75 Jahre Bundestag
Parlamentarierin der ersten Stunde: Die CDU-Abgeordnete Helene Weber (rechts) war eine der ersten weiblichen Abgeordneten des Deutschen Bundestags 1949. © picture-alliance / dpa
Pionierinnen im Parlament
Zum 75-jährigen Bestehen des Deutschen Bundestags erinnert ein Buch an die ersten weiblichen Abgeordneten. Einige von ihnen leisteten wahre Pionierarbeit in Sachen Gleichberechtigung. Und auch 2024 gibt es mit Transfrauen Pionierinnen im Parlament.
Obwohl Frauen in der Nachkriegszeit in Deutschland in der Überzahl waren, lag ihr Anteil im ersten Deutschen Bundestag bei unter zehn Prozent – und damit weit unter dem heutigen Anteil. Auch die Bedingungen, unter denen sich die Parlamentarierinnen damals behaupten mussten, waren ungemein schwieriger.
Das Buch "Der nächste Redner ist eine Dame" erinnert an die ersten Frauen im Bundestag. Mit 38 Kurzporträts und Texten von bekannten Schriftstellerinnen erzählt es von ihren Biografien und Motivationen und ihrem politischen Wirken. Der Sammelband erscheint zum 75-jährigen Bestehen des Deutschen Bundestags.
Inhalt
Wie war die Situation für die ersten Frauen im Bundestag?
Die Zusammensetzung eines Parlaments spiegelt im Idealfall die Gesellschaft wider. Der erste Deutsche Bundestag war davon weit entfernt. Während Frauen in der Nachkriegszeit die Mehrheit der Gesellschaft stellten – viele Männer waren im Krieg umgekommen oder nach dessen Ende noch lange in Gefangenschaft – waren unter den 410 gewählten Abgeordneten im September 1949 lediglich 28 Frauen. Ihr Anteil stieg im Laufe der ersten Legislaturperiode auf 38 an. Da sie oft auf hinteren Listenplätzen standen, konnten sie erst nachrücken, wenn ein Mitglied aus dem Parlament ausschied, etwa durch den Tod eines Abgeordneten. Aus diesem Grund erhielten die Frauen den despektierlichen Beinamen „Sarghüpfer“.
Die Historikerin Natalie Weis beschreibt in der Einleitung des von ihr betreuten Buches „Der nächste Redner ist eine Dame“, dass Frauen im politischen Alltag damals anscheinend nicht vorgesehen waren. Sie wurden meist nicht zu Abendveranstaltungen eingeladen. Es habe sich für Frauen nicht geschickt, abends alleine irgendwo aufzutauchen, erklärt Weis im Deutschlandfunk. Dennoch hätten sie sich in ihren Fraktionen, in den Ausschüssen, im parlamentarischen Alltag behauptet.
Die Unsicherheit der Männer
Der Titel des Buches spielt auf die Unsicherheiten der Männer im Umgang mit den weiblichen Abgeordneten an. Er geht zurück auf die Ankündigung der einzigen Rednerin der Haushaltsberatungen am 12. Mai 1950 durch den Bundestagspräsidenten Erich Köhler. Die Rednerin war die Marburger CDU-Abgeordnete Anne Marie Heiler. Weil ihre männlichen Vorredner überzogen hatten, blieb ihr weniger Redezeit als vorgesehen. Köhler zeigte sich gnädig und legte eine Minute drauf, dennoch erhielt Heiler nicht die volle Redezeit.
Die Abgeordnete wartete 64 Sitzungen, bis sie sich erstmals mit einem Beitrag zu Wort meldete. Die Historikerin Weis erklärt im Interview, dass die Frauen „erst einmal gar nicht so richtig gesehen wurden. Sie mussten sich erst einmal sichtbar machen. Und überhaupt wurden sie oft nicht ernst genommen.“ Sie fügt hinzu, dass der Geräuschpegel stieg, wenn Frauen ans Pult traten, was auch heute manchmal noch der Fall sei. Außerdem seien viele Beiträge von Frauen, etwa zu Themen wie Familie und Ehe, lächerlich gemacht worden.
Erfahrene Politikerinnen und Neulinge
Die Parlamentarierinnen der verschiedenen Parteien teilten die Erfahrung der nationalsozialistischen Herrschaft und des Zweiten Weltkriegs. Einige überlebten Verfolgung, Folter und Lagerhaft und setzten sich daher entschieden dafür ein, dass sich solche Gräueltaten nicht wiederholen. Beispiele sind Jeanette Wolff (SPD) oder Grete Thiele (KPD, später DKP). Andere, wie Helene Weber (Zentrum/CDU), waren bereits in der Weimarer Republik politisch aktiv. Auch jüngere Frauen wie Aenne Brauksiepe (CDU) gestalteten die neue Bundesrepublik mit.
Die Parlamentarierinnen und Parlamentarier nutzten ihren damaligen Gestaltungsspielraum. In der ersten Legislaturperiode wurden zahlreiche Gesetzestexte verabschiedet, die auf dem Grundgesetz aufbauten, das vom Parlamentarischen Rat erarbeitet wurde, an dem auch vier Frauen beteiligt waren. Unter den ersten Parlamentarierinnen befanden sich drei der als „Mütter des Grundgesetzes“ bekannten Frauen. Bezeichnend ist, dass Elisabeth Selbert, Anwältin, SPD-Politikerin und Verfechterin des Gleichheitsgrundsatzes im Parlamentarischen Rat, den Einzug ins Parlament verfehlte.
Welche Stellung hatte die Frau in der Nachkriegszeit?
Obwohl Frauen im Nachkriegsdeutschland in der Überzahl waren und auf vielfältige Weise ihren Platz behaupteten, herrschte damals noch die Vorstellung, dass Männer ihren Ehefrauen den Zugang zu Berufen, Bankkonten und dem Autofahren verwehren konnten. Im Grunde waren auch die 38 weiblichen Abgeordneten solchen Vorschriften unterworfen.
Selbst die gewählten Bundestagsabgeordneten konnten, wenn sie verheiratet waren, ihre Mandate nur antreten, wenn ihre Ehemänner zustimmten. Manche taten dies widerwillig, während andere ihre Frauen unterstützten, wie der Ehemann von Anne Marie Heiler. Auch Unverheiratete hatten Nachteile; manche verloren ihre Stellen, sobald sich Männer um sie bewarben. Männer galten als Ernährer der Familie und wurden daher bevorzugt behandelt.
Wie steht es heute um die Repräsentanz der Frauen im Bundestag?
„Auf dem Weg zu echter Gleichstellung ist schon vieles gewonnen, aber längst nicht alles erreicht.“ Das betont Bärbel Bas (SPD), die dritte Bundestagspräsidentin seit 1949, im Vorwort zum Sammelband über die ersten Frauen im Deutschen Bundestag. Damit schlägt sie eine Brücke zur Gegenwart: Deutschland ist immer noch weit von der Parität entfernt.
Während in der ersten Legislaturperiode von 1949 bis 1953 der Anteil der weiblichen Abgeordneten zunächst bei 6,8 und später bei neun Prozent lag, sind aktuell über 35 Prozent der Abgeordneten im Deutschen Bundestag Frauen. Dies geht aus Zahlen des Statistischen Bundesamts hervor, die zum Internationalen Frauentag am 8. März 2024 veröffentlicht wurden.
Im weltweiten Ranking der Interparlamentarischen Union (IPU) zur Parität belegt Deutschland Platz 47 von 184 Ländern. An die Spitze schaffte es der ostafrikanische Staat Ruanda mit einem Frauenanteil von 61,3 Prozent in seinem Parlament. Auch in Kuba (55,7 Prozent), Nicaragua (53,9 Prozent) und Mexiko (50,4 Prozent) sind mehr Frauen als Männer im Parlament vertreten. Einen höheren Anteil weiblicher Abgeordneter als im deutschen Parlament gibt es auch in den Parlamenten von Andorra und den Vereinigten Arabischen Emiraten, die beide paritätisch besetzt sind (jeweils 50,0 Prozent).
Weltweit gesehen sind Frauen in nationalen Parlamenten nach wie vor meist unterrepräsentiert. Der Frauenanteil ist jedoch insgesamt gestiegen. Laut der IPU waren zum Stichtag 1. Februar 2024 im globalen Durchschnitt gut ein Viertel (26,8 Prozent) aller Parlamentsabgeordneten weiblich. 20 Jahre zuvor lag ihr Anteil nur bei etwas über 15 Prozent.
Entscheidend für Bärbel Bas ist es, dass die Erfahrungen von Parlamentarierinnen untereinander geteilt werden, um auch in Deutschland Parität zu erlangen. Sie betont die Notwendigkeit, sich "generationsübergreifend zu unterstützen".
Torsten Körner, Regisseur des Dokumentarfilms "Die Unbeugsamen" (2021), der Frauen der Bonner Republik porträtierte, meint, dass die Männer in diesem Land begreifen müssten, dass Parität in den Parlamenten und in der Gesellschaft für die Gleichberechtigung wichtig sei. Er sagt: "Den Männern kann man nur zurufen: Seid egoistisch und kämpft dafür, dass Frauen auch politische Karrieren machen, denn dann wird die Demokratie lebendiger. Dann hat sie auch mehr Chancen, sich im Kampf gegen autoritäre Staatsformen durchzusetzen." Trotz Fortschritten gibt es noch immer Parlamente, in denen keine weiblichen Abgeordneten sitzen, wie zum Beispiel in Oman, Jemen und im pazifischen Inselstaat Tuvalu.
Welche Herausforderungen gibt es für Frauen im Parlament?
Historikerin Weis unterstreicht im Interview, dass der Weg der Parlamentarierinnen insgesamt zu mehr Partizipation, mehr Gleichheit und mehr Freiheit geführt habe: „Aber oft waren es zwei Schritte vor, einer zurück, und manchmal drei Schritte vor, vier Schritte zurück. Auch heute noch ist es ein steiniger Weg. Auch heute noch werden Parlamentarierinnen zum Beispiel im Internet ganz anders angegriffen als Männer, und das schreckt auch viele ab, sich in der Politik zu engagieren.“
Bärbel Bas schlägt in dieselbe Kerbe. Um Parität möglich zu machen, fordert sie einen Schutz vor frauenfeindlichen Beschimpfungen sowie Drohungen, die männliche Kollegen meist so nicht erleben müssten. Zudem müssten Parteien und Parlamente dafür sorgen, dass mehr Frauen Zugang in die Politik fänden. Auch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf müsse verbessert werden.
„Wie zum Beispiel mit Annalena Baerbock umgegangen wird, das hat – trotz ihrer vielen Fehler, die sie gemacht hat – sexistische Untertöne. Das hat so einen paternalistischen Bevormundungston.“
Wie steht es um die gesellschaftliche Repräsentanz im Bundestag?
Gesellschaftliche Repräsentanz ergibt sich jedoch nicht allein durch ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis im Bundestag, zumal mittlerweile neben Frauen und Männern weitere Gender identifiziert werden. In der aktuellen Zusammensetzung des Bundestags finden sich mit Tessa Ganserer und Nyke Slawik, beide von Bündnis 90/Die Grünen, erstmals zwei transgeschlechtliche Frauen.
Zu Beginn dieser Legislaturperiode wurde bemängelt, dass zu wenige junge Menschen im Parlament vertreten seien und beispielsweise nur wenige eine Ausbildung absolviert hätten.
Eine Initiative, die sich für mehr gesellschaftliche Repräsentanz einsetzt, ist Brand New Bundestag. Die Initiative gibt an, dass sie Menschen unterstützen will, die in der Politik bislang unterrepräsentiert waren. Nach eigenen Angaben hat Brand New Bundestag es geschafft, vier Abgeordnete beim Einzug in das Parlament zu unterstützen sowie acht weitere Personen bei ihrem Weg in verschiedene Landtage.