Frauen in Afghanistan

Protest nur noch im Geheimen

29:34 Minuten
Ein Frau mit Kopftuch sitzt auf einem Sitzkissen.
Als die Taliban kamen, hat sich Rahil Talash entschieden, politisch aktiv zu werden und für ihre Rechte einzutreten. © Deutschlandradio / Ilir Tsouko
Von Andrea Jeska, Mitarbeit und Fotos: Ilir Tsouko |
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Die Taliban haben ihnen sämtliche Rechte genommen und sie damit in die Bedeutungslosigkeit verbannt. Vielen Mädchen und Frauen bleibt nichts anderes übrig, als zu Hause zu bleiben, zu warten, zu hoffen. Nur einige wagen aufzubegehren.
Es ist die dritte Unterrichtsstunde des Tages, und von draußen fällt ein warmes Winterlicht in die Klassenzimmer. Drinnen sitzen die Schülerinnen in schwarzen Schuluniformen und mit weißem Tuch über den Haaren diszipliniert auf ihren Stühlen und sprechen nach, was die Koranlehrerin ihnen vorbetet.

Schulbesuch nur bis zur sechsten Klasse

Vier Monate sind vergangen, seit die Taliban erneut das Land am Hindukusch unter ihre Kontrolle gebracht haben und einen Staat geschaffen haben, der radikal-islamische Grundsätze vertritt. Gleich nach der Machtübernahme wurde allen Frauen, außer denen im Gesundheitssektor, verboten zu arbeiten. Universitäten und höhere Schulen wurden geschlossen.
Die erste Generation von Frauen und Mädchen in Afghanistan, für die Bildung kein Privileg, sondern ein Recht war, die es wagen durfte, von Selbstbestimmung und Karriere zu träumen, sah sich über Nacht vom gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Leben ausgeschlossen, grundlegender Freiheiten beraubt, verbannt in die Bedeutungslosigkeit. Die Taliban erlauben den Schulbesuch für Mädchen nur noch bis zur sechsten Klasse.

Wenig Geld für die Provinzen

Die Safaa-Schule ist eine Grundschule im Norden von Kabul. Anders als in der Hauptstadt und den großen Städten Afghanistans gibt es in den ländlichen Gebieten und den Kleinstädten nur wenig Bildungschancen für Mädchen. Das war schon unter der alten Regierung so. Von dem vielen Geld, das der Westen nach Afghanistan brachte, wurde in den Provinzen wenig investiert. Dort herrschte auch während des sogenannten Kriegs gegen den Terror der Amerikaner und der Nato oft bittere Armut.
Der Bau von Schulen blieb vielfach internationalen Organisationen überlassen. Auch die Errichtung der Safaa-Schule ist privat finanziert worden. Der afghanische Frauenverein in Deutschland hat sie mit Spendengeldern und in Gedenken an ihren verstorbenen Vorsitzenden Roger Willemsen erbaut. Der hatte sich viele Jahre lang für afghanische Kinder eingesetzt. Im Oktober 2020, als in Afghanistan der erste Corona-Lockdown endete, wurde die Schule eröffnet.
Schülerinnen mit Kopftuch sitzen an Pulten, eine Lehrerin mit Kopftuch steht im Klassenraum: die Safaa-Schule im Norden Kabuls, Afghanistan.
Vermutlich wird es für Zahra und die anderen Sechstklässlerinnen aus der Safaa-Schule das letzte Schuljahr sein.© Deutschlandradio / Ilir Tsouko
Die sechste Klasse hat täglich Unterricht in Dari, eine der Landessprachen. Die Schülerinnen lesen eine Fabel. Zahra ist 13 Jahre alt und sitzt in der ersten Reihe, weil sie Klassenbeste ist. Sie mag alle Fächer, sagt sie, aber besonders Mathematik. In den Wochen nach der Übernahme der Taliban, als niemand wusste, was kommt, die Menschen Rache und Mord fürchteten, die Taliban zunächst alle Schulen schlossen, langweilte auch Zahra sich zu Hause. Um nicht zu vergessen, was sie gelernt hatte, hat sie sich täglich ihre Schulbücher angeschaut. „Ich habe meine Lektionen wiederholt und auch meiner kleinen Schwester beim Lernen geholfen.“

Bildung gehört jedem

Wenn die Taliban dem internationalen Druck nicht nachgeben und weiterführende Schulen wieder zulassen, wird es für Zahra und die anderen Sechstklässlerinnen das letzte Schuljahr sein. Dass den Grundschülerinnen bewusst ist, was das bedeutet, glaubt Najia Waseel, die Schulleiterin nicht.
Die Kinder seien zu jung, die aktuelle Situation zu verstehen. Man wolle sie auch nicht beunruhigen, indem man auch in der Schule von Politik rede, das müsse den Eltern überlassen bleiben. „Am Anfang, als die Taliban kamen, hatten die Lehrer und Schüler Angst. Jetzt sind alle wieder beruhigt. Bildung gehört jedem und sollte getrennt sein von der politischen Situation.“
Waseel leitet die Schule seit ihrer Eröffnung. Es sei eine sehr gute Schule, sagt die 37-Jährige, denn sie sei Dank der deutschen Finanzierung gut ausgestattet. Tatsächlich ist die Safaa-Schule eine der modernsten öffentlichen Schulen im Land. Es gibt Computerräume, naturwissenschaftliche Laboratorien, Sportplätze, eine Bibliothek, einen Kiosk – und zwei Wachposten, die dafür sorgen, dass die Schülerinnen geschützt sind. Ihre Schülerinnen, sagt Waseel, fühlten sich sicher. Alle seien in den Unterricht zurückgekehrt.

Die Kakophonie kehrt langsam zurück

In den ersten Wochen nach der Machtübernahme hat sich das Leben im sonst so lauten und hektischen Kabul verlangsamt. Die Frauen verschwanden aus dem Straßenbild. Die Kaufleute schlossen ihre Läden. Die Marktbeschicker blieben zu Hause.
Doch inzwischen sind die Kakophonie der Stadt und auch das alltägliche Gewusel fast wieder wie zuvor. Hupkonzerte im Stau, dazwischen das Geschrei der Händler, das Gefluche der Männer, die mit handgezimmerten hölzernen Karren Waren durch den Verkehr transportieren. Nur Frauen sieht man nicht mehr viele und wenn, dann mit der traditionellen Burka bekleidet. Und auch die Musik fehlt. Kein afghanischer Pop tönt mehr aus den Autoradios.
Straßenszene in Kabul: Eine vollverschleierte Frau und ein Mann gehen die Straße entlang.
Frauen sind auf Kabuls Straßen nur noch selten zu sehen, und wenn, dann nur komplett verschleiert.© Deutschlandradio / Ilir Tsouko
Eine gute halbe Stunde Fahrt von der Safaa-Schule entfernt, im Kabuler Stadtteil Taimani, sitzt die Schülerin Shayesta Wahid im Wohnzimmer vor ihrem Laptop und schaut ihre Lieblingsserie Sen cal Kapimi. Es ist eine türkische Komödie um eine ehrgeizige junge Frau, deren berufliche Pläne die Liebe durcheinanderbringt. Die 16-jährige Shayesta weiß genau, wie es sich anfühlt, wenn die Lebensplanung unerwartet scheitert. Nur war es bei ihr nicht die Liebe, sondern die Taliban, die ihre Ambitionen zunichtemachten.
Noch zwei Jahre, dann hätte sie ihr Abitur gemacht, wäre an eine Universität nach Istanbul gegangen und hätte dort Zahnmedizin studiert. Stattdessen sitzt sie seit vier Monaten jeden Tag zu Hause und trauert ihrem alten Leben nach. „Seit der Rückkehr der Taliban ist unsere Zukunft nicht nur vernebelt, sie ist sehr dunkel", sagt sie. "Sie haben all unsere Hoffnungen zunichtegemacht.“

"Meine Schule war mein Ein und Alles"

Shayesta wächst in einer liberalen Familie auf. Auf dem heimischen Sofa sitzt sie mit kurzem Kleid über einer farbigen Strumpfhose und sieht ganz so aus wie ein Teenager aus dem Westen. Dass sie und ihre zwei Schwestern ebenso wie die zwei Brüder zur Schule und später zur Universität gehen dürfen, stand für ihre Eltern nie zur Debatte.
Als älteste Tochter und sehr begabte Schülerin ruhten die Erwartungen ihres Vaters auf ihr und sie war entschlossen, diese zu erfüllen. „Ich wollte meine Familie immer stolz machen“, sagt sie – und, dass sie das gesellschaftliche Vorurteil, dass man nur auf Jungen stolz sein kann, infrage stellen wolle. Obwohl die Familie nicht reich ist, ging Shayesta auf eine türkische Eliteschule in Kabul. „Meine Schule war mein Ein und Alles. Ich musste viel leisten, um dort aufgenommen zu werden. Es war der erste Schritt, um meine Träume zu verwirklichen.“
Als eine unter Hunderten von Bewerbern und Bewerberinnen erhielt Shayesta ein Stipendium und hätte mit dem Abschluss die Möglichkeit gehabt, in der Türkei zu studieren. Doch nun sind alle Träume verloren. Auch die Sprachenschule, an der Shayesta in ihrer Freizeit Kurse belegte, um ihr Englisch und ihr Türkisch zu perfektionieren, kann sie nicht mehr besuchen. „Mein Vater erlaubt es mir nicht, denn draußen auf der Straße ist es gefährlich für Mädchen. Die Taliban machen, was sie wollen. Wenn ich etwas brauche, gehe ich zum Laden, und ich gehe zum Haus meiner Großmutter, aber sonst gehe ich nirgends hin.“

Kein Strom, kein Internet, keine Bildung

Shayesta kannte die Taliban nur aus Erzählungen ihrer Eltern. Dass sie selber einmal unter der Herrschaft der Extremisten leben würde, hätte sie nie gedacht. „Meine Eltern haben uns immer erzählt, wie es in den 90ern war. Als die Taliban in die Provinzen vorrückten, sagte ich zu meinem Vater: Tu doch was. Wir wollten aus Afghanistan fliehen, aber wir konnten nicht. Jetzt sind wir immer noch hier, leben hier und wissen nicht, was wir tun sollen, was geschehen wird, ob wir eine Zukunft haben oder nicht.“
Shayestas Vater war Soldat der afghanischen Armee. Am Tag, als die Taliban nach Kabul kamen, rief ihn sein Vorgesetzter an, er solle nach Hause gehen und seine Uniform verbrennen. Doch er blieb noch ein paar Stunden auf seinem Posten. „Mein Vater war nicht zu Hause und ich hatte große Angst. Meine Hände und meine Beine zitterten und ich wusste nicht, was ich tun sollte.“ Anfangs hatte Shayesta die Hoffnung, zumindest ihren Sprachunterricht online fortsetzen zu können. Doch die Taliban sind pleite und können die importierte Elektrizität nicht mehr bezahlen. Selbst in der Hauptstadt fällt täglich für viele Stunden der Strom und damit das Internet aus. Weil der Vater nun arbeitslos ist, kämpft die Familie mit Existenzsorgen. Das Geld, um der Tochter einen unbegrenzten Internetzugang zu bezahlen, haben sie nicht mehr.

Die Absichtserklärungen der Taliban

Der Druck internationaler Organisationen und westlicher Regierungen auf die Taliban, den Mädchen und Frauen nicht ihre Rechte zu nehmen, ist groß. Weil die Wirtschaft zusammengebrochen ist, die Staatsreserven eingefroren und 23 Millionen Menschen im Land auf Hilfslieferungen angewiesen sind, werden die Taliban Zugeständnisse machen müssen, wollen sie eine humanitäre Katastrophe noch vermeiden. Doch statt einem Einlenken hat es bislang lediglich Absichtserklärungen gegeben.
Nur im Norden rund um die Stadt Mazar-i-Sharif, die seit langem liberaler ist, wo Frauen auch wirtschaftlich eine Rolle spielen, sind einige mittlere und höhere Mädchenschulen wieder geöffnet. Für Kabul, das den Taliban aus dem traditionellen paschtunischen Süden untersteht, wird es solche Öffnungen in nächster Zukunft wohl kaum geben.

Interview in einem Versteck

„Es tut mir sehr leid, dass ich nicht zur Begrüßung gekommen bin, aber ich verstecke mich in diesem Gebäude", sagt Muhammad. "Nach dem Kollaps des vorigen Regimes habe ich meinen Wohnort gewechselt. Ich habe mein Haus verlassen, damit mich niemand an die Talibansoldaten verraten kann. Seit 20 Tagen lebe ich hier im obersten Stockwerk. Davor habe ich mich bei Verwandten versteckt. Bitte, gehen Sie hoch. Niemand kennt den Ort, an dem ich jetzt lebe.“
Selbst, wenn die Taliban zustimmten, alle Schulen und auch die Universitäten wieder zu öffnen – die Zahl derer, die dem neuen Regime nicht trauen und lieber mit ihren Familien auf ewig versteckt bleiben, ist groß.
Ein Mann und eine Frau sehen auf einer Dachterasse, im Hintergrund eine Stadt: Muhammad Arif und seiner Tochter Mina in Kabul.
Muhammad Arif und seine Familie gehören der Minderheit der Hazara an, einer Volksgruppe, die seit Jahrhunderten verfolgt wird.© Deutschlandradio / Ilir Tsouko
Besonders unter denen, die von den Taliban bislang nur Gewalt erfahren haben. So wie die Familie von Muhammad Arif, die der Minderheit der Hazara angehört, einer Volksgruppe, die seit Jahrhunderten verfolgt wird. Allein in den vergangenen zwei Jahren wurden im Kabuler Stadtteil Darsht-e-Barchi, dem Wohnort der Hazara, nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen mehr als 100 Anschläge verübt, wurden Menschen auf offener Straße getötet und entführt.

Der IS ist ebenfalls noch aktiv

„Religiöser Extremismus ist ein heißes Thema in Afghanistan", meint Muhammad. Im Augenblick sei die Situation auch deshalb so schwierig, weil der IS ebenfalls noch aktiv sei. "Ich schicke meine Kinder nicht zur Schule, weil ich Angst habe vor Autobomben und Selbstmordattentaten. All meine Kinder sind zu Hause. Sie erhalten keine Bildung mehr.“
Im Mai 2021 wurde auch Muhammads älteste Tochter Mina Opfer eines Anschlags. Mit über 1100 Schülern, Jungen und Mädchen, die getrennt in zwei Schichten unterrichtet wurden, hat Mina die Sayed ul Shuhuda Oberschule besucht. An einem Nachmittag, der Unterricht ist beendet und die Mädchen strömen auf die Straße, explodiert dort eine Autobombe, wenige Minuten später weitere Bomben, die die in alle Richtungen Fliehenden trifft. 85 Mädchen sterben.
Als Mina endlich wieder in die Schule gehen konnte, rückten wenige Tage später die Taliban ein. Seither kümmert sie sich mit ihrer Mutter um den Haushalt und ihre kleinen Geschwister. „Es ist sehr langweilig, den ganzen Tag zu Hause zu sein. Ich würde gerne wieder in die Schule gehen und lernen, aber, wenn ich dorthin gehe, wird es wieder eine Explosion geben, fürchte ich.“

Wenn es hupt, schweigen die Frauen

In einem Haus hinter Mauern und Stacheldraht hat eine afghanische Stiftung für Armutsbekämpfung ihren Sitz. Dort, versteckt vor jeder Öffentlichkeit, trifft sich seit einigen Wochen eine Gruppe, die sich „Kämpfende Frauen“ nennt. Es sind Studentinnen und junge Angestellte, die nicht schweigend ihre Verbannung aus dem öffentlichen Leben hinnehmen wollen.
Ein schmaler Raum, ein langer Konferenztisch. Tee wird gebracht, dazu Schüsselchen mit Bonbons. Vor den Fenstern sind die Lamellen heruntergelassen, die Tür zum Haus ist abgeschlossen worden. Wenn draußen auf der Straße ein Wagen hupt, schweigen die 17 Frauen, die hier sitzen für einen Moment und schauen durch die Lamellen, ob der Wächter das Tor öffnet. Wenn sie sehen, dass der Mann weiter auf seinem Stuhl schläft, atmen sie erleichtert aus.

Unerfahrene Aktivistinnen

Den Treffen dieser kämpfenden Frauen steht ein Mann vor, er sitzt am Kopf des Tisches. Sein Name ist Farhid, er ist der Leiter der Stiftung, in dessen Büros sich die Frauen versammeln.  Eine Stiftung, die nun keine Aufgabe mehr hat, weil keine Spendengelder mehr eintrudeln, um den Armen zu helfen, und so hat sich Farhid entschieden, sich auf die Seite der Frauenbewegung zu schlagen und wenigstens dort etwas zu bewegen.
Denn anders als er sind die jungen Frauen, die an den Längsseiten des Tisches sitzen und seinen Worten lauschen, als seien sie eine Verheißung, unerfahren in der Organisation und Vernetzung von Aktivitäten. Die meisten von ihnen haben sich erst mit der Rückkehr der Taliban politisiert und sind zu Aktivistinnen geworden. Sie wissen nichts von politischer und gesellschaftlicher Agitation – und schon gar nicht wissen sie, wie man einem so gefährlichen Gegner wie den Taliban gegenübertritt.
Eine afghanische Frau mit Kopftuch hält sich die Hände vor das Gesicht.
Die 21 Jahre alte Jurastudentin Parwona ist eine der wenigen erfahrenen Aktivistinnen, die im Land geblieben sind.© Deutschlandradio / Ilir Tsouko
„Wir sind nicht mehr die, die wir vor 20 Jahren waren." Als die amerikanische Regierung verkündete, ihre Soldaten aus Afghanistan abziehen zu wollen und die Taliban Provinz für Provinz auf Kabul vorrückten, war dieser Satz das Mantra der Frauen gegen die Angst. Sollten die Taliban versuchen, ihnen wieder alle Rechte zu nehmen, sie wieder unter die Burka verbannen zu wollen, dann, so sagten die Frauen in Kabul, würden sie kämpfen, notfalls mit dem Leben dafür bezahlen. Doch als die Taliban dann da waren, flohen die meisten von denen, die ihnen Widerstand entgegensetzen wollten. Zurück blieben jene Frauen, die keine Kontakte zu Hilfsorganisationen, Stiftungen oder dem Militär hatten, die, die keinen Platz auf Evakuierungslisten bekommen hatten.

Protest nur noch im Geheimen

Schon fast todesmutig stellten sie sich in den ersten Wochen der Machtübernahme den neuen Herrschern entgegen und zogen mit Protestplakaten durch die Straßen von Kabul. Wütend, mit lauten Rufen nach Freiheit, trotzten sie der Talibanpolizei, die schwerbewaffnet gegen sie vorrückte. Es gab Verletzte und Verhaftungen. Dann verboten die Taliban die öffentlichen Proteste. Eine der Frauen, die diese neue Gruppe mitbegründeten, ist Parwona, 21 Jahre alt, Jurastudentin und eine der wenigen erfahrenen Aktivistinnen. „Ich wuchs in einer Familie auf, in der es nicht erlaubt war, dass Töchter auf die Uni gehen oder sich öffentlich engagieren. Doch ich hatte Vorbilder, andere Aktivistinnen, und so wurde ich mit 25 Jahren selber eine", erzählt sie.
Parwona erklärt, dass die Frauen und anderer Widerstandsgruppen sich über die Soziale Medien organisieren, doch die meisten der Gruppen seien klein und auf die Hauptstadt beschränkt. Frauen in den Provinzen fehle der Zugang zum Internet oder ihre Familien erlaubten ihnen die Teilnahme nicht. „Ich habe versucht, eine große WhatsApp-Gruppe zu gründen, doch das ist schwierig, weil es gefährlich ist, und viele Frauen sind nicht bereit, uns zu unterstützen." Deswegen sei es wichtig, alles im Geheimen zu machen. "Es ist unmöglich, auf die Straße zu gehen und öffentlich unsere Stimme gegen die Taliban zu erheben.“

Die Anführerinnen sind längst weg

Nach dem Protestverbot der Taliban haben Parwona und ihre Freundinnen noch einmal versucht, öffentlich zu protestieren. Sie verabredeten sich in einem Park und taten zunächst so, als feierten sie eine Geburtstagsparty. Dann rollten sie ihre Banner mit ihren Forderungen aus: das Recht auf Selbstbestimmung, das Recht auf freie Meinung, das Recht auf Bildung. Doch es dauerte keine fünf Minuten, dann war die Polizei da. Nur mit Mühe gelang es ihnen zu entkommen.
Farhid weiß um die Angst der Frauen vor Repressalien und Verhaftung. Er weiß auch, dass viele Väter ihren Töchtern aus Sorge verbieten, sich zu organisieren, und dass jedes Treffen in diesen Räumen den Frauen viel Mut abverlangt. Er versucht deshalb, die Frauen zu motivieren. Sie sollten, sagt er, an die großen Frauenrechtlerinnen Afghanistans denken, wenn sie der Mut verlasse, an Shukria Barakzai und Fausia Kufi. Auch diese hätten einmal mit kleinen Stimmen angefangen, doch heute seien sie berühmt.
Rückenansicht zweier verschleierter Frauen.
Offen zu protestieren ist gefährlich: die beiden Frauenaktivistinnen Parwona und Rahil.© Deutschlandradio / Ilir Tsouko
Ein leises Murren geht durch den Raum. Diese beiden, sagt eine der Teilnehmerinnen, hätten Afghanistan dank ihrer internationalen Kontakte verlassen und protestierten jetzt im sicheren Ausland. „Wir brauchen ihre Unterstützung nicht. Wir haben unsere eigenen Gruppen. Wir sind die, die gegen die Taliban kämpfen, und wir sagen der internationalen Gemeinschaft, die Taliban nicht anzuerkennen.“

Trügerische Hoffnung auf Evakuierung

Nach der Rückkehr der Taliban, haben die internationalen Medien vor allem den Frauen eine Stimme gegeben. Und so wurde aus mancher bescheidenen Aktivistin eine furchtlose Heldin. Mit der Sichtbar-Machung durch die westliche Presse wuchs im Land die Hoffnung, so viel Aufmerksamkeit könne und werde die Frauen retten. Entweder, weil es genügend Faustpfand gebe, die Taliban zu Kompromissen zu zwingen. Oder, weil Sichtbarkeit Gefährdung bedeutet und Gefährdung wiederum Evakuierung. Ein Irrglaube, der sich hartnäckig hält, weil er für viele Frauen der letzte Halt ist. Für manche ist diese trügerische Hoffnung sogar der Hauptgrund des politischen Engagements.
Doch es gibt auch jene, die längst erkannt haben, dass sie von nun an auf sich gestellt sind, und die, die ihnen Schutz bringen wollten, sie verlassen haben. „Schuld an dieser Situation haben doch die USA. Die internationale Gemeinschaft hat die Taliban bestärkt, deshalb haben sie unser Land eingenommen.“
Denn als die US-Regierung Verhandlungen mit der Taliban-Führung über Machtbeteiligung führte, da stand der Abzug bereits fest – und so waren die Taliban zu wenig Kompromissen bereit. In den Winterwochen, als klar wird, dass die Taliban keine Zugeständnisse machen, als Schulen und Universitäten weiterhin geschlossen bleiben, verlegen die Aktivistinnen ihren Protest immer mehr ins Netz. Sie posten Fotos von der Gruppe, auf denen sie sich den Mund verkleben. Videos, in denen Mullahs erklären, warum Frauen nicht in die Öffentlichkeit gehören. Und Bilder, die zeigen, dass der Hunger in Afghanistan inzwischen schlimmer ist als die Verweigerung von Frauenrechten. Auf einem Bild halten Parwona und die anderen Schilder hoch, darauf steht: Essen. Freiheit. Arbeit.
Immer kleiner wird die Hoffnung, der Westen werde den Frauen ihre verlorene Zukunft wiederbringen. Am Ende des Jahres schreibt Parwona in ihre WhatsApp-Gruppe. „Gruß an euch alle. Weil es immer gefährlicher für uns wird, haben wir beschlossen, den Ruf nach Gerechtigkeit der unterdrückten Frauen Afghanistans erneut in die Welt zu bringen. Lasst es nicht zu, dass Afghanistan aus den Schlagzeilen der Weltnachrichten verschwindet und der Herrschaft der Taliban Legitimität verliehen wird, weil heuchlerische Menschen im In- und Ausland als Lobbyisten für sie tätig sind. Helft mir, diesen Kampfaufruf zu verbreiten.“

Stille im Kulturzentrum

Durch den Hof des Kulturzentrums in Kabuls Stadtteil Pol-e-Sorkh zieht kalter Wind. Laub liegt überall, die Tische sind feucht, in den Innenräumen ist es klamm. Im oberen Stockwerk spielen sich einige junge Männern mit selbstkomponierten Liedern warm. Doch ansonsten ist es ungewöhnlich still in diesem Haus und diesem Hof.
Männer mit Instrumenten in einem dunklen Raum: Kulturzentrum in Kabul.
Im Kulturzentrum ist jetzt nur noch wenig los. Früher fanden hier zahlreiche Veranstaltungen statt.© Deutschlandradio / Ilir Tsouko
Noch im Sommer war das Zentrum der städtische Mittelpunkt für Musiker, Schauspieler, Dichter, Schriftsteller, Filmemacher und Journalisten. Neue Filmprojekte sind dort entstanden, Vorträge, Konzerte haben stattgefunden, Lovedays wurden gefeiert. Es gab Ausstellungen, Dichter und Dichterinnen haben hier gelesen, Schulklassen Kurse in Kunst und kreativem Schreiben absolviert. Die Maler hatten ein Atelier, die Musiker einen Übungsraum, die Leseratten eine Bibliothek. Die Schauspielerinnen, Filmemacherinnen und Künstlerinnen saßen ohne Tuch über den Haaren, haben öffentlich geraucht und sich den Männern ebenbürtig gefühlt. Vor allem aber haben sie Geld verdient. Nicht viel, doch es reichte, und alle haben an eine Zukunft geglaubt, in der die Kunst frei und der Mensch selbstbestimmt sein kann.
“Ich drehe Dokumentationen. Ich habe an der Universität von Kabul studiert, im achten Semester an der Fakultät für Kunst, aber ich konnte nicht weiter studieren. Ich habe auch Theaterintendanz studiert", sagt Kobra Nader. Sie ist 21 Jahre alt, eine der jüngsten Filmemacherinnen in Kabul – und eine von Abertausenden jungen Frauen, die nun ohne Arbeit und ohne Aussichten sind. Um so jung schon Filme zu drehen, musste sie viel kämpfen, gegen die Verbote ihrer Eltern und gegen die der Gesellschaft. „Schon vor den Taliban gab es Probleme. Nicht von der Regierung, aber wir hatten Angst vor anderen Leuten: Kriminelle oder Menschen, die Frauen schaden wollten.“

Ein Film über Studentinnen - aber wie?

Im vergangenen Jahr drehte Nader einen Dokumentarfilm über Straßenkinder. Nun würde sie gerne eine Dokumentation über Studentinnen machen, die wie sie keine Zukunft mehr haben. „Wie fühlen sie sich, wenn sie wissen, sie werden vielleicht nie wieder eine Universität besuchen? Wenn sie erzählen, was sie verloren haben?” Doch die Dreharbeiten stocken. Die Angst, von den Taliban angehalten und befragt zu werden, ist zu groß. „Ich versuchen, stark und hoffnungsvoll zu sein", sagt Kobra Nader. "Aber kann ich mein Projekt beenden? Ich kann meine Kamera auf der Straße nicht zeigen und einfach mit Leuten reden, Fotos und Videos aufnehmen. Ich kann sie nur zu Hause besuchen oder sie bitten, zu mir zu kommen, das ist der einzige Weg, um Aufnahmen in Kabul zu machen.“
Am Anfang der Talibanzeit, erzählt Nader, habe sie sogar ihre Bücher verbrannt, aus lauter Angst, die Taliban würden an ihre Tür klopfen und diese finden. „Jetzt vermisse ich sie und frage mich, was ich da getan habe. Aber es geht mir jetzt besser, weil ich meine Kamera nehme und etwas tue. Bis vor zwei Monaten habe ich nur zu Hause gesessen und geweint. Ich war sehr krank und wusste nicht, warum. Dann bin ich zum Arzt gegangen und er hat mir Medikamente verschrieben.“

Künstlerinnen in wirtschaftlicher Notlage

Die Taliban haben Frauen verboten, in Filmen und Serien mitzuspielen. Alle Rollen müssen künftig von Männern ausgefüllt werden, zudem muss jeder Film im Einklang mit ihren Vorstellungen von islamischer Anständigkeit stehen. Viele Künstlerinnen und Künstler in Afghanistan haben deshalb keine Arbeit mehr und sind in einer wirtschaftlichen Notlage. Auch Nader hat Geldsorgen. „Es gibt so viele Frauen, die die Ernährerinnen ihrer Familien sind", sagt sie. "Auch ich und meine Schwester sind in unserer Familie die einzigen, die Geld verdienen. Wenn wir nicht mehr arbeiten, wie werden wir überleben?“
Eine junge Frau mit Kopftuch schaut durch eine Kamera.
Die Arbeit mit der Kamera gibt ihr Kraft: die junge Filmemacherin Kobra Nader.© Deutschlandradio / Ilir Tsouko
Denn selbst, wenn die Taliban den Frauen, wie sie ankündigt haben, die Rückkehr an die Universitäten erlaubten, hätte das in Naders Augen keine Zukunft. „Ich habe mich heute mit meinen Dozenten unterhalten. Sie hatten sich gerade mit dem Bildungsministerium besprochen und waren sehr enttäuscht. Alle sagten, sie wollen das Land verlassen. Wenn die Universitäten wieder öffnen, wer wird uns dann unterrichten? Die Taliban beherrschen den Stoff nicht.”

Furcht vor Zwangsheiraten

Was also tun? Genau wie die jungen Aktivistinnen klammert sich Nader an die Hoffnung, dass der Westen noch Einfluss auf die afghanische Politik habe. Wenn schon nicht direkt, dann doch über finanzielle Mittel, die die Taliban so dringend brauchen, um das hungernde und insolvente Land vor dem Kollaps zu bewahren. „Wenn die Taliban uns nicht erlauben zu arbeiten, zu studieren, werden alle Frauen Afghanistans nutzlos sein. Die Situation der Frauen und Mädchen verschlimmert sich mit jedem Tag. In jeder Minute, die wir hier sprechen, wird eine Frau Opfer von häuslicher Gewalt. Früher konnten sie bei staatlichen Stellen um Hilfe bitten, doch jetzt nicht mehr. Es gibt keinen Ort mehr, an dem sie sprechen können. Alles, was die Frauen machen können, ist zu protestieren und die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf Afghanistans Frauen zu lenken.“
Drei Wochen nach diesem Gespräch verlässt Kobra Nader Afghanistan. Sie lebt jetzt in Pakistan und postet auf Facebook herzzerreißende Zeilen über ihr Heimweh. Die Flucht ins Nachbarland geschah auch aus Furcht vor der letzten Alternative, die vielen der ins Haus verbannten jungen Mädchen und Frauen jetzt noch bleibt. „Viele Mädchen denken jetzt darüber nach zu heiraten, denn sie haben alle Hoffnungen verloren. Eine meiner Freundinnen erzählte mir: Jemand hat um meine Hand angehalten, aber ich habe abgelehnt. Ich habe gesagt, ich will nicht heiraten. Aber jetzt glaube ich, es ist besser, ich heirate ihn.“

Frauen in Afghanistan - es wird jeden Tag schlimmer

12.02.2022
06:19 Minuten
Podcast: Studio 9
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