Fratzen der Pubertät
Eine Schulfahrt aufs Land: Tage der Folter für einen poesiebesessenen 15-Jährigen, der Verse murmelt, während seine Kameraden im Hormonrausch Obszönitäten brüllen. Mircea Cartarescu beschreibt eine Achterbahnfahrt durch die Loopings geschlechtlicher Identität.
Wer Sinn für labyrinthische Traumlandschaften, morbide Phantastik und erlesene Manierismen hat - der hat mit dem 1956 geborenen Rumänen Mircea Cartarescu seinen Autor gefunden. Vor allem mit "Die Wissenden", dem ersten Band der Trilogie "Orbitor", hat der Autor auch hierzulande Furore gemacht: Soviel literarische Pyrotechnik war selten. Das Buch ist ein grandioser Trip, ein Meisterwerk der surrealen Literatur, das zugleich Wurzelverbindungen zur traumhaften Realität der Ceaucescu-Diktatur unterhält.
Cartarescus Roman "Travestie", im Original 1994 erschienen, könnte man als Hardcore-Version von "Tonio Kröger" bezeichnen. Es ist ein Horrorroman der Adoleszenz, eine Achterbahnfahrt durch die Loopings geschlechtlicher Identität. Cartarescus literarische Phantasie schien bisher vor allem beflügelt von einer Stadtlandschaft: dem phantasmagorischen Bukarest. In "Travestie" wird dagegen eine Schulfahrt aufs Land geschildert, ein Ferienlager in Budila: Tage der Folter für den poesiebesessenen 15-jährigen Victor, der Verse murmelt, während seine Klassenkameraden im Hormonrausch Obszönitäten brüllen. Er träumt von seiner gloriosen Dichter-Zukunft, während ringsum die Disco mit stampfenden Siebziger-Hits tobt.
Mit herkömmlichen Schülerromanen hat das wenig zu tun, denn jederzeit kann Victor von angstgequälten Visionen überwältigt werden - ihr Treibmittel ist der sexuelle Überdruck und eine unbewältigte Kindheitserfahrung. Die sexuellen Ängste Heranwachsender, die Fratzen der Pubertät führt dieser Roman in vollgültigem Pathos und in schonungsloser Ironielosigkeit vor. Es ist ein Buch, das weh tut, weil es in jedem Leser eine morastige Schicht eigener Jugenderinnerungen aufwühlen dürfte: Peinigende Riten der Initiation, peinliche Wirrnis der Gefühle, Einsamkeit und Ekel, Schmutz und Gewalt.
Die große Abschlussparty wird - jenseits aller jugendlichen Harmlosigkeit - wie ein hysterischer Karneval beschrieben. Für Victor bedeutet die homoerotische Zudringlichkeit Lulus, der sich in schmierenhafter Travestie als Frau verkleidet hat, eine schwere Traumatisierung. Es folgen Jahre der Therapien und des Trinkens, Jahre des Schreibens auch, um der Ängste Herr zu werden. Schließlich ereignet sich die Wiederkehr des Verdrängten, Victor stößt auf die hermaphroditische Urszene seines Lebens.
"Travestie" kann in seiner monströsen Obszönität wie ein Übungsparcours für Freudianer wirken: Sexualsymbolik, Kloakenmotive und Spinnen-Horror wuchern noch hypertropher als auf den surrealen Gemälden Dalís. Cartarescu will kein Autor subtiler Andeutungen sein. Er bevorzugt die schreiende Überdeutlichkeit und eine überinstrumentierte, barocke Sprache. Und doch ist dieses Buch der Verstörung selbst für den Autor ein Rätsel geblieben, wie er in einem Interview bekannt hat. "Travestie" ist eine literarische Grenzerfahrung, ein Buch des phantasmagorischen Kontrollverlusts, eine weitere wilde Ausgeburt der Traumwerkstatt Mircea Cartarescus. Aufwachen kann man anderswo.
Besprochen von Wolfgang Schneider
Mircea Cartarescu: Travestie. Roman
Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010
172 Seiten, 17,90 Euro
Cartarescus Roman "Travestie", im Original 1994 erschienen, könnte man als Hardcore-Version von "Tonio Kröger" bezeichnen. Es ist ein Horrorroman der Adoleszenz, eine Achterbahnfahrt durch die Loopings geschlechtlicher Identität. Cartarescus literarische Phantasie schien bisher vor allem beflügelt von einer Stadtlandschaft: dem phantasmagorischen Bukarest. In "Travestie" wird dagegen eine Schulfahrt aufs Land geschildert, ein Ferienlager in Budila: Tage der Folter für den poesiebesessenen 15-jährigen Victor, der Verse murmelt, während seine Klassenkameraden im Hormonrausch Obszönitäten brüllen. Er träumt von seiner gloriosen Dichter-Zukunft, während ringsum die Disco mit stampfenden Siebziger-Hits tobt.
Mit herkömmlichen Schülerromanen hat das wenig zu tun, denn jederzeit kann Victor von angstgequälten Visionen überwältigt werden - ihr Treibmittel ist der sexuelle Überdruck und eine unbewältigte Kindheitserfahrung. Die sexuellen Ängste Heranwachsender, die Fratzen der Pubertät führt dieser Roman in vollgültigem Pathos und in schonungsloser Ironielosigkeit vor. Es ist ein Buch, das weh tut, weil es in jedem Leser eine morastige Schicht eigener Jugenderinnerungen aufwühlen dürfte: Peinigende Riten der Initiation, peinliche Wirrnis der Gefühle, Einsamkeit und Ekel, Schmutz und Gewalt.
Die große Abschlussparty wird - jenseits aller jugendlichen Harmlosigkeit - wie ein hysterischer Karneval beschrieben. Für Victor bedeutet die homoerotische Zudringlichkeit Lulus, der sich in schmierenhafter Travestie als Frau verkleidet hat, eine schwere Traumatisierung. Es folgen Jahre der Therapien und des Trinkens, Jahre des Schreibens auch, um der Ängste Herr zu werden. Schließlich ereignet sich die Wiederkehr des Verdrängten, Victor stößt auf die hermaphroditische Urszene seines Lebens.
"Travestie" kann in seiner monströsen Obszönität wie ein Übungsparcours für Freudianer wirken: Sexualsymbolik, Kloakenmotive und Spinnen-Horror wuchern noch hypertropher als auf den surrealen Gemälden Dalís. Cartarescu will kein Autor subtiler Andeutungen sein. Er bevorzugt die schreiende Überdeutlichkeit und eine überinstrumentierte, barocke Sprache. Und doch ist dieses Buch der Verstörung selbst für den Autor ein Rätsel geblieben, wie er in einem Interview bekannt hat. "Travestie" ist eine literarische Grenzerfahrung, ein Buch des phantasmagorischen Kontrollverlusts, eine weitere wilde Ausgeburt der Traumwerkstatt Mircea Cartarescus. Aufwachen kann man anderswo.
Besprochen von Wolfgang Schneider
Mircea Cartarescu: Travestie. Roman
Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010
172 Seiten, 17,90 Euro