Frauen im Aufbruch
Lenins leibliche Schwestern kommen in diesem Roman tatsächlich vor, aber nur weit am Rand und ohne tiefere Bedeutung für das Geschehen. Es ist eine eher symbolische Verwandtschaft, der Bärbel Reetz in diesem biographisch-episodischen Roman über russische Frauen nachspürt.
Betrachtet man den Revolutionsführer weniger als eine politische Figur, vielmehr als ein Sinnbild für Aufbruch, Umbruch und utopische Entwürfe, die insbesondere für Frauen verheißungsvoll waren, erscheint eine solche Verwandtschaft als durchaus plausibel.
Emanzipation wäre denn das politisch-gesellschaftliche Stichwort, unter dem sich diese Lebensgeschichten, die die Zeit von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts überstreichen, zusammenfassen ließen. Und die Schweiz erscheint als geographischer Umschlagplatz, weil Städte beziehungsweise Universitäten wie Zürich oder Genf mit ihren für Frauen offenen Studiengängen höchst attraktiv waren für ambitionierte russische Adelstöchter, die sich nicht bescheiden wollten mit der für sie reservierten Rolle einer "Dame der Gesellschaft". Und die zudem infiziert waren mit politischen Ideen, die im Widerspruch standen zu den russischen autokratischen Verhältnissen.
Das Spektrum der Motive dieser Frauen, sich im europäischen Westen niederzulassen, ist breit. Vor allem akademische Beweggründe scheinen im Fall der Mathematikerin Sofia Kowalewskaja (1850-1891) auf, mit der der Zyklus einsetzt. Sie sind scharf politisch akzentuiert bei der Revolutionärin Vera Figner (1852-1942) und der Politikerin Alexandra Kollontai (1872-1952).
Künstlerisch inspiriert ist das Lebensabenteuer von Marijanna Werjowkina (1860-1938), die selbst Malerin war, aber als Lebensgefährtin des Malers Alexej von Jawlensky ihr eigenes Werk zurückstellte, um nach dem tumultartigen Scheitern der Beziehung einen mühsamen Neuanfang als Künstlerin zu versuchen. Und nicht zuletzt ist da die Entzündung an der Psychoanalyse, wie sie im Lebensbild von Mira Gincburg (1884-1951) eine wesentliche Rolle spielt.
Dass diese episodenartig nebeneinander gestellten biographischen Abrisse dennoch einen romanhaften Text ergeben, mag zunächst verblüffen. Aber geschickt vernetzt die Autorin ihre Heldinnen miteinander. Das können ganz lose Verbindungen sein wie eine gegenseitige Wahrnehmung aus der Ferne. Oder direkte Begegnungen, die zu einem Austausch der Erinnerungen, Haltungen und Wertungen führen.
Derart miteinander verknüpft, entsteht ein eigenartiges und reizvolles Panorama: starke Frauencharaktere, die den Ballast der Tradition abwerfen in Zeitläuften, die man nur stürmisch nennen kann.
Bärbel Reetz, geboren 1942, lebt in Berlin. Sie ist als Biographin, Erzählerin und Herausgeberin hervorgetreten, u. a. mit Büchern über Sabina Spielrein, Hermann Hesse, Hugo Ball.
Rezensiert von Gregor Ziolkowski
Bärbel Reetz: Lenins Schwestern
Roman. Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 2008
270 Seiten, 19,80 Euro
Emanzipation wäre denn das politisch-gesellschaftliche Stichwort, unter dem sich diese Lebensgeschichten, die die Zeit von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts überstreichen, zusammenfassen ließen. Und die Schweiz erscheint als geographischer Umschlagplatz, weil Städte beziehungsweise Universitäten wie Zürich oder Genf mit ihren für Frauen offenen Studiengängen höchst attraktiv waren für ambitionierte russische Adelstöchter, die sich nicht bescheiden wollten mit der für sie reservierten Rolle einer "Dame der Gesellschaft". Und die zudem infiziert waren mit politischen Ideen, die im Widerspruch standen zu den russischen autokratischen Verhältnissen.
Das Spektrum der Motive dieser Frauen, sich im europäischen Westen niederzulassen, ist breit. Vor allem akademische Beweggründe scheinen im Fall der Mathematikerin Sofia Kowalewskaja (1850-1891) auf, mit der der Zyklus einsetzt. Sie sind scharf politisch akzentuiert bei der Revolutionärin Vera Figner (1852-1942) und der Politikerin Alexandra Kollontai (1872-1952).
Künstlerisch inspiriert ist das Lebensabenteuer von Marijanna Werjowkina (1860-1938), die selbst Malerin war, aber als Lebensgefährtin des Malers Alexej von Jawlensky ihr eigenes Werk zurückstellte, um nach dem tumultartigen Scheitern der Beziehung einen mühsamen Neuanfang als Künstlerin zu versuchen. Und nicht zuletzt ist da die Entzündung an der Psychoanalyse, wie sie im Lebensbild von Mira Gincburg (1884-1951) eine wesentliche Rolle spielt.
Dass diese episodenartig nebeneinander gestellten biographischen Abrisse dennoch einen romanhaften Text ergeben, mag zunächst verblüffen. Aber geschickt vernetzt die Autorin ihre Heldinnen miteinander. Das können ganz lose Verbindungen sein wie eine gegenseitige Wahrnehmung aus der Ferne. Oder direkte Begegnungen, die zu einem Austausch der Erinnerungen, Haltungen und Wertungen führen.
Derart miteinander verknüpft, entsteht ein eigenartiges und reizvolles Panorama: starke Frauencharaktere, die den Ballast der Tradition abwerfen in Zeitläuften, die man nur stürmisch nennen kann.
Bärbel Reetz, geboren 1942, lebt in Berlin. Sie ist als Biographin, Erzählerin und Herausgeberin hervorgetreten, u. a. mit Büchern über Sabina Spielrein, Hermann Hesse, Hugo Ball.
Rezensiert von Gregor Ziolkowski
Bärbel Reetz: Lenins Schwestern
Roman. Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 2008
270 Seiten, 19,80 Euro