekenntnis zur Schuld der Vichy-Regierung an der Deportation der französischen Juden. Zu schreiben, dass die Nachkriegszeit nicht stattgefunden hat, war Ausdruck meiner sehr subjektiven, kindlichen Wahrnehmung. Als ich größer wurde, empfand ich das Kriegsende als radikale Zäsur. Und noch später habe ich begriffen, dass es kein klares Davor und Danach gibt, sondern die Zeiten ineinanderfließen. Als Kind war ich noch von François Mitterand begeistert. Er verkörperte für mich die ganze Ambivalenz. In seiner Person brach sich dieses magische Denken, das uns glauben machen wollte, vor und nach dem Krieg sei alles ganz anders gewesen.
Aber Mitterands Freundschaft mit René Bousquet, das war ein Ding. Bousquet war als Generalsekretär der Polizei des Vichy-Regimes einer der Hauptverantwortlichen für die Verfolgung und Deportation von Juden. Mitterand hat diese Freundschaft nie in Frage gestellt. Als ich das begriff, habe ich mich komplett von ihm abgewendet."
René Bousquet wurde 1949 vom Obersten Gericht freigesprochen worden. Er genoss gesellschaftliches Ansehen bis Serge Klarsfeld ihn 1989 wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit anklagte. 1991 kam die Klage vor Gericht. Noch vor Prozessende wurde René Bousquet vor seinem Pariser Wohnhaus erschossen.
"Bestandsaufnahme", "Im Osten" und "Bauchrednereien" – so überschreibt Ruth Zylberman die Kapitel ihres Buches. Sie inventarisiert die Geschichte ihrer Mutter. Kernereignis ist das Auffinden eines amtlichen Schreibens vom April 1945. Eine "Vermisstenstelle" des Ministeriums für Kriegsgefangene teilt Ruth Zylbermans Großmutter mit, dass ihr Ehemann bei der Befreiung des Lagers Bergen-Belsen noch lebte. Für kurze Zeit keimt in der Tochter die widersinnige Hoffnung auf, der Vater könne möglicherweise zurückkehren.
"Allmählich wurde mir bewusst, wie naiv ich gewesen war"
Zitat aus Ruth Zylbermans "Vermisstenstelle": Das 20. Jahrhundert neigte sich also seinem Ende zu, und Mama hatte die Suche nach ihrem Vater aufgenommen.
Der Alte Präsident war immer noch da. Sein Gesicht so starr wie das einer Mumie. Angesichts des nahenden Todes verstellte er sich nicht mehr so stark, er versuchte kaum mehr, so zu tun als ob, oder höchstens der Form halber. Er schien sogar spöttisch zu lachen, als hätte er uns einen üblen Streich gespielt: "Génération Mitterand", was für ein Witz! (...)
Man brauchte nur zu sehen, wie er sich, steif und undurchschaubar vor vergoldetem Élysée-Hintergrund, ausschließlich für die ranzigsten Zeilen kompromittierter Schriftsteller erwärmte, des guten, alten Frankreichs, streng geordnet, gradlinig, Sätze in Habachtstellung, allmählich wurde mir bewusst, wie naiv ich gewesen war. (...) Ich war sehr naiv gewesen: Die Nachkriegszeit hatte niemals wirklich stattgefunden.
Die politische Ernüchterung der jungen Ruth Zylberman wird kompensiert durch die Suche nach geschichtsträchtigen Orten. Auf Stadtwanderungen trifft sie auf andere, die wie sie Jägern oder Wünschelrutengängern ähnlich durch Paris ziehen. Die Spurensucher finden so zum Beispiel den Innenhof eines Palais, "von dem nur die zur Rumpelkammer umfunktionierten Pferdeställe übriggeblieben sind". Und sie entdecken Wohnungen, in denen Widerstandskämpfer von einer Prostituierten denunziert worden waren.
Die Zeichen der Vergangenheit sichtbar machen
Ihre Leidenschaft für die den Steinen und Mauern eingeschriebenen Geschichtsspuren teilt Ruth Zylberman mit dem Schriftsteller und Filmemacher Robert Bober und dem Literaturnobelpreisträger Patrick Modiano. Seit Jahrzehnten vermessen die Einzelgänger die Stadt und verweben in ihren Fiktionen die Vergangenheit mit dem Heute.
"Als ich Jugendliche war, wohnte Patrick Modiano in unmittelbarer Nähe meines Gymnasiums. Ich sah ihn in jener Zeit oft in Begleitung seiner Frau. Und auf fast modianeske Weise bin ich ihm, mit einigen Unterbrechungen, meine ganze Jugend über begegnet. Als er aus der Schulgegend wegzog, ließ er sich dort nieder, wo ich zu studieren begann. Ich traf ihn auf der Straße, immer zufällig, und dann gab es Zeiten, in denen ich ihn häufig sah. Wir verabredeten uns und liefen zusammen."
Ruth Zylberman hat gelernt, durch die Straßen zu gehen und die Zeichen der Vergangenheit, die sie erspäht, mit Wissen anzureichern und für andere sichtbar zu machen. Patrick Modiano war einer ihrer Lehrer. Ein anderer hieß Jaro. Die Gestapo hatte seine Familie 1942 in einer Kammer aufgespürt. Jaro schaffte es als einziger, über die Dächer zu fliehen.
Zitat aus Ruth Zylbermans "Vermisstenstelle": Wohl ahnend, dass es Macht bedeutete, Macht des Lebens und des Überlebens, wenn man sich dem augenscheinlichen Gefüge der Stadt widersetzte, die Dinge nach Belieben verschwinden ließ und wieder hervorzauberte, ohne dabei aufzufallen, sich, wie Jaro es tat, als einfacher, namenloser Passant im grauen Anzug ausgab, während man in Wahrheit die stummen Fassaden mit den Netzen des Wissens einfing, lernte ich, beobachtete ich, öffnete weit mein Herz und mein Gedächtnis, notierte die Adressen, ging die Strecken noch einmal ab.
Und ich, ruhiges junges Mädchen, das ich war, von Atem erfüllt, am ganzen Körper frohlockend, trotzte, ja, ich trotzte dem Lauf der Zeit.
Steinerne Fassaden zeugen von der Vergangenheit
Wie Ruth Zylberman durchstreift auch die 1943 in New York geborene und in Paris aufgewachsene Leslie Kaplan die französische Hauptstadt und ruft Ereignisse wach, von denen steinerne Fassaden zeugen. In ihrem 2016 erschienenen Roman "Mathias et la Révolution" entdeckt ein arbeitsloser Erzähler auf Plätzen und Brücken, an Schulen und Rathäusern, auf Säulen und monumentalen Gebäuden Inschriften, die an die Französische Revolution erinnern. Gekonnt schlägt Leslie Kaplan eine Brücke zu den Generalstreiks im Jahr 1968 und den "Nuit debout"-Protesten, bei denen sich im April 2016 Abend für Abend zigtausend Demonstranten auf dem Platz der Republik versammelten.
Kaplans Erzählstil ist minimalistisch. Situative Schilderungen, starke Verben und Metaphern, all das vermeidet sie in ihrer Prosa. Interessiert ist sie an Behauptungen und an deren wortgenauer Hinterfragung – wie im Roman "Mathias und die Revolution".
Zitat aus Leslie Kaplans "Mathias et la Révolution": Mathias erreichte die Rue des Écoles, als er einen Mann im Parka erblickte, graue, etwas zu lange Haare, der dabei war, ein Plakat auf eine Mauer zu kleben. Mathias blieb stehen, betrachtete das Plakat.
Frankreich ist eins und unteilbar.
Unsere Kultur ist unser wertvollstes Gut.
Die Randalierer fordern keine Schulen, sie brennen sie ab.
Man geht nicht zur Schule, um eingestellt, sondern um unterrichtet zu werden.
Mut, Franzosen. Unser Erbe ist lebendig.
Unsere Kultur ist unser wertvollstes Gut.
Die Randalierer fordern keine Schulen, sie brennen sie ab.
Man geht nicht zur Schule, um eingestellt, sondern um unterrichtet zu werden.
Mut, Franzosen. Unser Erbe ist lebendig.
Mathias fragte, Haben Sie das geschrieben?
Der Mann antwortete nicht, er klebte weiter.
- Nicht Frankreich ist eins und unteilbar, sagte Mathias. Die Republik ist es.
- Das kommt aufs Gleiche raus, sagte der Mann.
- Ganz und gar nicht, sagte Mathias. Und Sie wissen das.
Blindflecken der jüngeren Geschichte
Falsche Behauptungen in die Welt zu setzen, ist für Leslie Kaplans Protagonisten ein skandalöser, nicht hinnehmbarer Akt. Die Feststellung, dass es Freiheit nur geben kann, wenn man die Worte ernst nimmt, drückt eine Grundüberzeugung der Autorin unmissverständlich aus. Ruth Zylberman und Zahia Rahmani teilen dieses Verständnis in politischer wie literarischer Hinsicht, jede aus ihrer Perspektive. Eher lapidar, nur scheinbar naiv kommentieren Kaplans Romanfiguren gängige Meinungen. Fragend lenken sie den Blick auf die Blindflecken der jüngeren Geschichte, die Kriege, in die Frankreich involviert war oder die es führte.
Leslie Kaplan besitzt ein feines Gespür für die Verknüpfung von philosophischen Überlegungen mit gesellschaftspolitischen Fragen. Dass der Gallimard-Verlag im Jahr 2018 hartnäckig daran festhält, die Juden hasserischen Pamphlete des Schriftstellers Louis Ferdinand Céline edieren zu wollen, macht sie wütend. Céline war 1944 als Arzt mit der Spitze der Vichy-Regierung nach Sigmaringen geflohen und von dort weiter nach Dänemark. 1950 wurde er in Frankreich in Abwesenheit zu Gefängnishaft verurteilt, doch die Amnestie erfolgte schon ein Jahr später und der verblendete Romancier lebte bis zu seinem Tod in einem Vorort von Paris.
"Was völlig abwegig erscheinen sollte, ist es nicht mehr. Célines Witwe hat den Abdruck gestattet. Er selbst hatte dies untersagt. Die Pamphlete sollen unter dem Titel 'Polemische Schriften' herauskommen. Sie sind nicht polemisch. Sie sind antisemitisch. Schluss, aus. Wenn einem an einer kritischen Lektüre gelegen ist, können Wissenschaftler alle Texte online abrufen. Aber eine Buchpublikation heute? Ich persönlich finde, dass das eine große Dummheit ist. Da wird etwas banalisiert. Diese abscheulichen Texte haben überhaupt keinen Erkenntniswert. Wirklich keinen."
Verleugnete Mitschuld des französischen Staates
Auf Deutsch erschien von Leslie Kaplan zuletzt der Roman "Fever". Zwei Abiturienten folgen, von einer fixen Idee getrieben, einer zufällig daherkommenden Frau bis zu ihrer Wohnung und töten sie. In der Schule diskutieren sie über Hannah Ahrendts Bücher "Eichmann in Jerusalem" und "Vita activa". Die Frage nach der Verantwortung des Menschen für sein Handeln lenkt den Blick der Schüler auf die lange Zeit verleugnete Mitschuld des französischen Staates und hochrangiger Beamten an der Verfolgung und Vernichtung von Juden.
Zitat aus Leslie Kaplans "Fever": Zum Beispiel der französische Ministerpräsident Pierre Laval, der über die ersten Deportationen von Juden in Frankreich im Juli 1942 sagte: "Aus Gründen der Menschlichkeit hat der Ministerpräsident (entgegen den ursprünglichen deutschen Anweisungen) durchgesetzt, dass Jugendliche und Kinder unter sechzehn Jahren ihre Eltern begleiten dürfen. "Durchgesetzt!" "Aus Gründen der Menschlichkeit!" "Ihre Eltern begleiten dürfen!"
Ja, sagte Mademoiselle Stein, ja. Sie sagte auch, das Wort "missbraucht" sei in diesem Zusammenhang treffend, und rief in Erinnerung, wie Hannah Arendt die Nazis beschrieben hatte: als einen Mob Deklassierter, der den Leuten den Realitätssinn raubt.
Scheuen französische Autoren den Vatermord?
Als die beiden Jungen begreifen, dass ihre mörderische Zufallstat dem blinden Gehorsam in der NS-Zeit ähnelt, brechen sie fast zusammen. Sie fangen sich jedoch wieder, schwören einander Treue und absolutes Schweigen zu bewahren – und reagieren damit ganz so wie jene Mitläufer und Verbrecher, über die sie im Unterricht zu urteilen lernen. Der Impuls, das moralische Versagen von Autoritäten zu entschuldigen, ist gesamtgesellschaftlich noch immer sehr wirksam. Die Folgen dieser Geschichtsvergessenheit prangern wie Leslie Kaplan auch Ruth Zylberman und Zahia Rahmani an. Für Zahia Rahmani reicht das bis in Schriftstellerkreise hinein. Französische Autoren, meint sie, scheuen den Vatermord. Sie bleiben zu nachsichtig mit den Verbrechen der Väter.
Dass die literarische Welt in Frankreich sich fremden Stimmen öffnet, könne, so Zahia Rahmani, nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie sich "der Unreinheit in ihrem Innersten" weitgehend verschließt.
Ruth Zylberman, Leslie Kaplan und Zahia Rahmani, diese drei französischen Autorinnen unternehmen mit jedem Buch aufs Neue den Versuch, in einer wahrhaftigen, nichts beschönigenden Sprache schwarze Flecken der Geschichte zu orten und das Schweigen darüber zu brechen.