Französische Sozialkomödie: "Alles außer gewöhnlich"

"Das Kino ist in gewisser Weise autistisch"

11:44 Minuten
Vincent Cassel als Bruno tröstet den jungen Benjamin Lesieur als Joseph und lässt ihn an seine Schulter anlehnen.
Die Schauspieler Vincent Cassel als Bruno und Benjamin Lesieur als Joseph. © Prokino Filmverleih
Éric Toledano im Gespräch mit Susanne Burg |
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Eric Toledano landete mit "Ziemlich beste Freunde" einen weltweiten Kinohit. Nun ist er mit seinem Regie-Partner Olivier Nakache mit einem Film über junge Menschen mit Autismus zurück. Toledano sagt, er wolle der Gesellschaft mit Filmen Fragen stellen.
Susanne Burg: Éric Toledano und Olivier Nakache – die beiden französischen Regisseure sind das Erfolgsduo des französischen Kinos. Ihre Filme gehörten in den letzten zehn Jahren zu den erfolgreichsten des Landes. Wobei "Ziemlich beste Freunde" besonders erfolgreich war: die Sozialkomödie über die Freundschaft zwischen einem vom Hals abwärts gelähmten Millionär und einem Pfleger aus der Banlieue. Nun läuft eine neue Produktion der Regisseure im Kino: "Alles außer gewöhnlich". Sie erzählt von zwei Sozialarbeitern – gespielt von Vincent Cassel und Reda Kateb –, die mit einer Stiftung schwer autistischen Jugendlichen helfen.
Wir sind bei der täglichen Arbeit dabei, sehen, wie die Mitarbeiter mit den Jugendlichen arbeiten und sie zu einer gewissen Autonomie führen wollen. "Alles außer gewöhnlich" basiert auf einer wahren Geschichte. Die beiden Regisseure haben bereits zuvor einen kurzen Dokumentarfilm über zwei Sozialarbeiter und ihre Stiftung gedreht. Als ich Éric Toledano zum Interview getroffen habe, wollte ich daher erst einmal von ihm wissen, was sie dazu gebracht hat, nun einen Spielfilm zu machen.
Éric Toledano: Es ist ein Film, den wir sehr lange in uns getragen haben, weil wir beide Stiftungen schon sehr lange kennen. Olivier und ich haben eine Weile gewartet, weil das Kino ist ein bisschen wie das Erlernen einer Sprache: Je mehr man eine Sprache praktiziert, umso mehr ist man bereit für ihre Nuancen. Wir fühlten uns lange einfach noch nicht bereit dazu, und wir wussten auch nicht, wie soll man Autismus auf die Leinwand bringen, wie soll man die Realität von Autismus auf die Leinwand bringen, und deshalb haben wir gewartet.
Wir wussten aber immer, dass wir hier einen sehr, sehr starken Stoff hatten, einen Stoff, der sehr viel über die französische Gesellschaft aussagt, in sehr vielschichtiger Weise. Es geht einmal um die Vorstädte, um die Banlieue, es geht um die Religion, es geht um Fragen der Krankheit, und es geht darum, was ist normal, was ist nicht normal – etwas, was ich normal finde, finden Sie vielleicht nicht mehr normal. Das sind alles Fragen, die sich sehr gut für das Kino eignen. Wir haben es in Frankreich mit einem Paradox zu tun: Wie geht man um mit den schwerwiegendsten Fällen des Autismus, also mit denjenigen, die eigentlich am verletzlichsten sind, und werden sie nicht komplett vernachlässigt. Dann, nach einigen Filmen, fühlten wir uns plötzlich dazu bereit, auch diesen Film zu machen, aber der entscheidende Moment ist dann natürlich: Findet man dafür die richtigen Schauspieler. Als Reda Kateb und Vincent Cassel hinzugekommen sind und wir sie gebeten haben, sie sollen uns ganz ehrlich sagen, ob sie Lust haben, so etwas zu spielen, und wir ihre Energie gespürt haben, da wussten wir, jetzt können wir einen Spielfilm daraus machen.

"Bei diesem Thema ist zu viel Fiktion nicht erlaubt"

Burg: Sie haben die verschiedenen Themen angesprochen, die der Film behandelt. Es geht ja um eine Organisation, die mit autistischen Menschen arbeitet, die sonst nirgendwo unterkommen, aber der Organisation fehlt es nicht nur an Platz und Geld, sondern auch an einer offiziellen Genehmigung. Wie viel davon basiert auf wahren Begebenheiten und wo setzt die Fiktion ein?
Toledano: Bei diesem Thema, da darf man sich es gar nicht erlauben, sehr viel zu fiktionalisieren. Hier ist sehr wenig Fiktion im Film. Also vielleicht die Art und Weise, wie die Figur von Vincent Cassel immer wieder versucht, mit Frauen zu flirten und sie so ein bisschen anmacht, das ist Fiktion. Aber alles andere, was den Alltag der beiden Stiftungen mit den autistischen Jugendlichen und Kindern anbelangt, die Schwierigkeiten, die sie mit den Institutionen und den Behörden haben, all das ist einhundertprozentig wahr, und da darf man auch wirklich nicht schummeln.
Burg: Das Tempo im Film ist hoch, Ihre Hauptfigur Bruno, gespielt von Vincent Cassel, rennt sehr viel. Ist Zeit in einem solchen Beruf eine solch rare Ressource?
Toledano: Im Französischen gibt es dafür einen Ausdruck im Kino, und zwar ist das der gestresste Mann, jemand, der keine Zeit mehr hat, und das eben in einer Zeit, wo wir plötzlich ganz anders mit Zeit umgehen, wo man die Zeit ganz neu definiert, wo die Zeit aber auch gegen Bruno arbeitet. Sie haben mich vorhin gefragt, warum wir nach dem Dokumentarfilm vor vier Jahren plötzlich einen Spielfilm gedreht haben. Und einer der Gründe ist, heute geht alles immer so viel schneller und unsere Gesellschaft ist so laut geworden, der Lärm spielt plötzlich eine so große Rolle.

Die Zeit während eines Films kurz anhalten

Und in einer Welt, in der alles so schnell geht, versuchen wir, die Zeit während eines Kinofilms mal kurz anzuhalten. Wir haben bisher Komödien gedreht, die auch in Deutschland ganz gut funktioniert haben, wie "Ziemlich beste Freunde", "Samba" oder "Das Leben ist ein Fest". Und wir lieben es normalerweise, wenn wir in die Kinosäle gehen und das Publikum lachen hören, dann wissen wir, unser Film ist angekommen. Auch bei diesem Film, bei unserem neuen Film "Alles außer gewöhnlich" haben die Leute gelacht, es gibt ja komische Momente. Aber was uns diesmal fast noch mehr beeindruckt hat, war das Schweigen. Gerade gegen Ende des Films hört man nichts mehr im Kinosaal. Die Leute machen ihr Handy nicht mehr an, sie hören auf, sich miteinander zu unterhalten, und dieses Schweigen ist für uns der Beweis, dass dieser gestresste Mann irgendwo beim Publikum angekommen ist und dass unser Film funktioniert hat und auch vielleicht anderen gestressten Menschen hilft.
Burg: Wie haben Sie eigentlich die Schauspieler gefunden, die selber Autisten sind, und wie viel von ihren persönlichen Geschichten stecken im Film, zum Beispiel bei einer zentralen Person im Film, bei Benjamin, der Joseph spielt?

Die Spiellust wecken

Toledano: Wir haben uns natürlich sehr schnell gefragt, wie kann man das auf der Leinwand darstellen. In unserem Film "Ziemlich beste Freunde" haben wir uns noch dafür entschieden, die Rolle von Philippe, also diesem gehandikapten Industriellen, durch einen Schauspieler darstellen zu lassen, François Cluzet. Aber hier, in unserem neuen Film "Alles außer gewöhnlich" haben wir uns gedacht, nein, wir müssen schon den Autismus so zeigen, wie er ist, wir müssen echte Autisten besetzen. Wir haben uns dann mit Stiftungen zusammengesetzt, und einer dieser Stiftungsleiter hat uns gesagt: Das funktioniert nur, wenn Sie eine Langzeitbeziehung zu Autisten aufbauen. Deswegen haben wir schon ein Jahr vor Drehbeginn angefangen, Workshops zu machen, so wie man auch im Theater arbeitet.
Portraits des französischen Drehbuchautor und Filmregisseur Éric Toledano.
Der französische Drehbuchautor und Filmregisseur Éric Toledano landete mit "Ziemlich beste Freunde" einen Überraschungserfolg - in Frankreich und in ganz Europa.© picture alliance / ABACA / Francois Glories
Dabei haben wir Benjamin kennengelernt, und wir haben bei Benjamin gesehen, dass in ihm eine Art Spiellust steckte. Er kommunizierte zwar nicht, weil bei ihm auch ein sehr schwerer Fall von Autismus diagnostiziert wurde, aber trotzdem haben wir viel Freude gehabt, mit ihm zu drehen. Ich muss ganz ehrlich sagen, wir sind auch stolz darauf, dass er jetzt für die Césars – also das Äquivalent der Oscars oder der BAFTAs oder der Lolas in Deutschland –, dass er jetzt als bester Nachwuchsdarsteller für die Césars nominiert ist.
Burg: Worin bestanden die Herausforderungen, mit ihm zu arbeiten, und wo kam ihm das Filmbusiness mit den festen Strukturen und Proben und dem häufigen Wiederholen von Szenen vielleicht auch entgegen?

Vorbereitung ist Schlüssel zum Erfolg

Toledano: Ja, das ist genau, wie Sie es sagen, und das Kino ist ja in gewisser Weise autistisch – wir probieren eine Szene zehnmal durch, bevor wir sie dann wirklich drehen, oder drehen eben auch öfter. Es ist nur wichtig, dass wenn Sie mit jemandem wie Benjamin drehen, dürfen Sie ihm nichts Neues plötzlich vorsetzen. Er muss alles schon mal gesehen haben. Er kann nicht plötzlich auf Schauspieler oder auf Darsteller treffen, die er nie vorher gesehen hat. Die Vorbereitung ist der Schlüssel zum Erfolg, und wir haben das sehr sorgfältig mit ihm und anderen vorbereitet. Der Erfolg unserer vorherigen Filme hat es uns ermöglicht, uns diese Zeit auch nehmen zu dürfen – vielleicht etwas, was ein Luxus ist, was andere Filmemacher sich nicht leisten können.
Burg: Sie haben "Ziemlich beste Freunde" erwähnt, der war ja ein ziemlicher Meilenstein im französischen Filmgeschäft, ein unglaublich erfolgreicher Film. In der Folge gab es sehr viele Sozialkomödien aus Frankreich. Inwieweit, glauben Sie, war der Film ein Auslöser dafür, dass Regisseure danach mehr auf Missstände und Tabus in der Gesellschaft geguckt haben?

Behinderung galt fürs Kino als unsexy

Toledano: Das Kino ist eine Industrie wie andere Industrien auch. Wenn etwas einen großen Erfolg hat – und in unserem Fall unser Film "Ziemlich beste Freunde" allein in Frankreich 20 Millionen Zuschauer gemacht hat oder in Deutschland neun Millionen Zuschauer gemacht hat –, dann ist das ein erfolgreiches Wirtschaftsmodell, und natürlich gibt es dann plötzlich eine neue Offenheit, ähnliche Themen auch wieder anzugehen. Vor dem Erfolg dieses Films galt ein Thema wie die Behinderung als etwas, was unsexy ist für das Kino. Aber als die Zuschauer trotzdem in die Säle gegangen sind, haben wir damit natürlich eine Tür geöffnet, und das hat wiederum andere Filmemacher inspiriert, andere Probleme der Gesellschaft aufzuzeigen, und das ist umso besser so.
Ich glaube, das Kino hier in Europa hat eine Sonderstellung, weil die Leute, die ins Kino gehen und gewissen Regisseuren oder gewissen Geschichten schon vertraut haben, die vertrauen dem Kino vielleicht mehr, als sie Politiker vertrauen oder als sie Journalisten vertrauen. Das wiederum bedeutet, dass wir als Filmemacher auch eine Verantwortung haben, und es ist auch eine große Chance, dass wir Regisseure sein dürfen. Mir geht es darum, ich möchte der Gesellschaft gerne Fragen stellen, und ich hoffe, dass ich mit meinen Filmen auch der deutschen Gesellschaft Fragen stellen kann.

"Ich frage mich: Was berührt mich?"

Burg: In Ihren Filmen geht es viel darum, dass sich zwei ungleiche Menschen treffen, um die Beziehung, die sich daraus entwickelt, oder aber auch, wie Gruppen zusammenarbeiten. Wenn Sie Ideen für einen neuen Film sammeln, suchen Sie eigentlich aktiv nach solchen Themen, oder entwickelt sich das bei der Arbeit?
Toledano: Ich gehe ganz subjektiv an Themen heran, an Filmthemen. Ich frage mich immer, was berührt mich, was berührt mich wirklich. Was mich in den letzten Jahren wirklich beschäftigt hat, ist das Thema: Wie kommunizieren wir miteinander. Dazu komme ich natürlich, weil ich Kinder habe, die den ganzen Tag nur mit ihren Smartphones beschäftigt sind, wie alle Kinder in den letzten 10, 15 Jahren, die immer mit diesem Gerät durch die Gegend laufen.
Wir haben in dieser Gesellschaft die Illusion, dass wir so viel kommunizieren wie niemals zuvor, und rein faktisch mag das auch der Fall sein. Wir schicken uns in einem fort SMS oder schicken uns Bilder, aber auf der anderen Seite ist eben auch die Frage, was ist das für eine Form der Kommunikation, und ertrinken wir nicht sozusagen auch in diesem ganzen Lärm, der uns umgibt in dieser lauten Gesellschaft.

Kommunikation miteinander als Schlüssel

In Frankreich ist es so, dass verschiedene Ethnien und verschiedene Gemeinden sehr feindlich miteinander umgehen, beispielsweise Juden und Moslems, weil sie eben nicht miteinander kommunizieren. Wir haben uns jetzt hier in dem Film genau diese Frage gestellt. In unserem Film ist es so, dass Moslems und Juden sehr gut miteinander auskommen, weil sie einer gemeinsamen Sache dienen, weil sie nämlich miteinander kommunizieren. Das ist eine Reflexion, die mich dazu führt, einen Film zu machen. Wir haben uns nicht gedacht bei "Ziemlich beste Freunde" oder unseren anderen Filmen, ist das ein Film, der dem Publikum gefallen wird, sondern wir haben uns erst einmal gedacht, ist das ein Thema, was uns berührt, was uns persönlich berührt. Und dann, wenn es uns persönlich berührt, ist es vielleicht auch ein Thema, das andere interessieren könnte.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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