Verschiedene Arten Krieg, die Brutalität der Taliban, der Sprung in die Moderne, ein radikaler Wertewandel – und eine permanente Bedrohung durch Anschläge. Afghanistan kommt seit vier Jahrzehnten nicht zur Ruhe. Was das mit den Menschen macht, erzählt Gabriele Riedle, die 15 Jahre lang für das Magazin "Geo" in den Kriegsgebieten der Welt unterwegs war. Audio Player
Kein Frieden mit den Taliban
23:53 Minuten
Zwar machen Verhandlungen zwischen den USA und den Taliban Hoffnung auf Frieden in Afghanistan: Viele Frauen dort fürchten allerdings, dass sie ihre mühsam erkämpften Rechte nun wieder verlieren. Doch diesmal wollen sie nicht zurückweichen.
Sobald eine Frau in Afghanistan öffentlich in Erscheinung tritt, ist sie gefährdet. Der gefährlichste Beruf für sie ist daher, als TV-Moderatorin zu arbeiten. Zum Beispiel bei "Zan TV", dem ersten Fernsehsender in Afghanistan, der sich Frauenthemen widmet. Sonya Shinwari arbeitet hier als Nachrichtensprecherin. Zan TV, auf Deutsch "Frau TV", gibt es seit zwei Jahren. Hier arbeiten ausschließlich Frauen und sind für den Inhalt und die Gestaltung der Sendungen verantwortlich. Sie moderieren und produzieren Talkshows und Dokumentationen für ein weibliches Publikum.
Hier, aber nicht nur hier, stellen Journalistinnen für religiöse Fanatiker eine doppelte Provokation dar: Weil sie eine Frau sind und weil sie eine Journalistin sind. Sonya Shinwari moderiert die Nachrichten und stand schon oft vor vielen Hindernissen.
Journalistinnen – erste Opfer von Attacken
"Frauen werden auf der Straße belästigt und angegriffen. Viele Institutionen nehmen sie nicht ernst und geben ihnen nicht die nötigen Informationen. Interviewtermine werden nicht eingehalten. Zum Beispiel hatte ich einen Präsidentschaftskandidaten für ein Interview angefragt, er hat mich mehrfach vertröstet, und als endlich ein Termin feststand, hat er kurzfristig abgesagt. Sogar Studiotermine im Sender, die langfristig geplant werden müssen, werden - wenn überhaupt - kurz vor der Sendung abgesagt."
Schwerwiegender jedoch, weil es ihre Existenz bedroht, sei die fragile Sicherheitslage.
Schwerwiegender jedoch, weil es ihre Existenz bedroht, sei die fragile Sicherheitslage.
"Wir Journalistinnen sind immer die ersten Opfer von Attacken. Aus Sorge um die Sicherheit sind viele Familien nicht damit einverstanden, dass ihre Töchter oder Schwestern bei den Medien arbeiten. Auch meine Familie war zunächst sehr skeptisch und ich musste sie davon überzeugen, dass sie meinem Berufswunsch zustimmen. Letztlich haben sie Ja gesagt, wegen meiner guten Noten und weil ich mein Studium als Beste meines Jahrgangs abgeschlossen habe. Und auch, weil ich bei einem Sender arbeite, der von Frauen für Frauen gemacht ist. Das beruhigt sie ein bisschen."
Trotz Verfassungsgarantie keine Gleichstellung
Farida Nekzad leitet ein Zentrum zum Schutz afghanischer Journalistinnen. Dorthin wenden sich Medienmacherinnen, die in Gefahr sind oder deren Familien bedroht werden. Obwohl in der afghanischen Verfassung verankert, wird die Gleichstellung der Frauen kaum umgesetzt. Extremisten und bewaffnete Kriegsherrn, für die solche Gesetze zu demokratisch und somit westlich manipuliert sind, versuchen, sie bei jeder Gelegenheit zu unterlaufen.
"Das ist etwas, was uns am meisten beschäftigt und was wir besonders im Blick behalten müssen. Vor einiger Zeit sagte eine Person aus dem Büro der Taliban gegenüber einer Nachrichtenagentur, 'sollten wir an die Macht kommen, werden wir nicht erlauben, dass Frauen in den Medien arbeiten, vor allem nicht im Fernsehen'."
In kaum einem Land auf der Welt leben Frauen gefährdeter als in Afghanistan – und zwar nicht nur, wenn sie öffentlich in Erscheinung treten. Körperliche, sexualisierte und seelische Gewalt gehört zu ihrem Alltag. Nach Angaben von "Medica Afghanistan" werden beispielsweise viele Frauen wegen Ehebruchs angeklagt, obwohl sie in den meisten Fällen Opfer von Vergewaltigung oder Zwangsprostitution sind. Für viele von ihnen bleibt Selbstmord der einzige Ausweg. Laut BBC Asia begehen jährlich mehr als 3000 Menschen in Afghanistan Selbstmord, 80 Prozent davon sind Frauen.
Afghanistan ist ein gespaltenes Land
Und doch: Die afghanische Bevölkerung ist tief gespalten – das zeigt sich auch in der Frauenfrage. Traditionelle und Extremisten auf der einen Seite, Intellektuelle und Weltoffene auf der anderen. Die afghanische Regierung mittendrin und von beiden Seiten nicht ernst genommen. Für die Taliban ist sie eine Marionette der USA, und in der Zivilgesellschaft - besonders unter den jungen afghanischen Intellektuellen - gilt sie als extrem brüchig und instabil.
Diese Zerrissenheit spiegelt sich auch in den Verhandlungen wieder: Einerseits die strengen islamistischen Taliban mit ihren zum Teil eigenwilligen Interpretationen eines islamischen Rechtssystems, anderseits die moderne und junge Zivilgesellschaft, die in den letzten 18 Jahren vom Fortschritt des Landes profitiert hat. Hier die Einhaltung der Menschenrechte und die Anerkennung der jetzigen afghanischen Verfassung, dort ein islamisch orientiertes Rechtssystem und die Einschränkung der Frauenrechte.
Saifora Paktiss ist auf dem Weg zur Arbeit. Sie lebt in der Innenstadt von Kabul. Die wenigen Kilometer bis zu ihrer Arbeitsstelle muss sie gefahren werden.
"Für die vier Kilometer von meinem Wohnort bis zum Büro brauche ich mit dem Auto manchmal eineinhalb Stunden. Zu Fuß wäre ich viel schneller."
Aber zu Fuß ist es zu gefährlich. Denn sowohl die aufständischen Taliban als auch die Terrormiliz "Islamischer Staat" verüben regelmäßig Anschläge im gesamten Land. Auch hier in der Hauptstadt.
Vor dem Büro angekommen, überprüft das Sicherheitspersonal Saifora Paktiss am Eingang des Gebäudes und winkt sie dann durch. Es ist kurz vor acht Uhr morgens. Die 34-jährige Frau arbeitet im Büro von "Medica Afghanistan". Eine Organisation, die 2002 von der deutschen Frauenrechtsorganisation "medica mondiale" aufgebaut worden war. Sie bietet psychosoziale und traumasensible Beratung für Frauen mit Gewalterfahrung an. In Afghanistan werden alle Organisationen und Institutionen scharf bewacht, besonders gefährdet sind allerdings die, die sich für demokratische und zivilgesellschaftliche Werte einsetzen.
"Natürlich sind wir besorgt und haben unsere Bedenken. Es ist ja offensichtlich, dass das Thema Frauenrechte bei den Verhandlungen keine große Rolle spielt. Es wird sich zeigen, was die Verhandlungen bringen."
"Natürlich sind wir besorgt und haben unsere Bedenken. Es ist ja offensichtlich, dass das Thema Frauenrechte bei den Verhandlungen keine große Rolle spielt. Es wird sich zeigen, was die Verhandlungen bringen."
Aktivistinnen vernetzen sich gegen die Taliban
Bereits seit Monaten organisieren afghanische Frauenrechts- und Menschenrechts-Aktivistinnen landesweite Treffen und arbeiten an Strategien, wie sie ihre Forderungen am wirkungsvollsten präsentieren. Viele Aktivistinnen haben unter den Taliban Mädchen und Frauen heimlich in ihren Häusern unterrichtet. Auch nach dem Ende der Taliban-Ära 2001 setzten sie ihre Arbeit fort.
Knapp 1000 von ihnen sind in diesen Tagen in Kabul zusammengekommen, um ihre Forderungen zusammenzutragen. Es wird nicht das letzte Mal gewesen sein. Das Motto ihrer Versammlungen: "Atesch Bass" - was so viel heißt wie "Stoppt das Feuer".
Die Stimmung auf den Versammlungen ist einzigartig: Es ist, als würden die Frauen eine Mauer bilden, um nicht von den Hardlinern überrollt zu werden. Dass sie gemeinsam an die Öffentlichkeit treten, zeigt ihre Entschlossenheit. Sogar in den abgelegenen Provinzen versammeln und beraten sich Aktivistinnen in diesen Tagen. Auch im Süden des Landes, einer Hochburg der Taliban.
Frauenrechtlerin Laila Jafari ist Mitglied des Hohen Friedensrates, einem Organ des "Afghan Peace and Reintegration Program", das die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban vorbereitet.
Frauen fordern gesellschaftliche Teilhabe
"Wenn es um die Friedensvereinbarungen geht, haben wir ganz klare Forderungen. Dazu gehören die zivilen und politischen Rechte der Frauen, die Anerkennung der afghanischen Verfassung und die Aufrechterhaltung der Fortschritte der afghanischen Frauen aus den letzten 17 Jahren."
Seit der US-Präsident Donald Trump entschieden hat, sein Militär lieber heute als morgen aus Afghanistan abzuziehen, finden regelmäßig sogenannte Friedensgespräche zwischen der US-amerikanischen Administration und den Taliban statt.
Das dabei wohl wichtigste Treffen fand Anfang des Jahres in Moskau statt. Dort äußerten sich die islamistischen Aufständischen zum ersten Mal detaillierter über einige ihrer Positionen. Auch die Sicht auf die Rechte der Frauen kam damals zur Sprache.
Islam – laut Taliban Grundpfeiler der Gesellschaft
Es wurde im afghanischen Fernsehen übertragen – besonders die Stellungnahme der Taliban durch ihren politischen Sprecher, Sher Mohammad Abbas Stanekzai, haben die Frauen aufmerksam verfolgt:
"Da Afghanentum und Islam die Grundpfeiler der afghanischen Gesellschaft sind, fühlt sich das Islamische Emirat Afghanistan ebenfalls an diese Werte gebunden. Richtlinien des Islamischen Emirats Afghanistan sind nicht nur die Bewahrung der allgemeinen Rechte der Frauen, sondern auch die der Menschenrechte und der Unversehrtheit der islamischen und afghanischen Werte."
Unklar bleibt allerdings, wie die Taliban das islamische Recht auslegen werden und was "die afghanischen Werte" genau sind, meint die Frauenrechtlerin Saifora Paktees.
"Ich kann mir nicht vorstellen, dass unsere Arbeit und der Service, den wir anbieten, dadurch beeinträchtigt werden. Genauso, wie es Gynäkologinnen geben muss, um Frauen zu behandeln, ist es wichtig, dass Frauen sich auch um die Angelegenheiten und Probleme von Frauen kümmern."
Als die Taliban an der Macht waren, war es Frauen verboten zu arbeiten, zur Schule zu gehen und ohne die Begleitung eines männlichen Verwandten das Haus zu verlassen. Wer sich nicht an diese Regeln hielt, wurde öffentlich ausgepeitscht oder mit dem Tode bedroht.
In den Frauengefängnissen sind immer noch vorwiegend Frauen aufgrund sogenannter "moralischer Verbrechen" inhaftiert, unter ihnen auch solche, die vor der Gewalt und Misshandlung in ihren Familien flohen und gefasst wurden. Und das, obwohl Gewalt gegen Frauen seit 2009 in der afghanischen Verfassung unter Strafe steht. Viele Frauen kennen aber ihre Rechte nicht und sind dem patriarchalischen System mit extremer Gesinnung ausgeliefert.
Heute verurteilen die Taliban wie auf dem Treffen Anfang des Jahres in Moskau wieder vehement die Arbeit der Frauenrechtsaktivistinnen, die ihre Anhängerinnen ermutigen, mit den afghanischen Bräuchen zu brechen. Das wiederum macht die Frauenrechtlerinnen wütend, aber auch besorgt. Mashal Roshan ist eine der Frauen, die bereits unter den Taliban andere Frauen unterstützte.
Frauen sind auch seelisch verwundet
"Sich für Frauen in Afghanistan einzusetzen, bedeutet mir sehr viel, denn die meisten Opfer haben die Frauen gebracht, in den Bürgerkriegen und Stellvertreterkriegen in den letzten vier Jahrzehnten. Oft hatten sie keinerlei Zugang zu irgendetwas. Ihnen wurden alle Rechte des Daseins aberkannt. Durch den Krieg sind wir auch alle seelisch verwundet und brauchen deshalb vermehrt und intensiver die Zuneigung und Achtsamkeit untereinander. Dadurch können wir uns auch besser unterstützen und auf dem Laufenden halten. So sind wir auch bei Schwierigkeiten besser gewappnet und können uns unseren Alltag erleichtern."
Zurück bei Farida Nekzad in Kabul. Bevor sie Leiterin des Zentrums zum Schutz afghanischer Journalistinnen wurde, war sie selbst Journalistin. Sie hat in Indien Journalismus studiert und die renommierte afghanische Nachrichtenagentur Pajwak mit aufgebaut. Sie hat internationale Erfahrungen gesammelt, war im Visier von Demokratiegegnern und kennt deshalb aus persönlicher Erfahrung die Not der Betroffenen. Für ihre couragierte Arbeit und ihren Einsatz hat Nekzad viele internationale Preise verliehen bekommen. Die jungen Journalistinnen brauchen Vorbilder wie Farida Nekzad, um sich zu orientieren.
"In Afghanistan ist bedauerlicherweise die Situation von Journalisten so, dass in den letzten vier Jahren 50 Journalisten und Medienmacher wegen ihrer Arbeit zu Tode gekommen sind. Wir werden zensiert, bedroht und umgebracht. Vor allem betroffen sind davon die Frauen. Afghanistan ist ein patriarchalisches Land und für Frauen ist das Arbeiten sehr schwer. Ich sage, um in Afghanistan als Journalistin zu arbeiten, braucht es Kraft und Mut. Ein Sprichwort passt genau auf uns: Steck dir das Herz des Löwen in die Brust und mach dich ans Werk."
Frauen wissen, was auf dem Spiel steht
Es ist kein neues Phänomen, dass afghanische Frauen Forderungen stellen. Was dagegen neu ist, ist die Tatsache, dass die Frauen angesichts der zukunftsweisenden Friedensverhandlungen und der Präsidentschaftswahlen im September wissen, was auf dem Spiel steht. Viele haben die Beteiligung von Frauen im öffentlichen Leben als Bereicherung erlebt und wollen nicht mehr darauf verzichten, erklärt die 43-jährige Farida stellvertretend für alle anderen Aktivistinnen in Afghanistan:
"Sollten uns die Fortschritte der letzten Jahre aberkannt werden und wir keine Garantien erhalten, dass wir unsere Arbeit weiter fortführen können, sollte die Teilnahme der Frauen am Friedensprozess in Frage gestellt und die Menschenrechte nicht anerkannt werden, werden wir auf keine Vereinbarung eingehen. Wir wollen einen Frieden, der unsere Beteiligung garantiert. Ohne Beteiligung der Frauen kein Frieden!"